Eine Bahnstrecke am Hudson River entlang. Es ist Herbst, die Waggonfenster des Pendlerzugs nach New York sind beschlagen. Mit ihrem Finger zeichnet Rachel (Emily Blunt) ein Kreuz hinein und schaut mit traurigen Augen hinaus auf die großen, weißen Holzhäuser der wohlhabenden Mittelschicht. In einem hat sie vor ihrer Scheidung selbst gewohnt, jetzt leben darin ihr Exmann Tom (Justin Theroux), seine neue Frau Anna (Rebecca Ferguson) und deren gemeinsames Kind. Und nur ein paar Häuser weiter sieht Rachel im Vorbeirattern immer wieder ein anderes junges Paar, das am Feuer sitzt, sich umarmt und ... Jedenfalls ist dort für Rachel das Glück zu Hause, also all das, was sie selber verloren hat.
Dass dieses Paar seine Probleme hat, dass Scott (Luke Evans) zum aufbrausenden Macho mutieren kann und Megan (Haley Bennett) sich bei ihrem Psychiater (Edgar Ramirez) selbst als Schlampe denunziert, kann Rachel nicht wissen. Aber eines Tages sieht sie, wie Megan auf dem Balkon ihres Hauses einen fremden Mann küsst.
Am Leben der anderen teilhaben, indem man sich in dieses hineinimaginiert, ist eine dem Kinogänger vertraute Situation. Wenn diese Art von Voyeurismus auch noch zum Thema gemacht wird, wenn also Protagonisten ihre Wünsche, ihre Ängste, ihre Fantasien und Spekulationen in und auf andere projizieren, dann spiegelt die Leinwand diese Situation quasi zurück in den Saal. Alfred Hitchcocks Thriller "Das Fenster zum Hof" (1954), in dem James Stewart einen in fremde Wohnungen spähenden Fotografen spielt, ist der Klassiker dieses Genres, der natürlich auch im Presseheft von Tate Taylors "Girl on the Train" erwähnt wird.
Interessanter als der Vergleich mit diesem Vorbild, das hier auch nicht annähernd erreicht wird, wäre allerdings ein Verweis auf "Stagefright – Die rote Lola" (1950) gewesen, einen anderen und weniger bekannten Hitchcock-Film. Der warf nämlich ein Problem auf, das auch zu dem von "Girl on the Train" wird: Dürfen Rückblenden lügen?
In dieser aufwendigen und von England in die USA umgesiedelten Adaption des Bestsellers von Paula Hawkins nuckelt Rachel immer wieder an ihrer mit Wodka gefüllten Wasserflasche, muss sich dann beim Sprechen sehr konzentrieren, um nicht ins Lallen zu verfallen, hat auch schon lange ihren Job verloren, gaukelt ihrer Mitbewohnerin jedoch weiter vor, sie fahre täglich zur Arbeit. Rachel ist also das, was in der Literatur eine "unzuverlässige Erzählerin" genannt wird. Doch Wörter sind das eine, Bilder etwas anderes. Was im Kino gezeigt wird, hat sozusagen physische Präsenz angenommen. Es kann sich vielleicht als Traum erweisen, aber wenn es nur falsch oder gar geflunkert ist, dann empfinden das viele Zuschauer als unzulässig, ja, sogar als Beschiss.
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Hugo
am 29.10.2016