Nach dem Aufstehen, meistens morgens, trinke ich eine Tasse grünen Tee. Gut möglich, dass diese Offenbarung die Weltgeschichte nicht entscheidend beeinflussen wird. Nach dem Frühstück mit Müslikram allerdings, und das ist neu, gönne ich mir eine Fifty-fifty-Mischung aus Getreide- und Bohnenkaffee. Kein Muckefuck. Es handelt sich um ein Pulver mit politisch fragwürdigem Nachgeschmack. Nicht auszuschließen, dass ich mir mit diesem Stoff eine Bio-Dosis Verschwörungsgift aus dem Hause "Rapunzel" einflöße. Das Zeug trägt den Markennamen "Halbstarker", und da kann ich beim besten Willen nicht widerstehen. Heute ist diese Berufsbezeichnung für den muskulösen Möchtegern vom Dorf nicht mehr so geläufig. Berühmt wurde er, als Horst Buchholz aus Berlin-Neukölln zwei Jahre nach meiner Geburt eine tragende Rolle in Georg Tresslers Film "Die Halbstarken" spielte. 1960 brillierte er in John Sturges' Western "Die glorreichen Sieben".
Bis hierher habe ich noch von keinem einzigen Schritt auf der Straße berichtet und bin in Gedanken an mein läppisches Instantprodukt dennoch weit gereist. Beim Blick auf meine Welttournee sei ergänzend erwähnt, dass "Die glorreichen Sieben" auf der Basis von "Die sieben Samurai" des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa gedreht wurden.
Zeit also, meine von Bohnen- und Getreidekaffee gespaltene Persönlichkeit wieder bodenständig vor der Haustür in Bewegung zu setzen. Ohne die offensive Beinarbeit des Fußgängers stirbt die Demokratie. Ich wohne im städtischen Grenzgebiet von Mitte und Ost, nicht weit von Neckartor und Stuttgart-21-Chaos. Beide Kulissen sind bekannt für ihren stimulierenden Umwelteinfluss, weshalb ich immer wieder behaupten kann: Bei mir steht der Ruß vor der Tür. Und nicht nur der.
Neulich hat eine Freundin aus der Auslage des schönen internationalen Allzweckladens namens Al Sendiebad Markt in unserer Straße ein Heftchen im DIN-A4-Format gefischt und mir überreicht. Es roch nach Blut und Boden. Die Kampfschrift nennt sich "UN (Unabhängige Nachrichten)", im Impressum firmiert eine gewisse Annette Kruse als "verantw. Schriftleiter". Mit "Schriftleiter" haben einst die Nazis das unteutsche Wort "Redakteur" ersetzt.
Auffallend für das Hetzblatt ist seine propagandistische Methode. Auf zwei Seiten wird Ulrike Meinhofs kritische Auseinandersetzung mit der Bombardierung Dresdens durch die Alliierten anno 1945 abgedruckt; der Artikel erschien 1965 in "Konkret". Weiter vorne in der zwölfseitigen Ausgabe findet sich ein unter Linken berühmtes Zitat von Gudrun Ensslin: "Wir können die Herrschenden und ihre Handlanger nicht dazu zwingen, die Wahrheit zu akzeptieren; aber wir können sie dazu zwingen, immer unverschämter zu lügen." Neben den beiden RAF-Frauen verurteilt im selben Organ ein Satz des als Revolutionär weniger verdächtigen Helmut Schmidt die "politische Klasse" wegen ihres Karrierestrebens.
Bedrohlicher Wahnsinn politischer Absurditäten
Über die Absicht hinter solchen "UN"-Inhalten muss man nichts sagen, wenn man weiß, dass beispielsweise ein Gesinnungsgenosse wie der rechtsextreme "Compact"-Chef Jürgen Elsässer früher seinen schmalen Taler als stramm linker Schriftleiter verdiente, auch bei "Konkret". Der AfD-Ideologe mit Pforzheimer/Stuttgarter Migrationshintergrund, dies nebenbei, gilt als Karrierestreber ersten Ranges.
Das Ganze erwähne ich nur, weil es die politischen Absurditäten mit all ihrem bedrohlichen Wahnsinn dieser Tage spiegelt. Als neulich das "Querdenken"-Kommando zu bundesweiten Aktionen aufrief, versammelte sich auch in Stuttgart ein bizarrer Haufen. Im Demo-Zug marschierten in schwarzen Bomberjacken einschlägig bekannte Halbstarke rechtsextremer Trupps. Nur wenige Meter hinter ihnen, in derselben Kolonne, schlurften mit weißer Taube auf blauer Fahne die glorreichen Rüben für Frieden und Freiheit. Aus einer Box dröhnte John Lennons "Give Peace A Chance", und niemand muss sich wundern, wenn ich mich da nach einem Peacemaker aus den Beständen der Firma Colt sehnte.
Über das Szenario von "Querdenken"-Protest und antifaschistischer Gegendemo hat Kontext bereits ausführlich berichtet. Mir fiel auf, wie viele Desorientierte den geraden Weg zum "Querdenken"-Stelldichein suchten. Als hoffnungslos Verirrte fragten sie mit rührender Einfalt ausgerechnet Gegendemonstranten nach der "normalen" und der "Telegram-Demo". Offensichtlich waren die Mobilisierungstexte auf der Plattform ihrer Volksgemeinschaft zu hoch für sie gewesen. Übrigens: Telegram ist ein Instant-Messaging-Dienst, hat aber rein technisch mit meinem Instant-Halbstarken nichts zu tun.
Ich bin weit davon entfernt, die verstörenden politischen Ereignisse und Positionierungen dieser Tage ins Lächerliche zu ziehen. Eine Beobachtung am Rande sei dennoch erlaubt. In Stuttgart, wo sich die antikapitalistische Abteilung zur Gegendemo stilsicher auf dem Börsenplatz traf, zieht seit Jahren eine Skulptur des Bildhauers Hans Jörg Limbach Handy-Touris an. Sein "Denkpartner", ein 800 Kilo schwerer, auf Faust und gekrümmte Finger gestützter Bronzeglatzkopf, hat eine beachtliche Tour hinter sich. Erstmals in den frühen Achtzigern auf dem Kleinen Schlossplatz aufgestellt, fiel er einer Horde Halbstarker zum Opfer und musste mit erheblichem Dachschaden aus dem Verkehr gezogen werden. Nach erfolgreicher Behandlung mit finanzieller Hilfe eines Immobilienunternehmens wurde er nach einer Zwischenstation am Rotebühlplatz auf dem Börsenplatz vor dem Friedrichsbau sesshaft. Der Name dieses Gebäudes im Besitz der L-Bank erinnert an das gleichnamige Friedrichsbau-Varieté, ein legendäres Theater, das 1900 eröffnet und im Sommer 1944 während eines Bombenangriffs der Alliierten zerstört wurde.
Lieber Marzipan und unbedarften Blödsinn
Das Haus hat eine bewegende Geschichte. Dort traten die revolutionäre Sängerin & Tänzerin Josephine Baker und der anarchistisch-gewitzte Komiker Karl Valentin auf. Zu den Stars gehörten auch die weltberühmten Clowns Grock und Charlie Rivel, beide Bewunderer Hitlers, der zurückbewunderte. Der langjährige Friedrichsbau-Intendant Ludwig Grauaug musste Stuttgart 1933 verlassen; er war Jude. Künstlerischer Leiter unter dem neuen Intendanten Emil Neidhard wurde Willy Reichert, ein großer Komödiant, der mit dem ebenso famosen Oscar Heiler als schwäbisches Komiker-Duo Häberle & Pfleiderer auftrat. Zurzeit (und bis zum 11. Mai) ist in der Komödie im Marquardt eine "Szenisch-musikalische Hommage an Häberle und Pfleiderer" zu sehen: mit Monika Hirschle als Pfleiderer (Reichert) und Jörg Pauly als Häberle (Heiler). Trotz meiner Furcht vor schmerzhaft schwäbischen Klischees aus dem Mief der Vergangenheit muss ich mir das Stück anschauen: Oscar Heiler, der 1995 mit 88 Jahren starb, habe ich früher öfter im Osten der Stadt besucht und viel über Stuttgart erfahren, auch über die widerständlerischen Winkel der Stadt.
1 Kommentar verfügbar
nesenbacher
am 03.04.2025https://www.matthiasbeltz.de/faksimiles.parmesan-und-partisan.html
Nach Beltz-Lektüre wird Selbstoptimierung zum Selbstläufer.
Walk on . . . ;-)