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Auf der Straße

Snus, Kippen, billige Jokes

Auf der Straße: Snus, Kippen, billige Jokes
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Auch wenn es paradox klingt, es gibt ein Handwerk des Gehens. Die US-amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit hat es definiert: "Muskeln angespannt. Ein Bein eine Säule, den Körper aufrecht haltend zwischen Erde und Himmel. Das andere ein Pendel, von hinten vorschwingend."

So einfach wäre das, hätte ich nicht seit einiger Zeit ständig das Gefühl, nur noch rückwärts zu gehen, wenn ich einen Fuß vor den anderen setze. Zuletzt bin ich außer Tritt geraten, hatte Mühe, wenigstens ein lausiges Zehntausend-Schritte-Pensum pro Tag zu schaffen. Unterwegs spürte ich nur noch selten die Schwerelosigkeit in Kopf und Beinen, den Sinn des Gehens. Immer wieder führt mich mein Weg in die Vergangenheit, in die Epochen der Barbarei, weit entfernt von der Freude am aufrechten Gang, den Solnit beschreibt: "Die Ferse setzt auf. Das ganze Gewicht des Körpers rollt vorwärts auf den Fußballen. Der große Zeh stößt ab, und wieder verschiebt sich das fein ausbalancierte Gewicht des Körpers. Die Beine vertauschen ihre Position. Es fängt mit einem Schritt an, und dann ein weiterer Schritt und noch einer …"

Ja, so müsste man den Rhythmus des Gehens verinnerlichen. Aber ich habe ihn verloren. Nicht nur, weil ich zu oft auf meinen schon ausgetrampelten Pfaden in der Stadt unterwegs bin und zu wenig Zeit finde, mich leichtfüßig dorthin zu bewegen, wo sich Räume im Hirn öffnen. Wo Gedanken fliegen. Wo etwas geht. Es gibt sie nur noch selten, die Momente der Leichtigkeit. Weil ich so doof bin zu glauben, man müsse in jeder freien Stunde etwas tun gegen die Barbarei.

Auf meinem jüngsten Gang in die anbrechende Nacht ging ich, fast schon gewohnheitsmäßig, Richtung Osten. In der Ostend-Buchhandlung fand ich ein brandneues Buch mit dem tröstenden Titel "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann". Der zwanzigjährige Norweger Oliver Lovrenski hat diese Art Schnipselroman teilweise auf dem Mobiltelefon geschrieben: "FÜR EUCH, die ihr eure warme fanta / und kalten dönerreste teilt / und euer snus und eure kippen / und billige jokes / wenn wir nichts andres mehr haben". (Bei "Snus", dies zum besseren Verständnis, handelt es sich um Oraltabak, einen Priem.)

Seit je habe ich ein gute Nase für liebevolle, aufbauende Texte, die dem neoliberalen Positivdenker Übelkeit verursachen. Ohne mich vorab zu informieren, finde ich in kürzester Zeit den dunkelsten Stoff in jedem Buchladen und lese ihn wie Lovrenskis Zeilen mit der Überschrift "gangsterkids" voller Ehrfurcht und Dankbarkeit: "und wenn man das erste mal das messer gegen jemanden zieht – krass stressig, der kopf explodiert fast vor adrenalin, die beine zittern …"

Letzte Ölung Zuversicht

Als ich einiges aus dem harten Leben der Osloer Straßen durchgekaut hatte wie starken Mundtabak, überkam mich das Gefühl, selbst von Kopf bis Fuß in Unordnung geraten zu sein. Verspannt, verklemmt, verloren. So beschloss ich, mich nach langer Zeit mal renovieren zu lassen. Und ging wieder gen Osten, um mir eine Thai-Massage zu leisten.

Die Sache verlief schnörkellos, puritanisch, professionell. Meine Masseurin sprach kein Deutsch, ich sah sie nur ein paar Sekunden lang verschwommen wie eine Fee, ohne mir ihr Gesicht merken zu können. Dann lag ich bäuchlings in Unterhosen auf der Liege und wurde von der Endlosschleifen-Musik eingelullt, bald örtlich betäubt, vor allem in der Ohrenzone. Als meine Fachfrau mich einfettete, kam mir das vor wie die letzte Ölung, die einen angesichts der wiederkehrenden Barbarei glücklicherweise so zuversichtlich stimmt wie die Zuverlässigkeit des Todes. Dennoch spürte ich beim Zugriff der geschmeidigen Finger auf meine Nacken-, Rücken- und Beinmuskeln eine durchaus wiederbelebende Wirkung, eine Art passive Körperertüchtigung.

Gleichzeitig erkannte ich die philosophische Seite dieses Treibens. In Bauchlage im Osten wurde mir nach mehr als sieben Jahrzehnten meines Lebens zum ersten Mal die wahre Bestimmung meines Seins bewusst: Ich war Knetmasse. Man konnte mich formen und walken, wie es beliebt. Ich war Teig in den Händen einer höheren Macht. Zwar hatte ich nicht mein Leben lang in einem engen Massagezimmer gelegen, das Gesicht nach unten in einem eigens ausgeschnittenen Loch der Pritsche, ohne Chance, meinem Schicksal zu entkommen. Trotzdem: ein Knetmännchen. Wie sonst hatte es passieren können, dass ich heute in einem Land lebe, in dem ein künftiger Kanzler der Welt erklärt, allein seine Gefolgschaft habe noch alle Tassen im Schrank. Wahrscheinlich Schnabeltassen. Aber muss man sich das gefallen lassen? Lovrenski schreibt: "ich verlier mich, mit jedem tag der vergeht verschwinde ich wie der sand aus deiner hand."

Da ich zuletzt immer öfter einen Blick in die Geschichte der Römer und Germanen geworfen habe, wird mir deutlich, wohin wir verschwinden. Alles wird zerstört. Was wir Demokratie nennen, ist nur ein Zwischenspiel. Nach der Demokratie, hat Aristoteles gesagt, kommen Trump und Merz – der eine der Abstammung nach eine Kartoffel aus der Pfalz, der andere eine waschechte aus dem Sauerland. Genau genommen hat Aristoteles gesagt: Auf die Demokratie folgt die Tyrannei. Die beginnt, wenn Merz den Omas gegen rechts ein paar Kröten Staatszuwendung streichen will, weil sie die CDU-Tassen im Abstellschrank nicht gar so toll finden. Wenn es stimmt, dass Humor keine Stimmung ist, sondern eine Weltanschauung, wie Ludwig Wittgenstein gesagt hat, dann möchte man die Weltanschauung eines Merz erst gar nicht kennen. Ein Herrenreiter im Propellerflugzeug ist zwar komisch, sein narzisstischer Höhenflug aber alles andere als lustig.

Licht am Horizont

Da ich meine restlichen Tage nicht in einer Massagebude verbringen kann, wähle ich als weiteren Zufluchtsort wieder regelmäßig das Kino, die eher verborgene Bühne der Stadt. Dort schaffe ich es freudig erregt, auch mal den Grafen von Monte Christo auf seinem Vergeltungszug gegen die Schweine da oben anzufeuern. Man darf nicht dauernd wie im Buchladen in hartem, aufwühlendem Stoff landen. Und dann habe ich, schwer beeindruckt, "Der Brutalist" gesehen, dieses epochale dreieinhalbstündige Meisterwerk, das Brady Corbet, 1988 geboren in Scottsdale/Arizona, und Mona Fastvold, 1986 geboren in Oslo/Norwegen, geschaffen haben. Als der Abspann lief, entdeckte ich die Zeile "In memory of Scott Walker". Der Film ist dem Künstler gewidmet, der in den 1960ern als US-amerikanischer Popstar mit den Walker Brothers den Welthit The Sun Ain't Gonna Shine Anymore landete und später ein großartiger Avantgarde-Musiker, ein couragierter experimenteller Komponist wurde. 2019 starb er mit 76 in London. Wenn schon nicht alle Tassen, so habe ich doch immerhin Platten von Scott Walker im Schrank. Das ist ein Trost in diesen Zeiten der politischen Stammtischbarbarei humorloser Rache- und Eroberungsfeldzügler.

Ob das Kino mit seinen vielen, durchaus schönen Sälen in der Stadt definitiv als mein letzter Ruhepol taugt, bezweifle ich jedoch. Und muss dringend den Text "Im Kino" aus der Miniaturen-Sammlung "Da Vinci erfindet einen Kieselstein" des "Zeit"-Redakteurs Peter Kümmel zitieren: "Ich fürchte mich vor den Zuschauern. Dem lauten, in Popcorn wühlenden, die Stiefel über die Vordersitze legenden Mob. Die langen Minuten der Werbung und der Vorfilme sind schwer zu ertragen. Hoffentlich sieht mich keiner, der mich kennt, hoffentlich nimmt mich keiner auf den Kieker. Erst wenn es endgültig dunkel ist, komme ich zu Atem. Nun mache ich mich davon. Ich verbünde mich mit den Filmfiguren gegen die Ärsche im Saal, die tatsächlich glauben, der Film rette auch sie."

Guter, starker Tobak. Doch immer, wenn ich aus dem Kino komme, sehe ich Licht am Horizont. Auch wenn es schon dunkel ist. Und dann gehe ich weiter und weiter in der Hoffnung, meinen Arsch zu retten.

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