KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Auf der Straße

Der Haufen dampft

Auf der Straße: Der Haufen dampft
|

Datum:

Ein Nachtmensch bin ich schon lange nicht mehr, aus dem Vampirgeschäft habe ich mich weitgehend zurückgezogen. Könnte damit zu tun haben, dass sich Tag und Nacht heute weniger aufregend unterscheiden als früher. Auf den Bildschirm und ins Taschentelefon stieren kannst du zu jeder Uhrzeit. Und wenn dich der Hunger plagt, kommt was Lauwarmes via Lieferando.

Nach wie vor fasziniert mich dennoch die Stunde, wenn es dunkel wird. Wenn bei Sonnenuntergang Licht und Schatten wechseln, sich die Farben verändern und die Wolken tiefer hängen, bilde ich mir draußen in den Straßen ein, in eine mir fremde Stadt hineinzugehen. In der das Übel lauert wie in einem Albtraum. Wie Nachwehen eines guten Films. Dann sieht das Leben ganz anders aus, speziell in Wintermonaten, wenn die Kälte meinen Blick verengt, weil der Hut tief sitzt.

Die Kulissen erheben sich im Dämmerlicht aus ihrer grauen Dörflichkeit. Rote Lichter auf den ausgestreckten Armen der Baukräne warnen Flugzeuge, sie verstrahlen etwas Unheilvolles, und dann sehe ich die mutigen Männer auf ihren fliegenden Fahrrädern. Bei tiefen Temperaturen kommen sie lautlos wie maskierte Gespenster angeschwirrt. Sie tragen elegante Kampfhelme und riesige Handschuhe, als müssten sie Edwards Scherenhände verstecken. Apokalyptische Reiter, Boten des Bösen, und ich feuere sie an: Hopp! Hopp! Hopp! Beeilt euch, damit ich den Weltuntergang noch live erlebe. Irgendwo in der Ferne heulen Eulen, Martinshörner und gehörnte SPD-Wähler. Und dann bremst ein Radfahrer jäh vor mir, richtet sich im Sattel auf und sagt mit harter Stimme: Pizza groß mit Salami, Ananas und Peperoni? Nein, sage ich, Mozzarella mit Killertomaten. Wir werden handelseinig. Mein Mann hat geliefert.

Jedes Mal, wenn ich das Wort "liefern" als saudumme Metapher für idiotische Leistungen oder Forderungen in der Politik hören muss, wünsche ich mir, dass sich Lieferando-Piloten mit Killertomaten auf den Weg machen. Und liefern.

Barbaren überall

Neulich, ich weiß nicht mehr, ob es Nacht war oder Tag, habe ich "American Primeval" auf Netflix angeschaut. In dieser Serie werden die Hollywood-Mythen des glorreichen Wilden Westens zerstört. Man erlebt, wie die Vereinigten Staaten Mitte des 19. Jahrhunderts aus einem großen, elendigen, von Menschen gemachten Kackhaufen entstehen: Verlogene, machtbesessene, religiöse Fundamentalisten massakrieren Siedler, brutale Geschäftemacher jagen nach Profiten, Indigene werden ausgerottet. Ja, so muss es gewesen sein. Und dann kann ich es riechen: Der amerikanische Kackhaufen dampft schon wieder ganz gewaltig.

In der Serie sagt einer sinngemäß: Zivilisation bedeutet noch lange nicht, dass dort zivilisierte Menschen leben. Damit ist über unsere Gegenwart alles gesagt, und seit ich diesen Satz gehört habe, beobachte ich meine Umgebung schärfer. Barbaren, wo du hinschaust.

Immer wieder nehme ich als Trost Erling Kagges Buch "Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung" zur Hand. Darin geht es auch mal um den aufrechten Gang, der dem Homo sapiens dummerweise das Überleben gesichert hat, und da heißt es: "Nach und nach habe ich angefangen, mich zu fragen, ob es ein Fehler war, dass wir uns selbst als Homo sapiens bezeichnen. Sapiens bedeutet 'wissend' oder 'könnend', mit anderen Worten 'weise' oder 'klug'. Selbstgefällige Bezeichnungen, die sich jemand gibt, haben jedoch immer etwas Übertriebenes." Der Autor schlägt deshalb vor, uns "Homo insipiens" zu nennen: Homo unwissend.

I am a Homo insipiens.

Wir müssen wissen, dass der Homo sapiens bei uns in einer Zivilisation lebt, der auch Leute wie Bratwurscht-Söder, Who-the-fuck-is-Alice und Dingsbumsfritze Merz angehören. Über Merz muss ich hier nichts sagen, nur einen Satz von ihm zitieren, der mich auf meinem restlichen Lebensweg in die Apokalypse begleiten wird: "Das, was in der Sache richtig ist, wird nicht falsch dadurch, dass die Falschen zustimmen." So hat seinerzeit vermutlich auch der liebe Gott gedacht, als er den Affen zum Menschen machte.

Erkenntnisse für Zwovierzig

Bekanntlich leide ich unter Gedankensprüngen, und die derzeitigen Brandmauersprünge in unserer demokratischen deutschen Republik verschlimmern diese Krankheit. Kaum hatte Merz mit seiner Abhandlung von falsch und richtig der Geschichte des Homo sapiens ein wichtiges Kapitel Selbstgefälligkeit hinzugefügt, fielen mir Sätze aus dem richtigen Leben ein, die ich kurz zuvor gelesen hatte: "Er wusste nicht, wo es Deckung gab, und er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Aber er hatte genug Erfahrung in vier Jahren des Bürgerkriegs gesammelt, um zu wissen, dass Untätigkeit meist ein größerer Fehler war, als die falsche Entscheidung zu treffen." Diese Erkenntnis stammt nicht vom Kanzlerkandidaten Merz, sondern vom Konföderierten-Lieutenant Quinn, der sofort tätig wurde: "Vorwärts, Leute", brüllte er. Sein Befehl war in der Sache richtig, aber womöglich falsch: "Eine Kugel traf ihn an der rechten Schläfe und zerschmetterte seinen Schädel."

Mit anderen Worten: Lieutenant Quinn hat nicht mehr geliefert.

Die zitierten Zeilen stammen aus dem Western-Heftchen "Im Höllensturm der Rache" aus der Reihe "Winchester – Männer härter als der Tod". So etwas gibt es für Zwovierzig am Kiosk und entspannt den alten Homo sapiens angesichts der heraufziehenden Dunkelheit, die Übles verspricht.

Das Böse in zivilisierten Demokratien, viele Jahre Parteienkrieg haben es uns gelehrt, soll mit Wahlen abgewendet werden. Demnächst findet wieder eine statt. Und mit Lieutenant Quinn sage ich: vorwärts, Leute! Seit ich 1972 zum ersten Mal meine Stimme abgeben durfte, folge ich dem Ratschlag meiner weisen Väter, das "kleinere Übel" zu wählen. Seitdem wurde der dampfende Haufen des kleineren Übels größer und größer, bis ich vor lauter Haufen das kleinere Übel nicht mehr sah.

Die Autokorrektur weigert sich

Das Übel, definiert Wikipedia, sei "ein Begriff, der alles bezeichnet, was dem Guten entgegengesetzt ist – also das Schlechte. Es ist vom Bösen zu unterscheiden, mit dem es häufig verwechselt wird. Übel ist der allgemeine Begriff, der mehr als das Böse umfasst. Alles Böse gehört zum Übel, aber nicht jedes Übel gehört zum Bösen." In diesem Sinne wurde das Vaterunser modifiziert: Hieß es darin früher "… und erlöse uns von dem kleineren Übel" oder so ähnlich, lautete der frommen Wunsch später: "… und erlöse uns von dem Bösen".

Etwas näher kommt man der Sache mit Hannah Arendt. Die Schwäche des Arguments, man sei verpflichtet, das kleinere von zwei Übeln zu wählen, sagte sie, "bestand schon immer darin, dass diejenigen, die das kleinere Übel wählen, rasch vergessen, dass sie sich für ein Übel entscheiden …". Auf diese Weise wolle man uns daran gewöhnen, "das Übel an sich zu akzeptieren". Auch ich habe mich daran gewöhnt, so wahr die Kugel nicht Lieutenant Quinns linke, sondern rechte Schläfe traf. Was für ihn, hat er mir versichert, das kleinere Übel war.

Heute leben wir in einer Zivilisation von Übeltätern, die es fertigbringen, ein Wort wie "Zustrombegrenzungsgesetz" zu erfinden. Selbst die politisch unverdächtige Autokorrektur meines Computers weigert sich, einen solch üblen Scheißbegriff zu akzeptieren. Aber man gewöhnt sich ja an alles.

Wenn ich am Neckar entlangging, um mich im Weitergehen zu üben, sah ich immer wieder Schilder mit der Aufschrift: "Betreten strompolizeilich verboten!". Zunächst dachte ich, das Flussufer werde mit elektrischen Zäunen gesichert, um Flüchtlinge aus U-Booten demokratisch wehrhaft vom Landgang abzuhalten. Das Bürokratenwort "Strompolizei" hat allerdings weniger mit dem Saft aus der Steckdose zu tun als mit der Wasserverwaltung und unserem schönen "Neckarstrome", wie ihn Heinrich Heine einst genannt hat. Gut möglich aber, dass bald schon von Gesetzes wegen Zustrombegrenzungspolizisten aufmarschieren, härter als der Tod.

Gleich wird es finster, und man möge mir verzeihen: Ich holꞌ den Kübel. Mir ist übel.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!