KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Bundestagswahl und Brandmauer

Merz mobilisiert

Bundestagswahl und Brandmauer: Merz mobilisiert
|

Datum:

Die Aktion von CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz vergangene Woche im Bundestag, Mehrheiten mit der AfD zu beschaffen, trieb und treibt weiterhin viele Menschen auf die Straße. Kritik kommt auch aus konservativen Kreisen. Und die FDP hat nun eine Idee.

Zurück Weiter

Die Liberalen geben nicht auf. Nachdem am vorigen Freitag der Versuch von CDU-Spitzenkandidat Friedrich Merz gescheitert ist, mit AfD, FDP und BSW das Zustrombegrenzungsgesetz im Bundestag durchzubringen, nimmt die FDP nun einen neuen Anlauf. Sie will eben dieses Gesetz zusammen mit einem Gesetz für die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas) am 11. Februar durch den Bundestag bringen und zwar mit CDU, SPD und Grünen. Am Ende geht es weiter darum, dass subsidiär geschützte Geflüchtete ihre Familien nicht nachholen dürfen, dass die Einreise von Ausländer:innen eingeschränkt wird und dass Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen werden. Es wird die Betroffenen freuen, dass das nicht mit Hilfe der AfD geschieht, sondern durch Stimmen aus der "breiten demokratischen Mitte", wie der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr die angepeilte Mehrheit nennt.

Ob SPD und Grüne bei dem FDP-Plan mitmachen, wird sich zeigen. Und auch ob es weiterhin so viele Menschen auf Demonstrationen treibt gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD – und zum Teil auch gegen eine verschärfte Migrationspolitik – wie in den vergangenen Tagen. Die Aktion von Kanzlerkandidat und CDU-Chef Friedrich Merz am vergangenen Mittwoch, seinen Fünf-Punkte-Antrag mit FDP und vor allem mit der AfD zu einer Mehrheit zu verhelfen, sorgte jedenfalls für bundesweite Protestaktionen. Zumal Merz erst kurz nach dem Bruch der Ampelregierung versprochen hatte, keine "zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit" mit der AfD zu suchen. "Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das", sagte er dann nach dem Tabubruch am vorigen Mittwoch und erntet höhnisches Gelächter von Grünen, SPD und Linken.

Bundesverdienstkreuze zurückgegeben

Die Emotionen nach der Abstimmung gehen bei vielen weit über Hohn hinaus. Zwei Bundesverdienstkreuzträger gaben ihren Orden zurück: Der 99-jährige Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg, der in drei verschiendenen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurde, nahm am Tag nach der Abstimmung das Bundesverdienstkreuz von seiner Jacke: "Ich war immer stolz, es zu tragen, jetzt nicht mehr." Der Mannheimer Fotokünstler Luigi Toscano, der in seinem Schaffen die Verbrechen des Nazi-Regimes behandelt, erklärte, er sei empört. Als Kind von Gastarbeitern in Deutschland geboren, habe er immer die Werte der Bundesrepublik vertreten. "Deshalb will ich nicht schweigen, sondern den Mund aufmachen und das auch zeigen."

Merz‘ Vorstoß, mit der AfD abzustimmen, kritisierten auch einige aus den eigenen Reihen. Ex-Kanzlerin Angela Merkel meldete sich zu Wort und veröffentlichte auf ihrer Webseite eine Stellungnahme, in der sie den Parteichef und Kanzlerkandidaten kritisiert und ihm die "staatspolitische Verantwortung" absprach. Der Publizist Michel Friedman entschied sich, aus der CDU auszutreten. Den Antrag mit Stimmen der AfD durchzubringen, sei ein unverzeihlicher Tabubruch. "Diese CDU kann nicht mehr meine sein."

Patrick Heinemann, CDU-Mitglied und Rechtsanwalt aus Freiburg, der auch für den "Verfassungsblog" schreibt, verkündete auf Twitter/X: "Friedrich Merz hat dieses Land und diese CDU ohne Not innerhalb von einer Woche an den Rand des politischen Zusammenbruchs geführt – und ist gescheitert. Er muss dafür die Verantwortung übernehmen." In einer anderen Kurznachricht schreibt er: "Als Mitglied der CDU wähle ich bei der Bundestagswahl 2025 eine Partei, bei der ausgeschlossen ist, dass sie mit Rechtsextremen und völkischen Nationalisten in irgendeiner Form zusammenwirkt. Ist doch klar, oder?"

"Shame on you, CDU"

Das Vorgehen der CDU im Parlament ist eine Zäsur. Die Brandmauer sehen viele in Gefahr, am Bröckeln oder bereits eingerissen. Deutschlandweit gingen vergangene Woche Zigtausende auf die Straße. In Berlin sollen es laut Polizei 160.000 gewesen sein, die Veranstalter sprechen von einer Viertelmillion. Einer der Redner dort war Theaterregisseur Volker Lösch, der das Geschehene als "Vorspiel einer Regierungskoalition von CDU/CSU und AfD" bezeichnet und scharfe Worte an die Konservativen richtet: "Die rassistischen Anträge und Gesetzesvorlagen der Union sind nicht mehr von denen der AfD zu unterscheiden. Shame on you, CDU!"

Mancherorts wurde vor CDU-Büros demonstriert. In Hannover kletterten Aktivist:innen sogar auf den Balkon des Kreisverbandes und hängten Banner über dessen Brüstung, "Friedrich von Hindenburg" war auf einem zu lesen. Andere drangen in ein CDU-Büro im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf ein. Andernorts wurden Geschäftsstellen und Parteizentralen mit Farbe beworfen. In Oldenburg übersprühte jemand das "C" und "D" im Parteinamen – "unchristlich & menschenfeindlich" verkündet ein Zettel an dessen Stelle.

Auch im Südwesten trieb es Zehntausende nach dem Schulterschluss von Konservativen und AfD auf die Straße. Am Samstag verurteilte eine Rednerin der Kirche bei der Demo am Stuttgarter Schlossplatz die Angriffe auf CDU-Büros – das seien Straftaten, die der Demokratie nicht helfen würden. Eine Zusammenarbeit mit Faschist:innen kritisiert sie aber deutlich und stellt klar: "Unser Kreuz hat keine Haken!" 44.000 Menschen sind zur Demo unter dem Titel "Wir sind die Brandmauer" gekommen. "Lichtermeere und Menschenketten. Vieles erinnert an das letzte Jahr. Aber wir sind heute näher am Faschismus als damals – wie kommt das?", fragt Furkan Yüksel auf der Bühne. "Wir leben am Ende des Tages immer noch in einer Gesellschaft, in der man sich eher die Frage stellt, wie man eine rechtsextreme Wählerschaft zurückgewinnt, als wie man Betroffene von Rechtsextremismus schützen kann. Was war der Dammbruch? Merz und sein geschichtsvergessener Antrag? Oder war es nicht bereits Olaf Scholz auf dem 'Spiegel'-Cover mit seinem Versprechen im 'großen Stil' abzuschieben? Baerbock meinte gestern, dass man ja bereit gewesen wäre über das Gesetz zu sprechen und abzustimmen, aber eben nicht mit der AfD", führt Yüksel, Bildungsreferent für Rassismus und Antisemitismus, aus. Bereits zwei Tage zuvor demonstrierten spontan etwa 400 überwiegend junge Menschen am Schlossplatz.

Tausende Menschen sind auf den Straßen

Die Stuttgarter Demo war die größte in Baden-Württemberg, aber nicht die einzige. 15.000 Menschen kamen laut Polizei am Donnerstag in Freiburg zusammen, in Mannheim riefen der Grüne Gerhard Fontagnier und der Sozialdemokrat Marco Andelic zur Demo am Samstag, etwa 12.000 folgten dem Aufruf. 10.000 Menschen kamen am Tübinger Marktplatz zusammen, in Konstanz organisierten Grüne, Linke und SPD eine Mahnwache und die "Migranten für Karlsruhe" brachten laut eigenen Angaben 7.500 Menschen auf die Straße. In Heidelberg waren es 4.000 Leute, in Heilbronn 1.500 – das veranstaltende "Netzwerk gegen Rechts" war zufrieden, dass man innerhalb von zwei Tagen so viele mobilisieren konnte. Und das Demo-Geschehen begrenzte sich nicht auf Großstädte: 700 waren in Walldorf präsent, über 300 in Müllheim im Markgräflerland. In Tauberbischofsheim bildeten etwa 480 Menschen eine "Lichterkette gegen Rechtsextremismus".

In Bad Krozingen südwestlich von Freiburg demonstrierten 700 Menschen unter dem Motto "Für Demokratie – Nie wieder ist jetzt!" – mitorganisiert von der CDU. Thomas Thürling, Vorstand des dortigen SPD-Ortsvereins, erklärt auf Nachfrage, es sei "das primäre Ziel, nicht pauschal CDU/FDP zu kritisieren, sondern diejenigen zu unterstützen, die sich auch innerhalb der CDU/FDP für eine andere Haltung einsetzen und mit vor Ort waren". Es sei wichtig gewesen, eine parteiübergreifende und nicht auf Wahlkampf ausgerichtete Kundgebung zu organisieren, die gemeinsame Werte und Grundrechte in den Mittelpunkt stelle.

Günther-Martin Pauli, Landrat des Zollernalb-Kreises und CDU-Mitglied, ist bekannt für seine weltoffene Haltung. Auf Kontext-Anfrage, was er von dem Merz-Vorstoß hält, schreibt er: "Demokraten dürfen demokratische Spielregeln weder ausblenden noch verteufeln. Dazu gehören Mehrheitsentscheidungen. Willkürliche, ideologisch und wahltaktisch motivierte Manöver irritieren die Menschen. Unserem demokratischen Rechtsstaat, unserem Grundgesetz dürfen wir vertrauen, das sind robuste Brandmauern. Das Vertrauen wird aber beschädigt, wenn dauerhaft verzerrte, unfruchtbare und zerstörerische Debatten das Miteinander ramponieren! Auf kommunaler Ebene können wir nur mit dem Kopf schütteln, was da gerade in Berlin geschieht."

CDU-Mitglied Michael Blume, der Antisemitismusbeauftragte der baden-württembergischen Landesregierung, sagte im SWR: "Dass es in der Woche des 80. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz diese Abstimmungen von Union und FDP mit der AfD im Bundestag gegeben hat, das hat mich als Christ und Demokrat schwer getroffen." Und Christdemokrat Stephan Neher, Oberbürgermeister von Rottenburg am Neckar, warf seinem Parteivorsitzenden Merz Wortbruch vor, weil der entgegen früherer Aussagen Mehrheiten mit der AfD gesucht hat. Das stelle seine Verlässlichkeit als Kanzlerkandidat infrage.

Selbst die "Wirtschaftswoche" ist beschämt

Es lag vielleicht auch an den großen Kirchen im Lande, die vergangenen Mittwoch Merz' Zustrombegrenzungsgesetz kritisierten, dass es im Bundestag am Freitag zumindest zu keiner Mehrheit kam. Sie seien durch Zeitpunkt und Tonlage der Debatte "sehr befremdet", heißt es in einem gemeinsamen Brandbrief, der noch vor dem vergangenen Mittwoch an alle Bundestagsabgeordneten verschickt wurde. Reaktion aus der Partei mit dem C: "Überrascht nicht, interessiert nicht", kommentierte Steffen Bilger, Wahlkreis Ludwigsburg und stellvertretender Fraktionschef von CDU und CSU im Bundestag.

Die CDU-Landesspitze hält derweilen zu Merz und seinem Kurs. Die Grüne Jugend und die Jusos aus Baden-Württemberg gaben am Freitag, nachdem das Gesetz abgelehnt wurde, eine gemeinsame Mitteilung heraus, adressiert an den CDU-Landeschef und Fraktionsvorsitzenden im Landtag: "Herr Hagel, distanzieren Sie sich von Herrn Merz!", ist diese betitelt. "Friedrich Merz hat die CDU endgültig von der demokratischen Mitte abgekoppelt. Wer gemeinsame Sache mit Rechtspopulisten macht, verliert jeglichen Anspruch auf Führungsverantwortung. Merz hat sich als Kanzler disqualifiziert", wird Jusos-Vorsitzender Daniel Krusic zitiert. Kritik erntet der CDU-Chef auch in Medien, selbst da, wo man es nicht erwartet. Der Chefreporter der "Wirtschaftswoche", Dieter Schaas, findet klare Worte: "Es ist beschämend. Ein Schock. Und eine Zäsur."

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!