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Auf der Straße

Im Tunnel

Auf der Straße: Im Tunnel
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Eine Ananas, habe ich gelesen, reift schneller, wenn man sie auf den Kopf stellt. Nun bin ich keine Ananas, nicht ganz so stachlig, womöglich aber viel zu oft mit beiden Füßen auf der Erde geblieben. Das neue Jahr ist angebrochen, und ich leiste weiter Beinarbeit. Es muss ein Fluch sein. "Der erste Fußgänger", schreibt Vincent Klink in seinem Buch "Mein Schwaben", "war ein Schwäble. Er trug den klingenden Namen Danuvius Guggenmosi und lebte vor fast zwölf Millionen Jahren im Allgäu. Er kann für sich in Anspruch nehmen, als erstes menschenähnliches Wesen den aufrechten Gang erfolgreich absolviert zu haben." Was für ein Depp. Das ganze Elend dieser Welt haben wir ihm zu verdanken. Warum hat sich der Guggenmosi nicht auf den Kopf gestellt, bevor seine Nachfahren in der Vertikalen die Keule, das Feuer und die Servolenkung erfunden haben.

Ich bin relativ aufrecht ins neue Jahr gestiefelt. Ist gut gegen den Blues, und weil in meinem Alter das Feuer erlischt, erschien es mir draußen arschkalt. Gegen den Frost helfen Gedankensprünge. Kurz nach Jahresbeginn habe ich eine Mail mit dem Hinweis auf einen Benefiz-Abend zugunsten der Telefonseelsorge Stuttgart erhalten: Am Sonntag, 2. Februar, 17 Uhr, spricht die TV-Journalistin Anne Will im Hospitalhof über "Fakten, Recherche und Analyse"; ihr Interviewer ist Georg Bruder vom SWR.

Diese Veranstaltung erinnerte mich daran, wie wir früher, als Guggenmosis aufrechter Gang nächtens nicht mehr möglich war, die Sorgen und Nöte gebeutelter Kneipenpoeten abbügelten: "Ruf doch die Telefonseelsorge an." Wahrscheinlich steckte in diesem Satz schon das Gift des Neoliberalismus: das Ende der Empathie, lange bevor dieser Begriff als modische Floskel verwässert wurde.

Am Jahresanfang ging ich, mit meiner dicken Wollmütze abgeschottet von der Welt, durch Straßen, in denen nichts los war. In Hedelfingen, am Ende der Stadt, war es fast dunkel und der Himmel so bedrohlich düster gefärbt, dass ich "schmutziger Sonntag" in mein Notizbuch kritzelte.

"Zuversicht" gibt's nur auf Wahlplakaten

Ich sah Wahlplakate. Auf einem steht: "Zuversicht". Darüber ist das Gesicht eines Ministers abgebildet. Vermutlich legt er Tarotkarten. Die Botschaft "Zuversicht" mitten in der wolkenverhangenen Aussichtslosigkeit brachte mich dazu, anderntags die Telefonseelsorge anzurufen. Keine Sorge: nicht als Klient. Das wäre eine Zumutung, angesichts einer Seele so schwarz wie der Himmel über Hedelfingen. Mich interessierte, wie das Jahr anfängt, wenn null Zuversicht in Sicht ist. In Stuttgart gibt es zwei dieser Einrichtungen, eine der katholischen Kirche und eine der evangelischen. Die Telefonseelsorge Stuttgart e.V. der Protestanten wird von Martina Rudolph-Zeller geleitet. Sie, eine weitere hauptamtliche Mitarbeiterin und 110 geschulte Ehrenamtliche betreuen pro Tag rund um die Uhr durchschnittlich 40 Hilfesuchende; zwei Drittel sind Frauen. Der Bedarf ist noch größer, viele kommen nicht gleich durch. Im Jahr werden 13.000 Dialoge geführt, zwischen zehn Minuten und einer Stunde lang. Neben Telefongesprächen kann man mailen und chatten. In den vergangenen zwei Jahren ist die Nachfrage regional um 120 Prozent gestiegen, und die Zahl der Verzweifelten wächst.

Martina Rudolph-Zeller erzählt mir von der stark zunehmenden Verunsicherung der Menschen. Sie haben Angst vor der Gegenwart und der Zukunft. Existenzangst. Sie vermissen nicht nur staatliche Anlaufstellen. Nahezu unmöglich ist es oft, speziell für Kassenpatienten, einen Arzt oder einen Termin für psychologische Hilfe zu finden.

Zum Jahresbeginn ist die Situation besonders schwierig: Alleinsein und Einsamkeit an den Feiertagen plagen die Menschen. Viele fühlen sich abgehängt, verloren, erleiden einen sozialen Tod. Das modische "lost" klingt da beschönigend, und der Gedanke an Bilder Edward Hoppers lenkt nur ab. Manche verlieren angesichts der politischen Wirklichkeit jede Hoffnung. Die einen fürchten sich vor Russland, die anderen vor Amerika. Hinzu kommt eine diffuse Angst vor Fremden, selbst wenn gar keine da sind.

Letzte Ausfahrt Telefonseelsorge

Die Sozialarbeiterin Martina sagt, im Moment halte sie es noch für falsch, von einer Spaltung der Gesellschaft zu sprechen. Aber die Situation verschärfe sich. Viele trauen sich nicht mehr, Nachrichten im Radio, im Fernsehen oder Internet zu verfolgen. Sie schalten ab, verkriechen sich im Tunnel, landen im schwarzen Loch. Manchmal geht es in den Gesprächen um Leben und Tod. Letzte Ausfahrt Telefonseelsorge.

Eher zufällig bin ich in dieses Thema geraten. Mein Anruf bei der Telefonseelsorge sollte so etwas sein wie der Versuch, mit meiner aus dem Fenster gestreckten Nase kurz mal die Wetterlage zu prüfen. Es wird immer düsterer in einem Land, in dem AfD-Provokateure Migranten gefälschte "Abschiebetickets" in den Briefkasten werfen – so wie Nazis einst Juden mit einer "Freifahrkarte mit Schnellzugbenutzung" verhöhnten: "gültig ab jeder Deutschen Station nach Jerusalem hin und NICHT wied. zurück". Das Sündenbock-Denken ist heute so dominant und grausam wie lange nicht. Der Begriff "Remigration" wird alltäglich, "Migration" als Bedrohung verbreitet.

Inzwischen hab' ich Zweifel, ob es noch sinnvoll ist, solche Dinge aufzuschreiben. Gelegentlich scheint mir das so überflüssig, wie sich über Politiker wie Lindner lustig zu machen, wenn seine Photoshop-Visage auf einem Wahlplakat neben diesem Spruch abgebildet wird: "Schönreden ist keine Wirtschaftsleistung". Passt gut zu einem entlassenen Finanzminister, dessen einzige wahrnehmbare Leistung die ungebremste Schönschwätzerei in eigener Sache ist.

Jetzt, im Januar, stehen wieder Erinnerungsveranstaltungen an. Vor 80 Jahren haben Soldaten der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Die seit Jahrzehnten ohne politische Konsequenzen vorgetragene Mahnung "Nie wieder" erscheint mir mitten im Erstarken einer internationalen Faschismusbewegung ungefähr so eindrucksvoll wie die Warnung, eine Atombombe könne der Gesundheit schaden.

Viele sind gegen die Rechten, aber oft allein für sich

Zwischen meinen Zweifeln, wenn ich die Hedelfinger Schwarzfront hinter mir habe, halte ich es dennoch für vernünftig, zwölf Millionen Jahre nach Herrn Guggenmosi noch mal den aufrechten Gang zu üben. Es gibt viele Initiativen, die sich in irgendeiner Form gegen rechts engagieren. Oft habe ich jedoch den Eindruck, dass nichts oder zu wenig zusammenläuft. Man ist mit sich selbst beschäftigt, während die Rechten in alle Bereiche der Gesellschaft eindringen, flankiert von Politikern anderer Parteien, die mit nachgeäfften Sündenbock-Parolen Stimmen jagen. Das Wort Solidarität verkommt, wie Empathie, zu einer Flyer-Floskel. Und bei vielen Bemühungen, politisch etwas auf die Beine zu stellen, herrscht der urdeutsche Vereinsmeier-Geist. "In mein' Verein werd' ich erst richtig munter. / Auf die, wo nicht drin sind, seh' ich hinunter – / was kann mit denen sein?", schrieb Kurt Tucholsky 1926 in seinem Gedicht "Das Mitglied".

Vielleicht ist es naiv, immer wieder grenzübergreifende Aktionen gegen die Völkischen zu fordern: Scheuklappen ablegen, Parteisoldatentum aufbrechen, Vereine und Gewerkschaften aus ihren bürokratischen Zwängen befreien. Aber es muss doch verdammt noch mal möglich sein, zwischen demokratischen Organisationen den kleinen Dienstweg zu gehen. Die Dinge schneller und unkomplizierter anzuleiern, bevor der basisdemokratische Abstimmungsfinger blau anläuft. Womöglich liege ich falsch. Dann erzähle ich das Ganze in Zukunft eben der Telefonseelsorge. Oder lege Tarotkarten.

Das Jahr hat begonnen, und es wäre zwingend, einige Dinge auf den Kopf zu stellen, damit sie schneller reifen. Kommando Ananas!


Live vor der Leinwand: Joe Bauers Flaneursalon gastiert am Dienstag, 4. Februar um 20 Uhr im neu gestalteten Traumpalast-Kino Metropol, Bolzstraße 10, Stuttgart-Mitte. Bühnengäste sind u. a. Eric Gauthier, Rolf Miller, Cemre Yilmaz, Yohbeatz. Infos und Karten gibt's im Metropol und bei der Rosenau.

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1 Kommentar verfügbar

  • J. Roos
    am 25.01.2025
    Antworten
    Ja, lieber Joe Bauer, es lohnt sich immer wieder diese Dinge aufzuschreiben. Den Lebenden zur Mahnung und den Toten zum Gedenken. Der aufrechte Gang ist sogar die einzige Möglichkeit, den von dir beschriebenen kleinen Dienstweg zu finden - und zu gehen. Mit solchen Texten im Rucksack ist es möglich!
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