Drum ist's auch kein Zufall, dass wir der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit zum Trotz Thüringens Politfiguren bestens kennen: Hundefreund Bodo Ramelow, 5-Minuten-Terrine Thomas Kemmerich, Pupillenbrille Hans-Georg Maaßen und natürlich dieser eine obermännliche Faschoführer, der neulich in Jena trotz Polizei- und Personenschutz vor ein paar Jusos weggelaufen ist. (Alles Wessis übrigens. Also die Politiker, nicht die Jusos.) Selbst Wagenknechtin Katja Wolf sagt dem ein oder der anderen wohl was. Vom Saarland hingegen kennen wir nicht mal den Namen des Ministerpräsidenten! Oder der Ministerpräsidentin? Eben: keine Ahnung!
Apropos BSW – zum Umgang mit den im Osten so beliebten Rechtsextremen hat Leadsängerin Sahra jüngst mal wieder eine beliebte Ausweichfloskel tiriliert: "Wenn die AfD sagt, der Himmel ist blau, wird das BSW nicht behaupten, er sei grün." Der auch bei CDUlern beliebte Powersatz klingt zwar immer schön plausibel. Doch der Witz an der AfD ist ja, dass sie eben nie sagt, dass der Himmel blau ist, sondern stets verkündet, er erstrahle in linksgrünverschwultem Pink, woraufhin die Luschen in Politik und Medien sich daneben stellen und meinen, man könne derartige Wahnvorstellungen doch argumentativ behandeln.
Aber zurück zu Thüringen. Den Rest der Republik schaudert's ohnehin seit geraumer Zeit ob der ostdeutschen Umfrageergebnisse. Als Zusatzschocker obendrauf gab's unlängst am Rande der Christopher Street Days Aufnahmen von Naziaufmärschen mit Nachwuchsgruselglatzen, die so blutjung aussahen, dass man sich fragt, was die im Kinderbildungsfernsehen bei Kika, ZDF-Logo und Toggolino eigentlich senden.
Keine Witze über Ostdeutsche
Zuvörderst wir Schwaben rätseln uns 'nen Ast ab: Woher rührt das alles? Seit 35 Jahren dürfen die Ostdeutschen Miete an uns zahlen und für unsere Unternehmen arbeiten. Ihren vorzüglichsten Töchtern und Söhnen gestatten wir sogar, zu uns zu kommen und hier im schönen Stuttgart für etwas mehr Lohn (und Miete) als im ollen Osten für uns zu ackern. Und zum Dank ist jetzt jeder Dritte da drüben Nazi oder was?
Auch wer wie manch Altvorderer die DDR vermisst, hat in der BRD dieser Tage doch keinen Grund zur Klage: keine Handwerker weit und breit, Deindustrialisierung, Materialknappheit, Medikamentenmangel – Ostalgie pur! Auch der Kapitalismus kann Alltagsgegenstände zu Luxusgütern machen.
Ost-Bashing betreibt diese Kolumne aber ausdrücklich nicht. Mit Christian Ehring zu sprechen: "Ich bin ein großer Freund des Ostens, ich habe Freunde im Osten, ich ess' auch gerne ostdeutsch." Über Ostdialekte reiße ich auch keine Witze, weil mir mehrere Dritte offenbart haben, dass Schwäbisch und Sächsisch für Außenstehende wohl recht ähnlich klängen. Schwaben sind die Ossis des Westens! Wir sind bei der Geburt getrennte Dialektgeschwister! Schwestern und Brüder zur Sonne, zur Freiheit!
Der geneigte AfD-Apologet wendet überdies gern ein, nicht jedes Mitglied und nicht jeder Wähler dieser Partei sei ein Nazi. Erinnert mich immer an meinen Lieblingsdialog aus der unübertroffenen Agententhrillerparodie "OSS 117 – Er selbst ist sich genug" mit Jean Dujardin: "Tous les allemands ne sont pas nazis, Monsieur!" – "Oui, je connais cette théorie." (Nicht alle Deutschen sind Nazis, mein Herr! – Ja, ich kenne diese Theorie.) Einigen können wir uns aber wohl darauf, dass zumindest überm Landesverband Thüringen um Oberhorst Höcke, wo mittlerweile selbst der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald Morddrohungen erhält, der Himmel unstrittig braun ist.
Über Landolf Ladig respektive Bernd Blöd wurde ja aber alles schon geschrieben, jedes Detail ist bekannt. Geholfen hat's offenbar nicht, Thüringen will es einfach extrem. Dabei hatten sie doch jetzt zehn extreme Jahre lang einen Ministerpräsidenten der Linken. Zwar stimmt's schon: Wer Bodo Ramelow für einen Extremisten hält, für den sind fünf Minuten Daumenwrestling auch Extremsport. Extrem ist's aber, dass dieselben Leute, die bei der Landtagswahl 2019 zu 31 Prozent für die Linke gestimmt haben, fünf Jahre später eine Höcke-AfD als stärkste Kraft forcieren. Thüringen leidet an politischem Borderline.
Ein extremes Miniland ohne Metropole
Glauben wir dem thüringischen Journalisten Martin Debes, der mit "Deutschland der Extreme: Wie Thüringen die Demokratie herausfordert" eine Analyse dieses wankelmütigen Hardcore-Bundeslandes gewagt hat, liegt die Ursache nicht nur in der jüngeren DDR-Vergangenheit, sondern auch in der älteren Geschichte des Bundeslandes, das schon immer ein Kind der Extreme gewesen sei. Nicht umsonst trat beim Bundesvision Songcontest 2006 welche Band für Thüringen an? Genau: In Extremo.
Debes führt etwa die extreme Kleinstaaterei auf engstem Raum an. Bis zur Gründung des Landes Thüringen anno 1920 konnte man dort in einem Fürstentum stehen und befand sich gleichzeitig mit der Nasenspitze schon in einem anderen. (Diese Zuspitzung habe ich abgekupfert aus Georg Büchners Kleinstaatensatire "Leonce und Lena" von 1836, die Bildungsbürger unter meinen Lesern werden es bemerkt haben. Also keiner.)
So konnten sich in Thüringen keine Metropolen bilden, kein geschlossener urbaner Raum, der für die Entwicklung intellektueller Eliten, aber auch fürs politische Gleichgewicht durchaus wichtig ist – glauben Sie's mir, ich habe Teile meines Lebens im Allgäu zugebracht, dem unurbansten Raum der Welt. Oder rechnen Sie's einfach selbst aus, ziehen Sie den urbanen Raum bei anderen Wahlergebnissen ab! Keine Sorge, einfache Subtraktion: Bayern minus München, Österreich minus Wien, Berliner Außenbezirke minus Innenstadt – das Ergebnis lautet immer Thüringen.
Auch nach der Kleinstaaterei ging's extrem weiter: Weil 1923 in Thüringen (und Sachsen) SPD und KPD eine Regierungskoalition anstrebten und linke Umtriebe traditionell als gefährlicher gelten als rechte, ließ die Reichsregierung beim "Sachsenschlag" die Reichswehr einmarschieren und die Landesregierungen stürzen. Thüringen kippte in der Folge wieder ins andere Extrem und avancierte zu Hitlers Mustergau: 1926 veranstaltete die NSDAP in Thüringen ihren ersten reichsweiten Parteitag. 1929 wurde sie in Thüringen zum ersten Mal an der Regierung eines Landes beteiligt. 1933 errichtete sie in Thüringen das erste Konzentrationslager.
Ist Thüringens Hang zum Extremen also ein transgenerationales Trauma, bei dem Gefühle, Ängste und Zwänge von einer an die nächste Generation vererbt werden? Möglich, aber bevor Olaf Scholz und Boris Pistorius (beide SPD) die Bundeswehr zum Sachsenschlag 2.0 nach Erfurt schicken, möchte ich mit dieser Anekdote noch Hoffnung auf Heilung machen: Im Hause Oettle übertrug sich zum Beispiel als transgenerationales Trauma, dass ich Angst vorm Fischessen habe, weil mein Vater mir immer wieder erzählt hat, wie er lange vor meiner Geburt mal fast an einer Gräte erstickt sei. Doch jüngst habe ich mich meinen Dämonen gestellt und am Gardasee einen schmackhaften Barsch weggeputzt. Meine Botschaft: Don't let trauma define you! Wenn ein Barschgesicht wie ich es schafft, kann Thüringen das auch!
Ministerpräsidentin im Saarland ist übrigens Anke Rehlinger.
1 Kommentar verfügbar
Dietrich
vor 3 WochenDanke dafür! Es macht Freude, KONTEXT zu lesen. Dies ist meine erste Ausgabe und ich bin total positiv überrascht.