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Weil's so schön war

700 Gründe, Stuttgart zu lieben

Weil's so schön war: 700 Gründe, Stuttgart zu lieben
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Kontext-Ausgabe Nummer 700 ist die letzte für unsere Volontärin, die nun ihre Ausbildung beendet und weiterzieht. Anlass für sie, eine Hymne auf Stuttgart zu singen.

700 Eiskugeln sind sehr viel. 700 Blätter an einem Baum – nichts Besonderes. Als Geschichtszahl ist sie so mittelbedeutend. Um 700 vor Christus ersetzen im antiken Griechenland geschriebene Gesetze allmählich die richterliche Willkür. 700 nach Christus wird die kroatische Küstenstadt Dubrovnik gegründet. Rechnen wir zurück, wird es schon interessanter: Vor 700 Tagen, am 28. September 2022, protestieren Iraner:innen gegen das autoritäre Mullah-Regime.

Nun kommt eine zumindest regional bedeutende 700 dazu: Sie lesen gerade die 700. Ausgabe der besten Zeitung Stuttgarts, ach was: ganz Baden-Württembergs. Grund genug, etwas Ungewöhnliches zu versuchen. Wie wär's mit 700 Gründen, Stuttgart zu lieben? Diese Bashing-anfällige Stadt, für die nur wenige ein liebes Wort übrighaben. Bei der man vielleicht zwei, drei oder auch 700 Mal hinschauen muss, um etwas Lobenswertes zu finden.

Stuttgart ist nicht wie andere Städte. Es ist nicht schlaflos wie Berlin (der "Späti" um die Ecke schließt um 22 Uhr, sogar der Edeka hat länger offen). Stuttgart ist nicht fashionbewusst wie Paris. Es strahlt kein künstlerisches Flair aus wie Florenz, ist nicht so nass wie Hamburg, nicht so cool wie Kopenhagen, nicht so hoch wie Frankfurt, nicht so high wie Amsterdam. Dafür ist Stuttgart authentisch. Es stinkt an manchen Ecken, an anderen ist es schrecklich hässlich. Zu laut dort, wo zu viele Autos fahren dürfen, zu protzig, wo sich nur Reiche eine Wohnung leisten können. Nein, Stuttgart ist besonders und hat eine einzigartige lebende Legende: einen Mann, der barfuß und halb nackt – lediglich umwickelt mit einem weißen Leinentuch – auf der Königstraße die Menschen mit seinem Tanz begeistert. Egal, welche Straßenmusikerin oder welche Band Musik macht: Er ist da.

Stuttgarts Tänzer in Weiß. Quelle: Youtube

Auch sonst bietet diese Stadt ziemlich viel, denn obwohl sie nicht Paris ist, gibt es hier doch das beste französische Baguette (La Boulangerie), mindestens genauso köstliches Eis wie in Florenz (Claus, Pinguin, Eiswerkstatt), und das Gras soll – reines Hörensagen – dem aus Amsterdam in nichts nachstehen. Und natürlich bringt Stuttgart dank der schwäbischen Kultur einen großen Pluspunkt mit sich: das allerbeste Kateressen. War der Blick ins Glas mal zu tief, hilft am nächsten Tag die gute alte schwäbische Küche, die dank ausreichend Käse und Soße an Deftigkeit kaum zu übertreffen ist. Genau das Richtige nach einer langen Nacht. Denn betrinken kann man sich hier übrigens auch gut, am besten mit regionalen Weinsorten. Oder Bier. Mit guten Bierfassanstich-Fähigkeiten kann man es in dieser Großstadt, deren Flair doch eher provinziell ist, ganz schön weit bringen. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum es Frank Nopper (CDU) zum Titel des Stadtoberhaupts geschafft hat.

Das Leben ist nunmal kein Schlotzer

Liegen die Kässpätzle hinterher schwer im Magen, hilft ein kleiner Verdauungsspaziergang. Behilflich ist dabei ein gefühlt 700 Meter langer Gang, wenn man zum Hauptbahnhof will oder weg von ihm Richtung Stadt. Generell ist Stuttgart eine kostenlose Baustellen-Dauerausstellung. Und so bleibt beim Schlendern durch die Gassen, im Fünf-Minuten-Takt vorbei an Ruinen, Kränen und Baggern, die Hoffnung, dass wenigstens der ein oder andere Baustellen-Fan seine Freude daran haben wird. Alle anderen, denen das ganze Gebaue mächtig auf die Nerven geht, sollten sich auf die schwäbische Weisheit besinnen: 's Läba isch koi Schlotzer.

Aporopos schwäbisch: So sprechen hier die wenigsten, die meisten schwäbeln höchstens. Der Anteil "echter" Schwäbinnen und Schwaben ist ziemlich klein in der Landeshauptstadt. Stuttgart ist bunt, multikulti. Fast die Hälfte (48,7 Prozent) der gut 630.000 Stuttgarter:innen hat einen Migrationshintergrund. Und damit landet die Stadt immer wieder unter den Top Ten der deutschen Großstädte mit dem größten Anteil an Bevölkerung mit nichtdeutschen Wurzeln. Viele Kulturen, viele Lebenswelten, viele Herausforderungen, aber in der Regel auch eine weltoffenere Gesellschaft sind die Folgen. Und das spürt man in Stuttgart. Selbst wenn der ein oder andere waschechte Schwob bruddelnd durchs Leben geht, begegnet man auf Stuttgarts Straßen überdurchschnittlich oft einem lächelnden Gesicht. Deshalb hier eine empirisch nicht überprüfte, dafür aber erfahrungsbasierte Behauptung: Die Menschen in Stuttgart sind grundsätzlich ziemlich nett. Und das macht die ekelhafte sommerliche Kesselhitze und die feuchte Winterkälte zumindest mental für alle leichter erträglich.

Genauso wie die unleugbare Tatsache, dass Stuttgart nun mal nicht die schönste aller Städte ist. Kaum barocke Pracht, wenig Jugendstil, ein eher geringes Erbe der Renaissance. Vielmehr ein verzwicktes Mosaik aus ehrwürdigen, alten, wirklich hübschen Bauten, die nicht dem Krieg zum Opfer gefallen sind, und viel zu vielen dahingeklatschten 1970er-, 80er-, 90er-, 00er- und so weiter Betonklötzen. Doch dem Cheerleader-Effekt sei Dank: Von Weitem sieht das alles ganz okay aus, man darf nur nicht zu nahe kommen. Und Stuttgart kann man besser als jede andere Stadt aus der Ferne betrachten. Die Stuttgarter Hügel sind zwar keine alpinen Gesteinsattraktionen oder toskanischen Bella-Vita-Colline, aber sie sind wenigstens praktisch. Denn sie bieten fantastische Ausblicke über die gesamte Stadt. In anderen Städten wird für so was Geld verlangt. Da freut sich der Schwob. Und wer sich die Höhenmeter sparen möchte, setzt sich in eine U-irgendwas und bekommt so eine Stadtführung. Denn die Stuttgarter U-Bahn fährt großteils oberirdisch.

Stuttgart ist eine Stadt, die man lieben lernt. Eine Stadt, die von außen hässlich wirkt, aber von innen erlebt werden muss, um ihre Schönheit zu entdecken. Und so bleibt mir am Ende nur noch eines zu sagen: Es war mir eine Freude, dass ich diese Stadt erleben und entdecken durfte. Bevor ich nun losziehe und ihr den Rücken kehre, besorg' ich mir ein 0711-T-Shirt. Um der Welt zu zeigen, dass ich Stuttgart lieben gelernt habe. 700 Mal bis zum Mond und wieder zurück.

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1 Kommentar verfügbar

  • Andrea K.
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Eine sehr schwäbische Hymne, die zeigt, wie gut die Volontärin hier angekommen ist. "Nix geschwätzt isch gnug globt" - daher muss wohl unbedingt viel negatives erzählt werden, damit das Positive nicht so überschwänglich daherkommt :-D.

    Wie schön Stuttgart ist, sieht man selbst am besten, wenn…
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