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Europawahl

Eine Union geht vor die Hunde

Europawahl: Eine Union geht vor die Hunde
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Am Sonntag wählt Europa. Man wird vom Wahlsieg der Rechten sprechen. Dabei haben die längst gewonnen. Die EU avanciert zu einem Orwellschen Bauernhof, meint unser Kolumnist.

Im Stuttgarter Schauspielhaus gab's jüngst eine Inszenierung von George Orwells "Farm der Tiere" zu sehen. Schlüsselmoment der Geschichte um machthungrige Schweine, die nach der Revolution gegen den Bauernhofbesitzer eine bessere Gesellschaft schaffen wollen: Ober-Eber Napoleon (Orwell dachte dabei an Stalin) lässt die Hunde von der Leine, um Konkurrent Schneeball (Trotzki) zu vertreiben. Den friedlichen politischen Wettstreit der Ideen loben alle Seiten stets mit Freude, aber wenn die Felle davonschwimmen, kommt's halt doch drauf an, wer den längeren Stock hat. Respektive die schärferen Hunde.

Während Putin seine War Dogs in die Ukraine schickt, die EU sich bei "Flüchtlingsdeals" (auch so ein normalisiertes Unwort) neue Köter heranzüchtet, um sie gegen arme Hunde in Stellung zu bringen, Borussia Dortmund sich von Rheinmetall-Tölen sponsern lässt und Rudelführer Frank-Walter Steinmeier "raue, härtere Jahre" prophezeit, wüten andere Kläffer im Innern: Anlässlich der tätlichen Angriffe auf Plakataufhänger und Wahlkämpfer haben sich Ende Mai unter dem Motto "Demokrat*innen stehen zusammen" die Parteien SPD, Union, Grüne, FDP und Linke "Gemeinsame Regeln für faire Wahlkämpfe" gegeben. Neben dem Kampf gegen Extremismus und Desinformation hat es ein zuvörderst für die CDU bedeutsamer Satz in die "fünf Grundsätze für einen fairen Wahlkampf" geschafft: "Durch irreführende Formulierungen dürfen demokratische Parteien im Mitte-Rechts-Spektrum keinesfalls mit rechtsextremen Parteien gleichgesetzt werden."

Rechtstaatliche Remigration mit der CDU

Obzwar irreführende Formulierungen charakteristischer Bestandteil meiner Kolumne sind, will auch ich mich den gemeinsamen Regeln fügen und stattdessen einfach aus dem Europawahlprogramm der CDU zitieren: "Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat außerhalb der EU gebracht werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Es muss ermöglicht werden, dass in sicheren Drittstaaten Asylverfahren stattfinden, die allen rechtsstaatlichen Voraussetzungen entsprechen. Im Falle der Anerkennung soll der sichere Drittstaat ihnen Schutz gewähren."

Heißt: Wer Asyl in der EU erhält, darf es in Ruanda genießen. Oder in einem anderen Drittstaat, der sich mit ausreichend Moneten und zugekniffenen Augen beim Blick auf Rechtsstaatlichkeit schon noch finden lässt. Jeder kennt die rechtskonservative Phrase "Wer kein Recht hat hierzubleiben, muss auch wieder gehen", aber die Schwarzen stiefeln jetzt noch einen Schritt weiter: Die CDU möchte Menschen, die berechtigt sind, in Europa zu bleiben, nach Afrika fliegen. Spräche man nicht wieder von Deportation, schlüge die AfD solch ein Vorgehen vor?

Großbritannien, Erfinder des sogenannten Ruanda-Modells, rechnet bei diesem Verfahren mit Kosten von Hunderttausenden von Pfund pro Abschiebung. (Auch wenn es offiziell keine Abschiebung mehr wäre, sondern eine Art – ja, was eigentlich? Rechtsstaatliche Remigration?) Klar, wir könnten mit dem ganzen Abschottungsschotter auch hiesige Strukturen verbessern, die nicht nur der Integration dienlich, sondern auch dem Allgemeinwesen zuträglich wären. Aber dann blieben die Ausländer ja bei uns. Lieber hackt man sich das Bein ab, als einem Fremden die Hand zu reichen. Sie kennen ja den neuen Schlager-Hit, den die Deutschen von Sylt bis Stuttgart grölen. Letztlich nur das vertonte CDU-Programm.

Man muss "demokratische Parteien im Mitte-Rechts-Spektrum" demnach gar nicht durch irreführende Formulierungen mit rechtsextremen Parteien gleichsetzen. Sie tun es in ihren Wahlprogrammen selbst. Die Forderung der Ausweisung Asylberechtigter ist auch keine europapolitische Eintagsfliege, sondern findet sich ebenfalls im am 7. Mai verabschiedeten "Grundsatzprogramm" der CDU wieder.

Flüchtlingslager in Albanien

Mit dieser Selbstradikalisierung liegen die Christdemokraten allerdings voll im europäischen Trend: Wo die Brandmauer nicht endgültig eingerissen wird wie in den Niederlanden, haben sich ehemalige Volksparteien wie Orbáns Fidesz einfach selbst immer weiter nach rechts bewegt. Oder es regieren ohnehin bereits die neuen Rechten mit den ganz neuen Rechten wie bei Salvini und Meloni. Die Italiener bauen gerade Flüchtlingslager in Albanien, um die aus Seenot Geretteten ja nicht auf EU-europäischen Boden schiffen zu müssen.

Menschenrechte loben alle Seiten stets mit Freude, aber wenn die Felle davonschwimmen, kommt's halt doch drauf an, wer den längeren Stock hat. Stehen sie unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sprich unserer Kapitalakkumulation und unserem Rassismus im Weg, müssen sie weichen. Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beginnt zwar mit "Alle Menschen sind frei", aber manche sind freier.

Wie die Tiere bei Orwell, die sich allmählich an ihre Ausbeutung und die immer absurderen Verdrehungen der Bauernhofgrundsätze gewöhnen ("Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher"), akzeptieren auch die Europäer zusehends die unfassbar ungleiche Vermögensverteilung samt der Brutalisierung der "Mitte". Die Grünen überholen Seehofer rechts und die CDU die AfD.

Was vor wenigen Jahren noch als rechtsextrem und inhuman galt, reicht uns heute nicht mehr aus: Die Pushbacks haben uns nicht gereicht, das Ertrinkenlassen im Mittelmeer reicht uns nicht, und bald wird es uns nicht mehr reichen, die Geflüchteten zusammen mit unseren nordafrikanischen Flüchtlingsdeal-Partnern zum Verdursten in die Wüste zu schicken. Es ist das Wesen des Faschismus: Einmal losgetreten, gibt er sich niemals mehr zufrieden. Die Nazis kannten kein Ende vor der Endlösung.

Freilich wollen die Verantwortlichen ihre Menschenfeindlichkeit aber als Menschenfreundlichkeit verstanden wissen, sprechen unentwegt davon, dass es beim Lager- und Zaunbau doch nur darum gehe, das Sterben zu stoppen. Im Namen der Humanität schaffen wir das Asylrecht ab. Orwellscher geht's kaum.

Medien mittendrin im Rechtsruck

Gleich dem Frosch im Kochtopf akklimatisieren sich Jahr für Jahr auch die Medien. (Denen bei der Schattierung der europäischen Rechten demnächst das Vokabular ausgehen dürfte: Die neuen Faschoparteien sind wahlweise rechtspopulistisch, postfaschistisch oder ultrarechts – ich freue mich schon auf "superrechts", "megarechts" und "oberaffentittenrechts".) Mit einem Unterschied: Der Frosch springt irgendwann aus dem Topf. Die Metapher ist nämlich Quatsch und empirisch nicht haltbar. Natürlich spürt ein Frosch, wenn es zu heiß wird, sonst gäbe es ja keine Frösche mehr. Im Gegensatz zum Journalisten, der lässt sich verkohlen.

Und feuert den Rechtsruck damit weiter an, womit er am Sonntag an der Wahlurne seine demokratische Legitimation erfahren wird. Woraufhin wiederum die Medien nach rechts rutschen. Man imaginiere stattdessen nur mal kurz eine Welt, in der deutsche Talkshows die Frage "Immer mehr Milliardäre – wer stoppt den Vermögenswahnsinn?" ebenso ausdauernd debattierten wie "Zu viele, zu schnell – lässt sich Migration begrenzen?" (Maybrit Illner, September 2023).

Was also haben die Rechten, deren Wahlsieg verkündet werden wird, in dieser EU überhaupt noch zu gewinnen? Die Europäische Union hat sich längst von der Idee einer offenen Gesellschaft abgewandt und zur Festung umgebaut. Orwell schrieb seine "Animal Farm" selbstredend als Parabel auf die Sowjetunion, die sich nach der Februarrevolution der Zarenherrschaft entledigt, bald jedoch ihre Ideale verraten hatte. Einen solchen Gang vor die Hunde können aber nicht nur Sowjetsauen antreten. Auch anderen Unionen, seien es christlich-demokratische oder europäische, steht der Weg offen, sich zum Gegenteil dessen zu entwickeln, was man sich auf die Fahne geschrieben hatte. Der Leitspruch der EU lautet "In Vielfalt geeint". Wird gut aussehen als Slogan über den Toren der neuen Lager.


Cornelius W. M. Oettle ist am 12. Juni Bühnengast in Joe Bauers Flaneursalon in der Rosenau Stuttgart. Karten gibt es hier.

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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 20.06.2024
    Antworten
    Ob Rechte, ob Linke, ob sonst jemand, die _a l l e_ ein und denselben Schandfleck auf _ihrer_ ach so weißen Weste mit sich herumtragen:
    Sie befinden außerhalb unserer Gesellschaftsgrundlagen https://up.picr.de/42098675uv.pdf

    Stehen, auf dem Boden des Grundgesetzes, ist eben ein rein statisches…
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