KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Multiple Krisen

Systemabsturz total

Multiple Krisen: Systemabsturz total
|

Datum:

Die Krisen-Kacke ist allerorts am Dampfen – und trotzdem verteidigt die Politik die Ursache des Problems mit Zähnen und Klauen.

Ohne Scheiß: Alles ist doch irgendwie im Arsch gerade, oder? Da sind wir uns einig. Pandemie. Inflation. Krieg. Abgeschmierte Verschwörungsnachbarn, -bekannte oder -familienmitglieder. Überfüllte Bahnen. Unterfüllte Gastanks und Geldbeutel. Der Sonntagsbraten voll Separatorenfleisch. Die Sojaschnitzel voll Regenwaldblut. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Die "ganz normalen Leute" immer rechter. Der Weltklimarat hat mal wieder rausgefunden, dass alles noch viel schlimmer ist als angenommen mit dem Planeten. Frust, Frust, Frust. Und wer's mit Resilienz oder Intelligenz nicht so hat, kann sich on top noch richtig schön in mächtige Minderheiten und öffentlich-rechtliche Zwangsmäuse reinsteigern, die die Gesellschaft (und vor allem "unsere Kinder") totalversexen und kaputtgendern wollen.

"Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich halt das alles nicht mehr aus", stöhnte der ehemalige österreichische Candycrush-Kanzler Sebastian Kurz bereits schon vor dem zweiten Corona-Lockdown Ende 2020 in einer Rede und wurde damit zum Meme und Dauergefühlsausdruck einer krisengebeutelten Welt, die in den folgenden eineinhalb Jahren noch ein paar weitere Eskalationsstufen kennenlernen würde. Unser gesellschaftliches Betriebssystem ist einfach am Arsch.

Das muss allerspätestens klargeworden sein, als der grüne Stellverstreter des Bundeskanzlers und Bundeswirtschaftsminister den Deutschen angesichts der Energiepreis-Explosionen ernsthaft erzählte, dass sie eben nicht so lange duschen sollen. Denn wenn alle jetzt ein bisschen mehr auf ihren Energieverbrauch achten, dann kommen "wir" da schon durch. Gemeinsam. Zusammenstehen jetzt. Sich an die eigene Nase packen. Und wer beim Duschen an der "Sauber"-Seife, Geschmacksrichtung "Zitronengras", aus dem Onlineshop der Grünen leckt, spart nicht nur Energie, sondern gleich auch noch das Mittagessen. Ey, ich kann auch nicht mehr, und ich will nicht mehr, und ich halt' das auch alles nicht mehr aus. Aber geht es nach der Regierung, müssen "wir" jetzt einfach alle mit anpacken. Dann wird das schon mit der Klimakrise, der Wirtschaftskrise, der Corona-Krise – also mit allen Krisen. Arsch hoch! Einfach 42 statt 40 Stunden arbeiten nach verkürzter Duschzeit am Morgen!

1.535.000 Millionär:innen und mehr Überstunden

So ein unsäglicher Schwachsinn wird tatsächlich diskutiert. Denn irgendwie müsse man den Fachkräftemangel ja in den Griff bekommen. Nur mit der 42-Stunden-Woche könne man den Verlust des "Arbeitsvolumens" ausbalancieren, wenn die Babyboomer alle in Rente gehen, wissen Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), und Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Nur so sei die Rente für meine Generation sicher. Oder eben mit der Rente mit 70. Aber die sei politisch schwieriger durchzusetzen als die 42-Stunden-Woche. Satire taugt nicht mehr zur Entlarvung des Absurden. Sie ist Realität geworden. Klarer Fall: zurück in die Zukunft im Arbeitslager – natürlich bei vollem Lohnausgleich und gratis Nervenzusammenbruch.

Geld. Geld. Geld. Ja, wo soll es bloß herkommen, wenn sich niemand mehr freiwillig den Rücken bucklig und die Murmel malle arbeiten will? Zwar ist in Deutschland die Zahl der Reichen durch (!) die Corona-Krise auf Rekordzahlen gestiegen. Hierzulande gibt es jetzt 1.535.000 Millionär:innen – nach 1.466.000 im Vorjahr. Deutsche Aktienunternehmen zahlten mit 70 Milliarden Euro so viel Dividende aus wie niemals zuvor. Die Krisen an allen Enden der Welt haben für unfassbaren Reichtum gesorgt.

Doch auch Finanz-Zwangsmaus Christian Lindner ist der Ansicht, dass "wir" – und damit meint er vermutlich auch mich – noch mehr "Wachstumsimpulse" brauchen. Kein Witz: "Was wir jetzt brauchen, sind mehr Wachstumsimpulse, mehr Gründungen, mehr Überstunden, um unseren Wohlstand zu sichern. Steuererhöhungen würden die Stärkung der Wirtschaftslage sabotieren", twitterte der FDP-Chef angesichts existentieller Unsicherheiten, die überhaupt nicht sein müssten, wenn "wir" endlich aufhören würden, "uns" einzureden, dass es so etwas wie solidarischen Kapitalismus gäbe. Dass "wir" mit noch mehr Knechterei, mit noch mehr Wachstum, mit der Produktion von noch mehr Reichen bei exponentiellem Anstieg von noch mehr Armut die Probleme unserer Zeit gelöst bekämen. Das versteht zumindest die "Generation Z" mittlerweile ganz gut. 63 Prozent der Arbeitgeber gaben in einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) 2019 an, dass es Jugendlichen an Motivation, Leistungsbereitschaft und Belastbarkeit fehle. Zu Recht!

Der Kapitalismus ist in der Krise. Aber selbst an seinem absoluten Nullpunkt, durch das Brennglas mehrerer gleichzeitig stattfindender, multipler Krisen, wollen wirtschaftsliberal Verblödete immer noch glauben, dass der Markt regelt. Dabei zeigt die soziale Realität einfach sonnenklar: Die Marktmechanismen müssen mehr reguliert werden. Wirtschaft darf keine Chiffre für "Gesellschaft" und "Wohl aller" mehr sein. Während des Lockdowns konnte in nie dagewesener Widerlichkeit beobachtet werden, wie stets von "der Gesellschaft", um die sich die Politik sorgen würde, gefaselt wurde, während eigentlich stets "Wirtschaft" gemeint war. Ein menschliches Armutszeugnis, das der ideologischen Hegemonie globaler kapitalistischer Ordnung geschuldet ist – einem Virus, einem falschen Heilsversprechen des Wohlstands, das in all die Krisen geführt hat, mit denen "wir" – also alle außer den 1.535.000 Millionär:innen – jetzt konfrontiert sind. Doch zu tief sitzt der ideologische Gehirnwurm eines alternativlosen Wirtschaftssystems, das die allermeisten Menschen schlichtweg finanziell, körperlich und psychisch abfuckt.

Leere Augen voller Panik

Wie ideologisch verwurmt die aktuelle Situation ist, sieht man übrigens auch ganz gut daran, dass es mittlerweile sogar junge Multimillionen-Erb:innen wie die Österreicherin Marlene Engelhorn gibt, die seit Jahren öffentlich fordert, hart besteuert zu werden. Mit zahlreichen anderen Vermögenden der Initiative "Taxmenow" setzt sie sich für Steuergerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit ein und stellte jüngst in der österreichischen Polit-Talkshow "Im Zentrum" im ORF die Bundesministerin für Frauen, Familie, Integration und Medien der ÖVP, Susanne Raab, bloß. Die quatschte irgendwas von Entlastungspaketen und stilisierte sich zur Retterin krisengebeutelter Menschen – bis Engelhorn ihr mit Marx ankam und ihr erklärte, dass es Raabs Politik sei, die die Armut (re)produziere. In Raabs leeren Augen stand die blanke Kernel Panic. Einfach "Error" ganz fatal.

Fucking Reiche wollen hart besteuert werden! Wollen, dass man ihnen Geld wegnimmt! Wollen, dass der Reichtum, den ihnen Generationen von Arbeiter:innen in den Fabriken ihrer Großväter beschert haben, wieder zurück an ebendiese Menschen gegeben werden soll! Und sie wollen das nicht aus neo-feudalistischem Wohlwollen, nein, es soll auch noch gesetzlich bestimmt werden! "Fatal Error". Systemabsturz total. Superreiche, die im Chor nach Besteuerung schreien? Politiker, die mit wassersparenden Duschköpfen Wirtschaftskrisen und Kriege beenden wollen? Wirtschaftsexperten, die Arbeitssektoren, in denen Personal fehlt, mit 42-Stunden-Wochen attraktiver machen wollen, obwohl die junge Generation überhaupt keinen Bock mehr hat, sich ins Grab zu arbeiten? Also ehrlich, Leute: Wir brauchen einen Reboot.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


7 Kommentare verfügbar

  • Dietmar Rauter
    am 02.07.2022
    Antworten
    Ich halte es für ziemlich blind, jetzt 'die Reichen' an den Pranger zu stellen. Es ist das System, das es den Vermögenden ermöglichte, sich zu bereichern, jedenfalls mehr, als denjenigen, denen heute kein Job mehr angeboten werden kann, weil ihr Entgelt -im globalen Maßstab- nicht mehr…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!