Es gibt im Übrigen genügend kürzere Routen als die nach Rom, wenn es darum geht, Profite zu machen.
Seit der Pandemie bin ich in meinem Job als gewerbetreibender Hans Guck-in-die-Luft nicht mehr so oft unterwegs. Was schade ist, weil sich im vermeintlichen Stillstand womöglich mehr Abgründe auftun als im üblichen Getue. Als In-die-schlechte-Luft-Gucker kann ich es mir leisten, beim Gedanken an die bösartigen Bestrafungen dieses Treibens im "Struwwelpeter" einen fahren zu lassen, der es mit jedem Frühlingswind aufnimmt.
In der Stadt herumzugehen mit der Absicht, Beobachtungen zu verwerten, entspricht nicht unbedingt dem lustigen Hobby, die Zeit totzuschlagen. Auch wenn es zurzeit so viel Zeit totzuschlagen gibt wie lange nicht.
Zu den Beobachtungsorganen zähle ich als alter Hase meine Nase und mir scheint, als dünste die Stadt im Lockdown weniger Gerüche aus als früher. Wenn ich die Nase gen Himmel strecke, stinkt die Luft nicht mehr nach Fastfood-Fett, wo sie immer nach Fastfood-Fett gestunken hat. Vielleicht aber hat diese Wahrnehmung mit dem Zinken auch einen simplen Grund: Ich kann meine Stadt nicht mehr riechen. Bin ja nicht Monsieur Grenouille aus Patrick Süskinds Roman "Das Parfum", wenn auch nicht immer frei von seinen Mordgelüsten.
Ich gehe an den Breuninger-Bauten vorbei in jenem Konsum-Carré, das man "Dorotheen-Quartier" getauft hat, als könne der Begriff "Quartier" irgendwelchen Menschen irgendeine Stadtviertel-Identität vortäuschen. An einer Glasfassade lese ich beim In-die-Luft-Gucken die identitätsstiftenden Geschäftsnamen "Rivièra Maison" und "rich & royal". Hinter mir heißt ein Lokal "Sansibar". Es verspricht, wie ich mithilfe meines Taschentelefons ermittle, "Meeresrauschen und Dünenfeeling in Stuttgart". Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Zügig über den Schlossplatz, wo sich auf den Bänken die ersten Liebespaare des neuen Jahres ewige Treue schwören. Dann zum Königsbau, wo die Schlange vor der Post den Eindruck erweckt, als sei gerade ein Lockdown oder Generalstreik zu Ende gegangen. Gegenüber sehe ich die Schrifttafel über den EM-Kinos: "Heute ist nicht alle Tage, wir kommen wieder, keine Frage".
Stuttgarter Ausverkaufs- und Abrisswahn
Diese Botschaft gilt wohl weniger dem ein paar Meter entfernten Metropol-Kino, das bekanntlich zum Jahresende geschlossen wurde. Auf die Geschichte dieses Hauses, auf dessen Gelände bis zum Abriss in den Zwanzigern Stuttgarts erster Bahnhof stand, wurde zuletzt hin und wieder hingewiesen. Dennoch ist der Blick auf die historische Dimension dieses Quartiers viel zu eng. Meist richtet er sich nur auf das verlorene Lichtspieltheater – nicht auf die für Stuttgarter Verhältnisse durchaus städtische Kulisse mit dem einstigen Hotel Marquardt und der Metropol-Bühne, wo Weltstars wie Richard Wagner, Franz Liszt und Ella Fitzgerald eine Rolle spielten. Und zügig vergessen wurden. Stuttgart wurde nach und nach ja nicht nur topografisch, sondern auch geistig gekesselt.
Das Geschichtsbewusstsein der heutigen Besitzer des Metropol-Gebäudes, das die Stadt in ihrem Ausverkaufs- und Abrisswahn schon vor Jahren verscherbelt hat, reduziert sich auf die letzte Mieterhöhung. So wundert es nicht, dass die Union Investment, eine Tochter der Genossenschaftsbanken, das Kulturdenkmal einem Boulderhallen-Betreiber überlassen will. Diese Strategie spiegelt präzise das übliche meerberauschte Kessel-Feeling: Sobald du an den Umgang mit den Kostbarkeiten und der Geschichte deiner Stadt denkst, gehst du die Wand hoch.
Die Vorstellung, nach den Abstürzen der Pandemie-Krise könnten Fitness-infizierte Menschen im Kulturdenkmal Metropol an künstlichen Felsbrocken herumkraxeln, ist so typisch stuttgarterisch und komisch, dass mir nur der Wunsch bleibt: mehr Boulderhallen! Damit im Kessel nicht nur die Mietpreise klettern.
Würde die Union der Banausen den – meinetwegen nicht kurzfristig messbaren – Wert eines urbanen Ortes voller Geheimnisse begreifen, könnte ihr vielleicht der Gedanke kommen, die gesamte Häuserzeile an der Eugen-Bolz-Straße als eine der historisch bewegendsten Ecken Stuttgarts öffentlich darzustellen. Da gäbe es einiges zu erzählen und vorzuzeigen, man könnte imitschmäßig richtig angeben – mit dieser zentralen Nische einer Stadt, die in Wahrheit kein Zentrum hat, weil die Politik ihre Stadtplanung und Wohnpolitik den Herrenfahrern und Immobilienhaien überlassen hat. Womöglich könnte sich auf diese Weise sogar ein großstädtischer Geruch ausbreiten, der uns Hanswürsten im Provinzmief wie mörderisches Parfüm zu Kopf steigen würde. Der Gewinn im Hotspot-Geschäft wären Einblicke in die aufregende und liebenswerte Seele einer Stadt.
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Peter Hermann
am 04.02.2021