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Billard und Absinth

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Seit der Seuche kann ich nicht mehr durch die Straßen gehen, als hätte ich nichts anderes zu tun, als durch die Straßen zu gehen. Das liegt nicht nur an diesem neuen Lockdown, der zu absurd ist fürs Leben und womöglich nicht streng genug, um nicht zu sterben. Die Leute strömen weiterhin in die Stadt und grölen das Weihnachtslied der Wachstumswahninfizierten: Keep On Shoppin' In The Free World.

Mein Kopf ist schon lange nicht mehr frei für die Schlaglöcher und Ampellichter der Stadt, seit ich im März mit ein paar Freunden die KünstlerInnensoforthilfe gegründet habe, um Leute in der Kulturarbeit mit Spendengeld zu unterstützen. Wir konnten nicht ahnen, dass unsere Initiative so lange überleben würde. Inzwischen haben wir mehr als eine halbe Million Euro erhalten, und schon der Gedanke, einfach nur ziellos in der untergehenden Welt herumzuspazieren, nagt an meinem seit jeher schlechten Gewissen. In diesem Zustand kannst du an der nächsten Straßenecke die Reste deines Humors verlieren, selbst wenn du nie welchen hattest. Ich sag das nur, um bei Spendierhosen Mitleid zu wecken.

Vielleicht sind irgendwo in den Straßen schon Kerzen zu sehen, wie sie der Schriftsteller und Satiriker Christian Y. Schmidt als Mitinitiator einer in Berlin gestarteten Aktion aufgestellt hat. Nicht lange her, da hat er das Buch "Der kleine Herr Tod" veröffentlicht, die schwarz-fröhliche Geschichte eines Unterwelt-Angestellten, der an Burnout leidet, seit er immer mehr Hühner aus der Massentierhaltung heimholen muss. Herrn Schmidt, der zeitweise in China lebt und nicht nur deshalb eine Menge Pandemie-Wissen hat, ist angesichts des wildernden Corona-Todes bewusst geworden, dass die Opfer in den Medien kaum noch vorkommen. Die meisten Leute sind abgestumpft, sagt der Autor, sie nehmen Menschen und ihre Schicksale nicht wahr. Mit glasigen Augen glotzen sie auf tote Statistiken, als spielte er keine Rolle in unserem Leben, der große, ungezähmte Herr Tod dieser Tage.

Kerzen in der Stadt für die Corona-Opfer wären erhellender als das Reklame-Geflimmer auf dem Schlossplatz, das man auch jetzt zur Weihnachtszeit inszeniert. "Stuttgart leuchtet", wollen sie uns erzählen. Dieses Motto ist so klebrig, dass man unwillkürlich an den Wortgirlanden des neuen Stuttgart-Schultes hängenbleibt wie an einem elektrischen Weidezaun in Backnang. Er wolle die Stadt "zum Leuchten bringen", hat er verlautbart: "Wir müssen am Image arbeiten, möglicherweise gestützt auf eine Agentur."

Zwischen Pandemie-Krise und völkischen Attacken kann ich mir zurzeit kein wichtigeres Thema vorstellen als Imitsch-Verrenkungen auf den Stützrädern der Marketingakrobaten. Wenn ich aus dem Haus gehe, denke ich nicht selten an die, die sich zurzeit fühlen wie lebende Leichen. Keine Jobs, keine Kohle, keine Hoffnung. Da kann nur eine Image-Impfung helfen, bis der Himmel über dem Gaskessel leuchtet wie nach dem Abwurf einer Napalmbombe.

Der neue Rathauschef sagt uns auch gleich, worum es im Kern seiner Provinzpolitur geht: "Die Stadt München hat ein unglaublich gutes Image – es ist zum Teil sogar besser als das, was real existiert. Sie ist ein leuchtender Stern am leuchtenden Städtehimmel. Das hätte auch Stuttgart verdient, aber wir sind es bisher nicht."

So ist es. Wir sind nichts. Wir brauchen dringend die Ratschläge einer Leuchte, die das real existierende, 600.000-Nasen-kleine Stuttgart am verbuddelten Nesenbach mit der bayerischen 1,5-Millionen-Metropole an der schönen Isar vergleicht. Da lacht der Bazi. Die Denkweise hinter der München-Verbeugung leuchtet ein: Wenn du 16 Jahre lang die 37.000 Seelen von Backnang regiert hast, musst du auf dem Höhepunkt deiner Karriere schnell noch die Think-big-Nummer aufführen. Ich kenne dieses Dorf-Feeling. Als ich mal nach Brooklyn kam und mich umschaute, sagte ich mir: Da muss Botnang aber noch was tun.

Wenn bis heute Werbebroschüren München leuchten lassen, hat das die Stadt übrigens dem lange dort ansässigen Thomas Mann zu verdanken. Der begann seine 1902 erschienene Novelle "Gladius Dei" mit dem Satz "München leuchtete". Zwar handelt es sich bei diesen Worten, wie sich im Lauf der Lektüre herausstellt, um pure Ironie, gemünzt auf das seinerzeit rückständige Münchner Kunstverständnis. Unterbelichtete Reklamedichter stört so etwas nicht. Ironie versteht man nie.

Stuttgart wiederum dürfte bald an allen schmuddeligen Ecken und Enden als "leuchtender Stern am leuchtenden Städtehimmel" aufgehen, weil wir jetzt wissen, dass das brennendste Problem der verpesteten zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts unser "Image" ist. Verantwortlich für den miesen Ruf des Kessels sind nicht die politischen Geistesgrößen, die diese Stadt lenken, geschweige die Menschen, die sie prägen. Schuld haben die Schlafmützen, die nie die richtigen Werbefuzzis zur Aufbrezelung ihrer Weltstadt fanden. Seit Jahren darben wir deshalb im saumäßigsten Branding-Elend seit der Erfindung der Aktion "Unser Dorf soll schöner werden".

Der Kampf um die Stuttgarter Kaff-Korrektur ist mir nicht ganz fremd. In den achtziger Jahren habe ich für den Kulturteil der StN eine Interview-Serie über das heimische Image gemacht. Titel: "Profil statt Provinz". Der in Stuttgart aufgewachsene Publizist und "Konkret"-Herausgeber Hermann L. Gremliza, ein einzigartiger Sprachkritiker, antwortete mir damals schriftlich: "Stuttgart, das ist: der Generaldirektor einer Weltfirma, der nach einem Mittagessen auf Spesen die Reste des Rehrückens einpacken und im Dienstwagen zu seiner Gattin bringen lässt; und das archaische Einverständnis der Eingeborenen aller Klassen mit dieser Handlungsweise. Gelletse?"

Da Gremlizas Vater in den oberen Stockwerken einer Stuttgarter Weltfirma arbeitete, wusste der Autor, was er mir genüsslich vorkaute. Noch heute bin ich ihm posthum dafür dankbar, auch wenn sich an der Resterampe des Rehrücken-Separees inzwischen was geändert hat: Die grün wählenden Direktoren unter den Neoliberalen lassen sich nur noch Tofu-Wild und Bio-Wein für den Transport im SUV einpacken.

Um mein hungriges Hirn beim Blick auf den neuen OB nicht mit weiteren Leckerbissen zu belasten, bin ich dann doch noch in der Stadt herumgestiefelt. Immer der Nase nach – und wegen des Fastfoodfett-Gestanks in der Marienstraße gelandet und dann rasch in die Sophienstraße abgebogen. Da ich mich über jeden Quadratzentimeter Stadt freue, wenn ich denn einen finde, muss das Leuchten meiner Augen bis nach Botnang und Brooklyn zu sehen gewesen sein, als ich am Eingang zu einem prächtig abseitigen Hinterhof wieder dieses Leuchtschild sah: "Billardsaal Whisky Vino Absinth". In der Nachbarschaft dieser Viererkette zur Verteidigung des wahren Lebens existiert bis heute auch der Salon Tony Caponetto, und unter diesem betörenden Namen steht nicht etwa ein geföhnter Kalauer der Marke "Haarakiri", "Hairforce" oder "Schnittstelle", sondern sensationell: "Friseure". Jawohl: Friseure.

Um den Stuttgart-Ruf todsicher aufzuwerten schlage ich vor, trotz Lockdown einfach die Ortsschilder auszutauschen. Nicht mehr "Stuttgart Landeshauptstadt", sondern "Billardsaal Whisky Vino Absinth" – und darunter "Tony Caponette Friseure". Da werden sie auch in Backnang staunen.


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