Die Partei hat schon viel erlebt, gerade in Baden-Württemberg seit der Gründung 1979, die noch vor der des Bundesverbands erfolgte. Immer wieder wurde um Profilierung und um Kompromisse gerungen, oft am Rande der Spaltung. Der ewige Kampf zwischen Realos und Fundis prägte Dutzende Landesdelegiertenkonferenzen oder LDKen, wie Landesparteitag im Delegierten-Jargon bei Grüns heißen. Es gab Stuhlkreise und umgestoßene Tische, Schreiduelle, Stadtindianer, die Bühne und Tagesordnung kaperten, oder schrille laute Abende, mit oder ohne Grund zu feiern, mit oder ohne Alkohol.
Am vergangenen Wochenende in Reutlingen ist vieles anders. Und Corona-bedingt digital. Gummibäume und Lichterketten in dieser biederen Wohnecke, die seit der – ebenfalls digitalen – Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) in Berlin zum neuen kuscheligen Erklärstil der Partei gehört. Zwei Polit-LaiInnen sind am Mikro, die aus ihren Wissenslücken eine Tugend machen, die ungeniert parlieren, auch schon mal übers eigentlich Parteitagserträgliche hinaus über Make-up oder Mode oder die Friseure, die wieder schließen. In den vielen Abstimmungspausen verschwimmen Small-Talk und Volkshochschule. Sandra Detzer, die eine der beiden Landesvorsitzenden, kann so sogar erklären, wie Partei- und Programmarbeit funktionieren. "Wir wissen", sagt ihr Interviewer, "dass uns viel mehr Leute zuschauen, als ihr Delegierte habt."
9000 ZuschauerInnen sind es auf dem Höhepunkt, dem Hochamt für Winfried Kretschmann. Der muss wegen der gut 91 Prozent, die für ihn als Spitzenkandidaten zur Landtagswahl im nächsten Jahr stimmten, doch zwei Mal schlucken, ehe er sich zu verhaltener Freude aufrafft. Im Kreise der wenigen angereisten Medienvertreter hat er später eine Botschaft für die speziell beim Thema Klima skeptische Parteijugend parat: "Alles, was wir hier machen, machen wir vor allem für euch." Der per Videobotschaft zugeschaltete Robert Habeck gibt die Losung für das Superwahljahr 2021 mit sechs Land- und einer Bundestagswahl aus: Gewinnen könnten die Grünen nur, wenn "wir die Menschen überzeugen, dass wir Mittel und Wege finden, um unsere mutigen Ziele auch konkret umzusetzen". Und dann greift er schon mal nach der Richtlinienkompetenz im Bund und nach der in Baden-Württemberg sowieso. Nur zur Erklärung für die ModeratorInnen in der Kuschelecke: Gemeint ist damit der Anspruch, nicht nur im März wieder den Ministerpräsidenten zu stellen im Land, sondern im Herbst auch erstmals die Kanzlerin. Oder den Kanzler.
Nolens volens haben sich schon mehrere Parteien am digitalen Format versucht. Die Südwest-SPD brachte im November unfallfrei und gerichtsfest sogar einen Wahlparteitag über die Bühne, mit Unterbrechungen, um den Delegierten den Gang zu einer der 20 über das ganze Land verteilten Wahlurnen zu ermöglichen. Eine Übung, die der Bundes-CDU im Januar erst noch gelingen muss. Die Liberalen haben sich zu Dreikönig digital entschlossen, samt einer live gestreamten Diskussion aus der leeren Stuttgarter Oper am 6. Januar.
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Andi B.
am 19.12.2020