Reisen sind Geschichten, und Geschichten sind Reisen. Das gilt auch für den Spaziergang, vor allem in der Corona-Seuche, wo Reisen nicht die beste Tugend ist.
Nachdem die Uhr zurückgestellt wurde, ist es früh abends um halb sechs dunkel, und als ich durch die Stadt gehe, erscheint sie mir besonders dunkel. Es regnet Katzen und Hunde, meine Brille beschlägt sich, und die Lichter verschwimmen wie in einem Untergangsfilm. Zwei maskierte Männer mit Pistolen am Gürtel und Schildmützen auf dem Kopf kommen mir entgegen. Automatisch greife ich zu meinem Schweizer Messer in der Hosentasche, auch wenn das nicht größer ist als eine Patrone in den Magazinen der beiden Männer. So sieht die Welt aus, denke ich, wenn alle Galgenstricke reisen.
Erst bei näherem Hinsehen sind die Nice Guys im verseuchten Oktoberregen als Polizisten zu erkennen, was beweist, dass ich mich auch nach Monaten nicht richtig an den Anblick von Masken gewöhnt habe.
Mit der Gewöhnung an neue Straßenszenen ist es so eine Sache. Bis heute passiert es mir, dass ich bei der Begegnung mit einem wild gestikulierenden, schreienden Menschen denke, er führe ein derart bedrohliches Selbstgespräch, dass ihn zu unser aller Sicherheit ein paar muskuläre Männer in langen weißen Kitteln abholen müssten. Bis mir aufgeht, dass dieser Mensch wie heute üblich in das unsichtbare Mikrofon seiner mobilen Freisprechanlage brüllt. Vielleicht weil ihn sein aufgewecktes Kind gerade zu Recht einen Hurensohn geheißen hat.
Die Stuttgarter Dunkelheit, die traditionell nicht nur von fehlendem Licht herrührt, breitet sich aus, als würde mir mit maskierten Bullen auch das Ende der Welt entgegenkommen. Jetzt sage mir niemand, man könne das Ende der Welt nicht sehen. Ich kann es sogar riechen. Es riecht nach Stuttgart.
Nicht nur die Uhr, das ganze Leben wurde zurückgestellt. Wir reisen von einem Lockdown in den nächsten. Das ist unsere Geschichte. Und ausgerechnet in diesem heruntergefahrenen Dasein müssen wir uns jetzt mit den zwei wichtigsten Fragen der Welt vor ihrem Ende beschäftigen: Wird Donald Trump endlich aus dem Weißen Haus gejagt – und Frank Nopper hoffentlich in Backnang bleiben?
Diese Gedanken schwirren mir durch den Kopf auf der Fußreise durch die verregnete Stadt. Und ich muss kein großer Wortspieler sein, um mir vorzustellen, wie ein weiterer Lockdown unser Kaff in Deutschlands Locktown Nummer eins verwandelt. Stuttgart mit seinen einst pietistischen Sperrzeiten hat schließlich immer noch das Zeug zur geschlossenen Anstalt.
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Peter Hermann
am 10.11.2020