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Shitstorm

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Wer seine Kolumne "Auf der Straße" nennt, nimmt den Mund ganz schön voll. Was kann dieser Titel alles bedeuten. Kein Obdach zu haben, auf der Walz oder ein Musikant zu sein. Ein Köter oder ein Rebell.

Tatsächlich bin ich als Herumspazierer nicht nur unterwegs, relativ regelmäßig gehe ich auch auf die Straße. Nach wie vor, sagt der Historiker Philipp Gassert, brauchen wir "dieses inszenatorische Potenzial menschlicher Körper auf der Straße, damit Protest in der Breite wirksam wird". 2018 hat er, Professor am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim, seine Untersuchung der deutschen Protestbewegungen seit 1945 veröffentlicht.

Immer wieder mache ich mir über diese menschlichen Körper auf der Straße Gedanken und vermute, dass "dieses inszenatorische Potenzial" zu wenig ausgeschöpft wird.

Manchmal wirkt es buchstäblich komisch, wenn nach langer inhaltlicher Debatte zur Vorbereitung einer Kundgebung irgendein Loser im Orga-Kreis schüchtern die Hand hebt, um noch einen sogenannten Kulturbeitrag anzuregen. Dieser – auch von jungen Menschen verwendete – Bürokratenbegriff bezeichnet gewöhnlich den Einsatz von Live-Musik oder, wenn man Pech hat, den Vortrag eines selbst geschriebenen Gedichts zur emotionalen Lage der AktivistInnen.

Dass die Protestkultur das Zusammenspiel von rhetorischen und künstlerischen Mitteln braucht, um etwa mit der Ergänzung von Wort und Musik möglichst viel emotionale Energie zu erzeugen, wird oft ignoriert. Musikalische Beiträge gelten vielen als verzichtbare Pausenfüller oder schnöde Unterhaltungspupse zwischen politischen Inhalten und agitatorischen Versatzstücken. Diese Betrachtung hat unter Linken Tradition.

Auf meinen gelegentlichen, nicht unbedingt vor Ernsthaftigkeit strotzenden Hinweis, die Marseillaise sei für Frankreichs Revolutionäre so wichtig gewesen wie Schostakowitschs 7. Sinfonie für die Verteidigung Leningrads gegen Hitlers Wehrmacht, ernte ich in der Regel strafende Blicke wegen politisch sträflicher Pietätlosigkeit.

Und so höre ich demütig und belämmert zu, wie bei einem Protest auf dem Stuttgarter Karlsplatz gegen die verbrecherische Menschenverachtung von Moria direkt am Kaiser-Wilhelm-Denkmal Demo-Poesie verlesen wird. Vor unseren Augen erhebt sich ein kolonialistischer Arsch im Sattel, unter sich seinen Gaul mit einem weiteren gewaltigen Arsch, an dem wir sind, wenn wir den eigenen nicht schwungvoller hoch kriegen.

Solche Lebenserfahrungen gönnt mir die Straße, die mir noch mehr Geschichten erzählt, seit ich vor Jahren ein kleines Nikon-Fernglas gekauft habe, um damit über die Schaufenster und die Gürtellinie der Stadt hinauszuschauen. Ich kann die Tauben auf den Dächern sehen. Man muss sein Sehrohr allerdings sehr diskret einsetzen, um nicht in den Verdacht zu geraten, in der zunehmenden Video-Überwachung der Stadt als antiquierter Spanner oder Spitzel unterwegs zu sein.

Ohne Fernglas bleibe ich prompt an einem Schaufenster in der Königstraße hängen. Zu sehen sind Frauen und Männer, lebensgroße Puppen, die in Trachtenklamotten stecken, wie sie jetzt beim Stuttgarter Volksfest auf dem Wasen getragen würden, wäre der Auftrieb nicht wg. Seuche abgesagt worden. Formieren sich die Trachten-Abteilungen bald auch ohne Volksfest als Armee des Grauens?

Zuletzt beförderte der Wasen ja vornehmlich den Rausch der Wir-sind-das-Volk-Feste. Vermutlich aber hat sich seit der Ausstrahlung der ARD-Serie "Oktoberfest 1900" auch die Leidenschaft für die wahren Brechreiz-Orgien enorm gesteigert, weil wir gesehen haben, dass du ohne systemrelevanten Mord und Totschlag niemals in den Besitz einer dieser gigantischen Sauf-Burgen auf dem Rummelplatz gelangst. Auch in diesem Geschäft gilt Clint Eastwoods Satz, den er in seinem Film "The Mule" als faltenreicher Rauschgiftkurier in der Villa eines Drogen-Bosses sagt: Wie viele Menschen muss man umbringen, um sich ein solches Haus leisten zu können?

Mit Rücksicht auf unsere kleine Gemeinde will ich den Biertempel jedoch im Dorf lassen und mich dem Alltag meines Kaffs zuwenden. Was für eine Freude, als ich auf der Internetseite der Stadt Stuttgart ein Bild vom Wasen sah, auf dem der Schultes Fritz Kuhn und der Polizeiminister Thomas Strobl ohne jede erkennbare Deeskalationsabsicht ein Fass anstechen. Das grüne Wasen-Fritzle trägt eine lange Schürze, als wolle es einen veganen Schlachthof eröffnen. Und CDU-Strobl, unser Knäbchen von Heilbronn, zeigt unter kurzer Lederhose seine nackten Beine, als müsse er gleich in den Ring steigen. Sein Auftritt erinnerte mich an das inszenatorische Potenzial einer Körperversion der Kelchstützen im geplanten S-21-Bahnhof, dem schwäbischen Kulturbeitrag beim Demonstrieren weltstädtischer Höhlenarchitektur.

Von den Dirndl und Lederhosen im Kaufhof-Schaufenster der Königstraße ist es nicht weit zur Ruine des einst von Paul Bonatz entworfenen Hauptbahnhofs. In seinen Mauern baut das Unternehmen Me and All ein Vier-Sterne-Hotel. Zu den potenten Teilhabern dieser Firma gehört bekanntlich der Schweinebaron Clemens Tönnies, der damit beweist, dass sich im Zombie-Kapitalismus die Branchen Schlachten und Ausschlachten in nichts nachstehen. Angesichts dieser Tatsache stelle ich mir wieder mal hoffnungslos die Frage, ob der Kapitalismus die Menschen abschafft oder umgekehrt.

Stilgerecht und wie immer zukunftsweisend wirbt die Deutsche Bahn im Innern des Bahnhofs für den "neuen Bonatz-Bau". Gerade so, als könne man eine mit dem Vorschlaghammer zertrümmerte Picasso-Skulptur als "neues Picasso-Werk" verkaufen. Die Hau-den-Lukas-Posen der Machos sind ja beileibe kein Alleinstellungsmerkmal des Rummelplatzes. Wie eh und je sind sie beliebt bei neoliberalen Kulturbarbaren, die ihre Maßloskrüge zum Maßstab für die Welt erheben.

Etwas schade finde ich, dass ein Graffiti-Triptychon der vom Kunstmuseum gesteuerten Aktion "Wände / Walls" ausgerechnet im Bahnhof nur auf den Straßenbereich der Verkehrspolitik zielt: Die Bilder zeigen zwei gelangweilte Tauben, die mit dem inszenatorischen Potenzial körpereigener Kacke gegen Autos demonstrieren. Das ist die wirkmächtige Arschbombe des Protests: ein wortloser Kulturbeitrag mit Geräuschen und Geruch.

Und so ziehe ich weiter durch die Straßen und fürchte beim Anblick jeder fetten Taube, dass der wahre Shitstorm aus heiterem Himmel kommt.


Joe Bauers Flaneursalon, die Lieder- und Geschichtenshow, gastiert am Sonntag, 18. Oktober um 19 Uhr im Theaterhaus Stuttgart. Karten hier.


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