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Gesinnungsgranaten

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Mit einem Bein war ich schon in Japan. Mein geplanter Ausflug hätte eigentlich der Stammbaumforschung in meinem privaten Migrationskosmos dienen sollen. Sensibel hatte sich der Samurai Bauer deshalb auf die Urlaubsreise nach Tokio, zum Fuji etc. mit einem Buch namens "Japanische Geistergeschichten" eingestimmt. In einer dieser Geschichten erfriert ein Wahrsager aufrecht stehend am Stamm einer Pinie.

Da alle Kolumnisten entweder Wahrsager oder wahre Besserwisser sind, schwante mir nichts Gutes, auch weil besagte Erzählung mit dem Sprichwort endet: "Uranaiyaminouyéshiradzu. – Jedes Schicksal kennt der Wahrsager; sein eigenes aber kennt er nicht."

Dann aber zwang mich die Weltseuche mit all ihrem Verschwörungsterror zu einem kleinen Kurswechsel: Der Tourist Bauer landete nicht auf dem Fuji, sondern im Kinzigtal. Genaugenommen in Gengenbach, einer rustikalen Gemeinde im Schwarzwald, übersichtlicher als Tokio, dafür hektischer.

Nicht nur Wahrsager können erahnen, dass sich in einer Gegend, in der die Bollenhüte erfunden wurden, am helllichten Tag mehr Geister herumtreiben als in den finstersten Nächten Japans. Schon vor meiner Ankunft war ich überzeugt, mir am Stamm einer verdammten Pinie den Tod zu holen. Angesichts des Klimawandels vielleicht nicht durch Erfrieren. Der Schwarzwald aber heißt nicht umsonst Schwarzwald.

Brennende Geisterzüge

Kaum war ich in Gengenbach aus der Eisenbahn gestiegen, verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, durch das Kinzigtal rase ein brennender Geisterzug. Der Lokführer sei abgesprungen, vielleicht mit dem Fallschirm. Der herrenlose Güterzug sei geradewegs auf dem Weg in die Hölle. Das war Kino: ein Runaway Train aus Hollywood, eigens für mich gelandet im Black Forest, um mir meine Rentnerferien in der Pampa ein wenig unterhaltsamer zu gestalten. Erst einen halben Kilometer nach Gegenbach konnte der Geisterzug durch eine Entgleisung gestoppt werden, die eilends angeheuerte Fachleute mit Hijacking-Kenntnissen erzwungen hatten.

Als anderntags die Nachricht kursierte, der in allen Verhören konsequent schweigende Lokführer sei nicht vom Zug geflüchtet, sondern überhaupt nicht an Bord gewesen, stellte ich meine Recherchen ein. Ich lass mir doch eine erstklassige Geistergeschichte nicht von den fragwürdigen Polizeiberichten der Mainstreampresse kaputt machen.

Nach diesem Vorfall mietete ich ein Fahrrad, um mich von der Eisenbahn unabhängig zu machen. Den Güterzug hatte ich noch nicht richtig verdaut, da ging der Schwarzwald-Terror erst richtig los. Diesmal ereignete sich ein Verbrechen, das eine noch viel größere Polizeiarmee samt Hubschraubern, Hunden und Spezialisten aus der Überlebensbranche in Gang setzte. Für mich gab es keine Zweifel: Randalierende Jugendliche aus Stuttgart, das viele US-Touristen für thecapitalofthe Black Forest halten, ziehen ihre Krawalle jetzt auf dem Land durch, weil sie die Langeweile in ihrer Provinzhauptstadt ankotzt.

Leider war meine Wahrsager-Prognose ein Schuss in den Ofen. In Wahrheit hatte ein Gespenst, das mit Pfeil und Bogen und Pistole im Dschungel lebte, ein vierköpfiges Polizeiteam entwaffnet – bevor es wieder in der Schwärze des Schwarzwalds untertauchte. Später entpuppte sich das Gespenst zu meiner Enttäuschung als ein Mann aus Fleisch und Blut, der rasch als "Waldschrat" berühmt, aber auch schnell verhaftet wurde.

Grüner Bruderkrieg in Gender-Star-Wars-Schlachten

Große Teile der Aufklärungsmedien waren danach bemüht, die bedingungslose Kapitulation des Polizei-Quartetts als tugendhaft und korrekt zu kommentieren. Dazu kann ich nichts sagen, da ich als Wahrsager nicht an der Betrachtung der Vergangenheit interessiert bin. Auch verweise ich auf eine gewisse Amnesie, weil ich in Gedanken an den Waldschrat mit meinem Mietfahrrad kopfüber eine Böschung hinunterstürzte. Zum Glück stand keine Pinie im Weg.

Den Geisterwald nach meinem Abenteuerurlaub endgültig hinter mir, geriet ich ausgerechnet in der anthroposophisch geimpften Dorfidylle Stuttgarts schon wieder zwischen die Terrorfronten regierungsgeiler Debattengeister. Mitten in unseren Gender-Star-Wars-Schlachten brach ein Bruderkrieg aus, als der noch amtierende grüne Schultes Kuhn mitteilte, er wolle in Amtsschreiben alle "sehr geehrten Damen und Herren" künftig als "sehr geehrte Menschen" anreden. Und überhaupt.

Prompt tobte der grüne Landesfürst Kretschmann, dies sei, tatütata, ein klarer Fall von "Tugendterror". Dieser schwachsinnige Begriff ist unter Tugendbolden vor allem deshalb in Mode, weil sich aufgrund derselben Buchstaben am Anfang der kombinierten Wörter eine Alliteration, also ein Stabreim ergibt. Eine solche Konstruktion aus dem Dummdeutsch-Duden gilt als ziemlich wirkmächtig im Wahlkampf, vor allem unter Waldschraten und Rechten.

Es empfiehlt sich deshalb, die Stabreim-Propaganda in der herrschenden Populismus-Pandemie zu erweitern: Werfen wir angesichts des Tugendterrors noch heute Gesinnungsgranaten und Bewusstseinsbomben, damit die Haltungsethik-Havarie ein Ende hat, bevor uns der Gutmenschen-GAU zu atomaren Selbstmordattentaten zwingt. Die Alliterations-Armee muss marschieren, um die Denk-Diktatur der Sternchenkrieger*innen zu bekämpfen. Nieder mit dem Tugendterror, dieser Anstandsattacke auf den gesunden Menschenverstand. Dahinter steckt doch nichts anderes als das Samariter*innen-Syndrom, die Moral-Martialität, die Helfer*innen-Hysterie.

Meine Stabreime hatte ich noch nicht eingetütet, da verlautbarte bereits ein OB-Bewerber aus den schwarzen Hinterwäldern Backnangs, beim Tugendterror des Kollegen handele es sich um "hysterische correctness". Allerhöchste Formulierungskunst in diesem Schreiben bewies der CDU-Kandidat namens Nopper dann mit der Forderung: "schaffen statt gendern". In der heimischen Version: "schaffa statt dschendra". Dieses nicht ganz stabreimtaugliche Motto ist in etwa so geistreich wie "schwitzen statt denken" oder "Gurken hobeln statt poppen".

Zuvor schon war Meister Nopper als Rhetorik-Rastelli mit einem Video aufgefallen, das keinem Parodisten (und keiner Parodistin) gelingen würde: In einer Rede ohne Publikum im Netz über ein ausgefallenes Backnanger Straßenfest schaffte er es, in 3:39 Minuten 27-mal das Wort "Straßenfest" aus den Zähnen ins Nichts zu quetschen. Dagegen verblasst jede Hookline aus dem Handbuch der hysterischen Correctness. Beim Anschauen dieses Videos aus der Geisterstadt Backnang spürte ich eine Gänsehaut, als würde ich am Stamm einer Pinie im Stehen erfrieren.

So geschah es. Ende.


Alle paar Wochen stürzt sich Joe Bauer für Kontext ins Straßenleben. Lustvoll folgt er dabei seinem Mantra als Fußreisender: lieber zu weit gehen als gar nicht.


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1 Kommentar verfügbar

  • FraTrerno
    am 12.08.2020
    Antworten
    Super Video, das. Selten so breit geschmunzelt wie über diese Strassenfesteloge und die Erfinder des ersten Strassenfestes überhaupt. Aber, was bitte ist ein "Riesel", den man nicht hängen lassen soll (Doch nicht etwas 'was schlüpfriges?) und was ist das für ein Gerät hinter dem sich dieser…
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