Am Oberen Marktplatz in Laupheim klafft seit neun Monaten ein großes Loch. Aus dem bis dahin komplett erhaltenen Ensemble historischer Bauten fielen zwei der Abrissbirne zum Opfer. Dabei hatte eine Initiative beim Heimatfest kurz zuvor mehr als 2.000 Unterschriften für den Erhalt gesammelt – das sind ungefähr zehn Prozent der Stadtbewohner. Die Stadt ließ nichts anbrennen: Wenige Tage, nachdem der Initiativkreis Oberer Marktplatz die Petition eingereicht hatte, war das Dach abgedeckt. Bis Monatsende war von dem im Jahr 1816 erbauten Gasthof Adler samt Anbau nichts mehr zu sehen.
Laupheim
Schluss mit Abriss – eine Stadt wacht auf
Fotos: Joachim E. Röttgers
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"Laupheim hat das Glück, von Kriegszerstörungen verschont geblieben zu sein", sagt Margareta Fopp. "Jahrzehntelang hat man sich bemüht, das Stadtbild zu erhalten. Jetzt scheint das alles nichts mehr zu gelten." Fopp, so nennt sie sich selbst, nach ihrem Mann. Die Laupheimer sagen Frau Eble. Die Ebles sind eine alte Laupheimer Familie. Fopp-Eble ist Mitinhaberin des Hotels Krone am Oberen Marktplatz. Als Laupheimerin, die in München lebt, fällt ihr besonders auf, wie sich das Stadtbild verändert.
Fopp-Eble ist Sprecherin des Initiativkreises Oberer Marktplatz. Aber nicht deshalb hatte sie sich Anfang des Jahres bei Kontext gemeldet. Das Laupheimer Rathaus, entworfen 1968 von Roland Ostertag und Mitte der 1970er-Jahre erbaut, sollte ebenfalls verschwinden. Der quadratische Stahlbetonskelettbau mit olivgrüner Vorhangfassade und gelben Markisen steht durchaus in einem sperrigen Kontrast zur historischen Bebauung. Doch der Bau habe eigene Qualitäten, findet Fopp-Eble. Und schließlich: Muss man, was vor nicht einmal fünfzig Jahren gebaut wurde, schon wieder abreißen?
"Die Leute hier waren sich nie ganz sicher: Ist das nun etwas Besonderes oder nur etwas Neues?", bemerkt Friedrich Börschel, Architekt, 80 Jahre alt. Im Büro Urban Mann hat er 1968 bereits einen Konkurrenzentwurf abgegeben, muss jedoch neidlos anerkennen, dass der von Ostertag besser war. Nun hat die Stadt im vergangenen Jahr wieder einen Architekturwettbewerb ausgeschrieben. Ob sie den Bau erhalten oder neu bauen wollen, überließ sie den Teilnehmern. Von 26 Büros entschieden sich neun für Erhalt, 17 für Abriss. Den ersten Preis erhielt das Freiburger Büro K9 Architekten mit einem Neubau. Damit schien das Schicksal des Ostertag-Baus besiegelt.
Nun aber ist in beide Angelegenheiten noch einmal Bewegung gekommen. Gegen die Dimensionen der Neubauten am Oberen Marktplatz, die sieben Meter über den Bestand hinausragen sollen, hat der Initiativkreis eine zweite Petition eingereicht. Der Bauherr, die Genossenschaft für Wohnungsbau Oberland (GWO) mit Sitz gleich gegenüber, argumentiert mit Wohnraumbedarf. Geplant ist ein Wohn- und Geschäftshaus. Die Stadt verschanzt sich hinter juristischen Argumenten. Der Bebauungsplan gestatte drei Vollgeschosse, daher müsse sie dem Baugesuch stattgeben. Unter dem Dach sei beinahe noch ein weiteres Geschoss geplant, wendet der Initiativkreis ein.
Sollte es aber nicht auch um die Gestalt des historischen Ortskerns gehen? Einen Ensembleschutz gibt es nicht: Eine hohe städtebauliche Qualität sei nicht mehr in ausreichendem Maß vorhanden, urteilt das Denkmalamt. GWO-Vorstand Jörg Schenkluhn spricht dem geplanten Bau eine "hohe städtebauliche Qualität" zu. Wer sich ansieht, was die GWO aus ihrem eigenen Bau gegenüber gemacht hat, kann da Zweifel bekommen: Dass es sich überhaupt um einen Altbau handelt, ist kaum noch zu erkennen.
Dennoch: Das Rathaus steht noch. Durch die Corona-Krise kam es zu einem Aufschub. Nun wollte Oberbürgermeister Gerold Rechle Nägel mit Köpfen machen und ließ den Gemeinderat erneut über Erhalt oder Abriss abstimmen. Er selbst vertrat die Ansicht, ein Neubau sei "die beste und wirtschaftlichste Lösung." Doch der Gemeinderat traute den Rechnungen nicht und stimmte am 20. Juli mit zwei Stimmen Mehrheit für den Erhalt.
Knappe Entscheidung gegen Rathausneubau
"Ich bin enttäuscht und überrascht über die knappe Entscheidung gegen einen Rathausneubau", bedauert Rechle nun auf Kontext-Anfrage. "Wir haben nun zwar eine Grundsatzentscheidung gegen einen Neubau, aber nicht wirklich mehr Klarheit, da von der Mehrheit nicht umrissen werden konnte, wie es nun konkret weitergehen soll." Es rumort in Laupheim. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Burkhard Volkholz ist zurückgetreten, unter anderem wegen der "Kräfte zehrenden" Debatte. Er selbst hat sich als Einziger enthalten. Harald Rothe von den Freien Wählern, Abriss-Befürworter, ist aus der Wählervereinigung ausgetreten und will den Gemeinderat verlassen.
Börschel dagegen begrüßt die Entscheidung. Er scheint jedes Haus in Laupheim zu kennen. An der Baupolitik der Stadt lässt er kein gutes Haar. Um zu zeigen, was alles schiefläuft, hat er für Kontext ein Zwei-Tages-Programm ausgearbeitet und ist enttäuscht, dass wir noch am selben Tag wieder abreisen.
Der Rundgang beginnt am Schlossberg. Gleich hinterm Hotel Krone geht es hinauf zum Schloss Großlaupheim. Auf dem Dach der Kronenbrauerei nistet ein Storchenpaar. Das Hospital zum Heiligen Geist ist ein großer weißer Kasten, der den Blick auf die barocke Stadtpfarrkirche Sankt Peter und Paul verstellt, wie Börschel moniert. Das heutige Kulturhaus war früher nur eine Scheune. Den Umbau hat er mitverantwortet.
Im Schloss befindet sich seit 1998 das Museum zur Geschichte von Christen und Juden. 200 Jahre lang hatte Laupheim die größte jüdische Gemeinde Württembergs. Museumsdirektor Michael Niemetz gibt für Kontext eine kleine Privatführung. Um 1730 siedelte der Ortsherr Carl Damian von Welden erstmals jüdische Familien an – aus wirtschaftlichen Gründen. Ein Jahrhundert später erließ König Wilhelm I. ein Emanzipationsgesetz. Die Juden waren den Christen nun gleichgestellt. 1933 endete das Miteinander. 126 Laupheimer Juden konnten emigrieren, 64 wurden deportiert und ermordet. Keiner kehrte nach Laupheim zurück.
Diese Geschichte lässt Laupheim nicht los. Lange hat es gedauert, bis sie, über eine kleine Abteilung im Heimatmuseum hinaus, wieder ins Bewusstsein rückte. Der berühmteste Sohn der Stadt, der jüdische Unternehmer Carl Laemmle, war Gründer der Universal Film Studios und damit Mitbegründer von Hollywood. An ihn erinnerte 2016/17 eine Ausstellung im Stuttgarter Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Seither gibt es den Carl-Laemmle-Preis für Filmproduzenten. Auch die Unternehmerfamilie Steiner ragte auf vielen Gebieten heraus. Kilian von Steiner erwarb 1894 das Schloss. Hop Steiner, die größte Hopfenhandlung der Welt, befindet sich heute in New York.
Gretel Bergmann wäre 1936 wohl Olympiasiegerin im Hochsprung geworden, wenn sie von den Nazis nicht ausgeschlossen worden wäre. Der Jugendstilkünstler Friedrich Adler verpasste die Chance zur Emigration und wurde 1942 in Auschwitz ermordet. Siegfried Einstein, Sohn der Besitzer des gleichnamigen Warenhauses, des herausragenden Gebäudes aus dem frühen 20. Jahrhundert am Unteren Marktplatz, verarbeitete als Schriftsteller die Ereignisse.
Rolf Müller, früher Leiter des Liegenschaftsamts und Stadtarchivar, heute Vorsitzender des Verkehrs- und Verschönerungsvereins (VVL), übernimmt in der Stadtpfarrkirche die Führung. Von dort aus geht es hinüber zum Judenberg. Wo sich bis 1938 die Synagoge befand, steht heute eine Baptisten-Kirche, davor eine Gedenktafel. Ein Stück weiter befindet sich der jüdische Friedhof: mit 1.200 Gräbern und nicht ganz 1.000 Grabsteinen eines der bedeutendsten Zeugnisse jüdischer Geschichte im Lande.
Judenberg - so heißt die Straße, aber auch das Quartier, in dem sich seit 1731 jüdische Familien niederließen. Die kleinen Häuser lassen kaum vermuten, dass einige der Bewohner ziemlich wohlhabend waren – ein Grund dafür, dass vielen von ihnen die Emigration gelang. In der Nazizeit "arisiert", haben die Häuser in den letzten 80 Jahren vielfach den Besitzer gewechselt.
Michael Bronner, Hersteller von Naturkosmetik und Bio-Seifen aus Kalifornien, hat kürzlich das Haus am Judenberg 2 zurückerworben, in dem sein Unternehmen 1858 entstand. Er möchte das Haus sanieren und ein wenig vergrößern. Nummer 6/8 nebenan droht der Abriss. Börschel kritisiert, die Planungen seien dem Maßstab der Gebäude auf der anderen Seite der Häuser angepasst, nicht aber an die kleineren Häuser am Judenberg.
Das Problem ist: Zwar steht das Ensemble seit 1994 unter Denkmalschutz, aber eben nicht alle Häuser. Dazu gehört das Haus Nummer 16, das der Verschönerungsverein im Jahr 2000 erworben hat. Die Doppelhaushälfte, 1734 entstanden, zählt zum ältesten Bestand der Siedlung. Landesdenkmalamt, Denkmalstiftung und mit 5.100 Euro auch die Stadt Laupheim halfen dem VVL, die mit 165.000 Euro veranschlagten Kosten zu stemmen. Liebevoll hat der Verein Schicht um Schicht der Wände und Böden freigelegt, um möglichst viel zu erhalten. Der Architekt heißt Friedrich Börschel. Der VVL möchte hier eine kleine Ausstellung zur Geschichte des Judenbergs einrichten.
Die beiden zuerst erwähnten Häuser gehören dagegen nicht zum denkmalgeschützten Ensemble. Ebenso wenig das ehemalige Rabbinat im Synagogenweg 1 und ein Nachbargebäude, die nun beide abgerissen werden sollen. Das Viertel ist eine Goldgrube. In den letzten vier Jahren sind die Immobilienpreise um 50 Prozent gestiegen.
Ähnlich verhält es sich mit der ganzen Stadt. Laupheim, Stadt erst seit 1869, ist in der Nachkriegszeit von 10.000 auf über 20.000 Einwohner gewachsen. 20 Kilometer von Ulm entfernt, Standort erfolgreicher Unternehmen, als Wohnort beliebt, will die Stadt weiter wachsen, doch es fehlt an Bauland. Eines nach dem anderen verschwinden die historischen Gebäude, die den Krieg unbeschadet überstanden haben, aber auch neuere sind nicht gefeit. Im Gemeinderat säßen viele Handwerker, die sich über Bauaufträge freuen, sagt Margareta Fopp. Widerstand kann nur aus der Zivilgesellschaft kommen.
3 Kommentare verfügbar
Dirk
am 22.08.2020