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Kapitän Thomas Nuding

Zuerst ertrinken die ganz unten

Kapitän Thomas Nuding: Zuerst ertrinken die ganz unten
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 Fotos: Laurenz Bostedt 

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Thomas Nuding ist Kapitän der Sarah, einem Schiff der zivilen Seenotrettung. Er lebte ein Heile-Welt-Leben im oberschwäbischen Meßkirch, bis der damalige CSU-Innenminister Horst Seehofer ihn zum Aktivisten werden ließ. Kommen genug Spenden zusammen, läuft sein schnelles Boot wieder aus.

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Die Wellen des Atlantiks sind zwölf Meter hoch: Novembersturm in der Biskaya. Wie eine Katze, die eine Maus zwischen ihren Pfoten hin und her schubst, spielt das Meer mit dem Schiff. Thomas Nuding indes baut unter Deck die Elektronik ein. Dafür hatten sie in der Werft in La Rochelle keine Zeit mehr, also musste er es auf offenem Meer richten und das Schiff nach Gran Canaria fahren, der Yachtbesitzer hatte es bereits weiterverchartert. "Megastressig und saugefährlich", sagt Thomas über diesen Auftrag heute. Und er sagt es in einer Ruhe, die dem Geschehen nicht gerecht wird. Denn mal ehrlich, bei der Aktion hätte viel schiefgehen können. Doch darüber hat er sich damals keine Gedanken gemacht, ist nicht in Panik geraten. Thomas funktioniert unter Druck am besten. Thomas Nuding ist Kapitän der Sarah. Einem Schiff der zivilen Seenotrettung.

Oberes Filstal, eine Scheune irgendwo dort. 500 Mark hat das alte Motorboot gekostet, an dem er mit Kumpels Mitte der 1980er-Jahre bastelte. "Die Landratten" hatten sich ganz schön was vorgenommen. Auf den Gardasee wollten sie, es dort zu Wasser lassen, wenn es fertig ist. Es ist Thomas' erster Kontakt mit einem Boot, gefolgt vom ersten Gefühl auf einem Boot zu Wasser, auf dem Max-Eyth-See in Stuttgart. Für ihn, der seit Jahrzehnten auf dem Meer unterwegs ist, im Rückblick "ein Tümpel". Nun, jeder fängt mal klein an. Um die Liebe zum Wasser zu entfachen, reicht oft sogar eine Pfütze aus. Auf dem Tümpel hat Thomas das Fahren von Booten gelernt und das Dichtholen von Segeln – das macht ein Geräusch, als würde man kräftig die Bettdecke aufschütteln.

Urlaub auf einem Stahleimer

Im April 2016 las Thomas im Newsletter der Studentischen Segelgemeinschaft Stuttgart e.V. etwas über die Arbeit der Sea-Watch 1 und Sea-Watch 2. Darin ein Aufruf, dass sie Freiwillige suchen. Thomas war in den letzten Jahrzehnten so oft wie nur möglich auf dem Wasser, um das Leben zu spüren, aber nicht, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Er hat beim Regattasegeln auf dem Bodensee teilgenommen, die Adria, das Mittelmeer, das Karibische Meer, den Atlantik, den Pazifik und die Ostsee besegelt. Was Seenotrettung bedeutet, also so wirklich, dass da Menschen auf dem offenen Meer um Hilfe schreien, so laut, dass es keinen Wind braucht, um die Stimmen über das Wasser zu tragen, dass für viele aber auch die Hilfe zu spät kommt – Thomas hatte keine Ahnung. "Schwäbisch wie ich bin, dachte ich mir, das hört sich gut an, ist wie ein Urlaub, und man tut auch noch etwas Gutes und es kostet nichts. Ich wusste bis dahin gar nicht, was da im Mittelmeer abgeht", sagt er.

Also bewarb Thomas sich bei Sea-Watch und drei weiteren Organisation, darunter Sea-Eye. Sea-Eye waren dann auch die ersten, die sich zurückmeldeten. Sie hätten auf ihrem Schiff noch eine Position, die frei sei: Sie suchten einen Kapitän.

Es war Oktober und Thomas in Malta. Mit den anderen Freiwilligen bereitete er sich auf den ersten Einsatz vor. "Zu wenig", sagt er heute. Und dort, im Hafen von Malta, sah er auch das erste Mal das Schiff, das er steuern sollte. "Ein 26,5 Meter langer Stahleimer", sagt Thomas. Ein Fischereischiff aus der DDR-Zeit. Sechs Zylinder, 300 PS. Das nach oben gehende Abgasrohr war riesig, ständig pustete es Rußpartikel in die Luft, sodass die Crewmitglieder an Deck die Tassen mit der Hand abdecken mussten, damit das Zeug nicht im Kaffee landete. Und er war jetzt der Kapitän von diesem alten Ding, von dem er sagt: "Da konnte man wenig kaputt machen."

Erinnerungen an eine Scheißsituation

Die Fahrt von Malta Richtung Libyen dauerte 30 Stunden. Kurz vor Libyen morgens um halb acht sah die Crew drei Boote mit insgesamt über 400 Menschen darin. Die Boote hatten keine Motoren mehr. "Kleine Fischerboote mit bewaffneten Personen sind den Booten mit den Geflüchteten hinterhergefahren, haben sie zum Anhalten gezwungen und ihnen die Motoren abgenommen und sind wieder zurück zur Küste gefahren. Die Motoren haben die 'Engine-Fisher', die 'Motoren-Fischer', dann zu den Schleusern zurückgebracht und dafür Geld bekommen, so läuft das", sagt Thomas. Auf 400 Meter fuhr die Sea-Eye ran und nahm Kontakt zum MRCC-Rom auf, der Seenotrettungsleitstelle der Seegebiete um Italien, und bat um Unterstützung. "Ich bin davon ausgegangen, dass sie ein Schiff schicken", sagt Thomas und schiebt die Papiere vor sich auf dem Schreibtisch zusammen. Immer wieder tut er das, als lägen statt der Papiere seine Erinnerungen auf dem Tisch. Als müsse er sich an ihnen festhalten, sie richten und glattstreichen. Nur selten hebt er den Blick, eigentlich erst, als er mit erzählen fertig ist. Mit den Gedanken war Thomas nicht hier in seinem Büro in seinem Wohnhaus in Meßkirch, einer Kleinstadt im Landkreis Sigmaringen, sondern draußen auf dem Mittelmeer.

Seine Liebe zum Segeln und zu seiner Arbeit für die Seenotrettung ist auch in seinem Büro nicht zu übersehen. Auf dem Tisch liegen Flyer, er selbst trägt ein Shirt, auf dem der Schriftzug "SARAH" in einem Rettungsring zu lesen ist, an der Wand Bilder von Segelschiffen, selbst das Hintergrundbild auf seinem Desktop zeigt ein Segelschiff. "Um zwölf Uhr", sagt Thomas und ist wieder auf dem Mittelmeer, "wurde es zunehmend eine Scheißsituation für die Menschen." Mit den Einsatzschlauchbooten fuhr die Crew immer wieder vom "Stahleimer" zu den hilflosen Menschen in ihren Booten, sie brachten Wasser und beruhigende Worte, baten um Geduld und wussten selbst nicht, um wie viel Geduld sie bitten mussten.

Irgendwann entschied die Crew, zwei Plastikfässer, die mit CO2 gefüllt waren und sich zu Rettungsinseln aufblasen ließen, ins Meer zu lassen und mit Seilen am Mutterschiff anzubinden. Ein Provisorium. Denn die Sea-Eye konnte unmöglich alle Menschen aufnehmen. Die Crew brauchte selbst Hilfe, um helfen zu können. Doch was ist, wenn niemand zu Hilfe kommt? Wenn du da draußen die Entscheidung treffen musst, wen du zurücklässt? Wie alt muss ein Mensch sein, um noch als Kind zu gelten, wenn es heißt: Frauen und Kinder zuerst? Und wer will das entscheiden?

Ausdruck der Menschlichkeit

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags schreibt in seiner Kurzinformation der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Seenotrettung unter anderem: "Die Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot ist als Ausdruck der Menschlichkeit tief verankert in der Jahrhunderte alten maritimen Tradition und gilt gemeinhin als ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht. Sie gilt in jedem Bereich der See. Der klassische Fall einer Seenotrettung betraf Seefahrer, die auf ihrer Route mehr oder weniger zufällig Schiffe in Gefahr antrafen. Seefahrer, die hingegen aufbrechen, um gezielt nach Schiffbrüchigen zu suchen (wie im Falle der privaten Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer), unterliegen jedoch denselben gewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen. Denn auch sie sind an die humanitären Prinzipien der Seenotrettung gebunden."

Am späten Nachmittag jenes Tages hatte Thomas seinen "Aha-Moment", wie er es nennt. Er war gerade oben auf der Brücke eine rauchen, als ihm klar wurde: Die Italiener, sie werden nicht zu Hilfe kommen, er und die Crew sind alleine mit diesen vielen Menschen, die nicht alle auf ihr Schiff passen. Plötzlich schrie eine Frau: "Meine Freundin bekommt ihr Kind."

Es wurde dunkel. "Ich sah auf dem Radar, dass das deutsche Seenotrettungsschiff 'LifeBoat Minden' aus dem Osten kam, und funkte sie an", sagt Thomas. Anders als die Italiener kam ihnen die LifeBoat zu Hilfe. Die beiden Seenotrettungsschiffe teilten die Geflüchteten auf, nahmen sie an Bord und fuhren los, in die Nacht hinein Richtung Lampedusa, langsam, denn das Meer war wild und aufgewühlt. 

Bei diesem Einsatz konnten alle Menschen gerettet werden. Das ist nicht selbstverständlich. Der Tod gehört zur Seenotrettung dazu. Solange Menschen sich auf den Weg machen müssen, um Krieg und Hunger, Zerstörung und Leid zu entfliehen, ist das Sterben für viele der Preis für die Hoffnung auf Leben.

Seenotrettung in Not

Thomas beugt sich nach vorne und bewegt die Computermaus, das Segelschiff auf seinem Desktop taucht auf, er klickt auf einen Ordner, ein Foto erscheint. Darauf ist ein Junge in den Armen seines Vaters zu sehen, der leblose Körper des Kindes hängt schlaff durch. Im Hintergrund ein Holzboot. Thomas zeigt auf das Foto und erklärt, dass die Holzboote, auf denen die Geflüchteten sich auf den Weg machen, oft drei Etagen hätten. Als erstes kommt der Rumpf, der mit Menschen beladen wird. Über die Köpfe dieser Menschen wird ein Deckel geschoben. Er dient als Boden für diejenigen, die dann aufs Boot kommen. Auch sie verschwinden unter einem Deckel. Und darauf stehen dann die Menschen, die man sieht. Wenn Wasser ins Boot läuft, sagt Thomas, ertrinken erst die ganz unten. Sie klopfen an die Decke, während das Wasser in den Rumpf läuft, bis das Klopfen irgendwann aufhört. "Ich versuche immer, an die zu denken, die wir retten konnten", sagt Thomas, "an die, die wir noch retten werden. Für mich ist das Glas immer halb voll," sagt er und klickt das Foto weg.

Thomas, so erzählt er es, war nie besonders politisch oder aktivistisch unterwegs. Aufgewachsen im gutbürgerlich Schwäbischen, hat er Ver- und Entsorgungstechnik studiert, später sein eigenes Unternehmen gegründet und sich bei den Freien Wählern im Ort engagiert. "Horst Seehofer hat mich zum politischen Handeln motiviert und meinen Linksschwenk in der Politik und meinen Aktivismus bestärkt", sagt Thomas.

Während im Sommer 2018 die Welt vor den Fernsehern saß und die Fußballweltmeisterschaft der Männer verfolgte, eskalierte die Situation für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer. Eine Hafenblockade führte dazu, dass die "Lifeline" mit 235 Geflüchteten an Bord neun Tage vor der maltesischen Küste stand und nicht in den Hafen einlaufen durfte. Thomas war damals der Einsatzleiter der Mission. In einer kurzfristig anberaumten Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag tobten die Vertreter:innen der Linken und der Grünen. Abgeordnete beider Parteien hatten sich zuvor selbst ein Bild von der Lage vor Ort gemacht, darunter der damalige Linken-Bundestagsabgeordnete Michel Brandt aus Karlsruhe. In seiner Rede sagte er in Richtung des Bundesinnenministers: "Sie reden von europäischen Werten und Menschenrechten, während Leichen an die Mauern von Europa gespült werden." Für ein gutes Wahlergebnis in Bayern opfere er Menschenleben.

Über Sarah-Seenotrettung

Die Sarah ist eine ehemalige Luxusyacht, ihre Crew hat sie zu einem besonders schnellen und leistungsstarken Rettungsschiff umgebaut. Seit Ende Juni 2024 ist sie auf Rettungseinsätzen im Mittelmeer unterwegs. Pro Einsatz tankt sie 35.000 Euro Diesel, die Anreise der ehrenamtlichen Crew muss bezahlt werden, Verpflegung, Hafenliegegebühr, Haftpflichtversicherung, die überfälligen Reparaturen. Acht dreiwöchige Einsätze will die Besatzung im kommenden Jahr fahren. Ihr Träger Sarah gUG, eine gemeinnützige Unternehmergesellschaft, ruft deshalb hier zu Spenden auf. Mehr Info unter sarah-seenotrettung.org.  (ro)

Letztendlich war es der Druck aus Politik und Zivilgesellschaft, der die Blockade aufhob und Hunderten Geflüchteten das Leben rettete. Eine bundesweite politische Bewegung entstand, die "Seebrücke". Seitdem hat sich politisch auf europäischer Ebene und in Deutschland der Wind gedreht. Die aktuelle Bundesregierung hat die Zuschüsse gestrichen, die zivile Seenotrettung ist in Not geraten.

Die Lage ist ernst. Statt auf dem Mittelmeer zu sein, sitzt der Kapitän der Sarah in seinem Büro in Meßkirch. Das Rettungsschiff muss dringend repariert werden, aber es fehlt das Geld dafür. Deshalb liegt es seeuntauglich im Hafen von Licata an der Südküste Siziliens. Unterdessen sind Geflüchtete in Booten auf dem Mittelmeer unterwegs und hoffen auf Hilfe. Thomas schiebt die Papiere von sich weg. Er schaut auf und zündet sich eine Zigarette an. Er sollte nicht hier sitzen.

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