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Chris Grodotzki, "Kein Land in Sicht"

40.000 leben weiter

Chris Grodotzki, "Kein Land in Sicht": 40.000 leben weiter
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 Fotos: Chris Grodotzki 

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Vor zehn Jahren startete Sea-Watch Rettungsmissionen für Geflüchtete im Mittelmeer. Der Fotograf und Journalist Chris Grodotzki begleitete das Projekt von Anbeginn zu Land und zu See. Zum Jubiläum veröffentlicht er ein Buch, das bislang unbekannte Einblicke bietet. 

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Etwas Außergewöhnliches muss passiert sein, wenn sich die Springer-Presse für Menschlichkeit begeistert. "Das war nicht peinlich, sondern stark", bilanzierte die "Welt", nachdem eine Sendung der ARD-Talkshow "Günter Jauch" eine überraschende Wende genommen hatte: Im April 2015 – gerade waren bei einem Unglück im Mittelmeer mindestens 844 Menschen ertrunken – fragt Moderator Jauch: "Das Flüchtlingsdrama: Was ist unsere Pflicht?" Eingangs verläuft die Diskussion erwartbar. Der Ex-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) will Schleusern entschlossen das Handwerk legen; Roger Köppel, Chefredakteur der rechtspopulistischen Schweizer "Weltwoche", verortet die Schuld für die Todesfälle bei "politischen Eliten", die illegale Migration nicht unterbänden. Den Kontrapunkt verkörpert Heribert Prantl. Er prangert um diese Zeit in seinen Kolumnen für die "Süddeutsche Zeitung" an, Europa schütze sich "vor Flüchtlingen mit toten Flüchtlingen". Das Urteil des Juristen: "Diese Union tötet; sie tötet durch Unterlassung, durch unterlassene Hilfeleistung."

Die Gäste auf dem Podium beharken sich also mit bekannten Standpunkten, "Jauch ließ die Streithähne weitgehend machen, so geht Debatte in Deutschland", rezensiert der "Spiegel". Aus den gewohnten Bahnen gerät der TV-Abend erst, als zum Ende der Sendung hin Spezialgast Harald Höppner eingeführt wird: als Mann, der ein Schiff – die Sea-Watch – gekauft hat und losfahren will, um Menschen in Seenot zu retten. Jauch fragt süffisant, ob das uralte Fischerboot denn überhaupt seetauglich sei. Doch der Gast geht darauf nicht ein, fordert stattdessen eine Schweigeminute und setzt sie gegen Widerworte des Moderators durch: "Deutschland sollte eine Minute Zeit haben, um dieser Menschen zu gedenken. Jetzt. Bitte." Das macht so viel Eindruck, dass sogar Köppel die Klappe hält.

Neu für die Öffentlichkeit ist, was anschließend hinter der Bühne geschieht: So habe Jauch nach der Sendung gegenüber Höppner beklagt: "Sehr schade, dass Sie die kostbare Sendezeit nicht genutzt haben, um Ihr tolles Projekt vorzustellen." Höppners Antwort: "Aber Herr Jauch, das machen doch morgen alle anderen Medien." Nachzulesen sind die Szenen in "Kein Land in Sicht", ein Buch, das der Fotograf und Journalist Chris Grodotzki zum zehnjährigen Jubiläum des Projekts Sea-Watch verfasst hat. Tatsächlich sollten die überwiegend sehr wohlwollenden Presseberichte nach der Jauch-Sendung den Bekanntheitsgrad des damals noch jungen Projekts schlagartig steigern. Zum Zeitpunkt der Sendung hatte die Sea-Watch keinen einzigen Rettungseinsatz durchgeführt, sie schipperte nahe Helgoland durch die Nordsee, mit einer hochnervösen Besatzung: "Das Signal erreicht sie nur mit mehreren Minuten Verzögerung", beschreibt Grodotzki. "Als Jauch bei ihnen gerade erst zu Harald geht, trudeln die ersten SMS von Journalist:innen ein, mit Bitten um Kommentare zur Schweigeminute. Noch ist unentschieden, in welche Richtung sich die Berichterstattung drehen wird."

Als Sahra ins Schlauchboot stieg

Anfangs sieht es nicht gut aus. "Der erste Kommentar war vom Focus", erinnert sich Sea-Watch-Mitgründer Ruben Neugebauer im Buch: "Das weiß ich noch, weil mir das Herz in die Hose gerutscht ist auf dem Schiff. Da war der Tenor eher: 'peinliche Schweigeminute'. Das haben sie hinterher gelöscht und ersetzt durch einen anderen Kommentar, der nicht so negativ war." Was vielleicht auch an der guten Vorbereitung lang: "Denn die ebenfalls schnell erschienenen Artikel eingeweihter Journalist:innen", schreibt Grodotzki, "und die vielen positiven Kommentare in den sozialen Medien rissen das Ruder noch rum."

Das gesellschaftliche Klima war sehr anders zu dieser Zeit. Springers "Welt" kanzelte rechte Abschottungsideen à la Friedrich und Köppel als "vollkommen absurd" ab. "Was bedeuten diese Toten? Was verlangen diese Toten?", fragte der "Spiegel" und beantwortete es mit der Überschrift: "Knackt die Festung Europa!" Sahra Wagenknecht, damals noch Chefin der Linken, stieg vor dem Bundestag in orangener Warnweste in ein Gummiboot, um auf engstem Raum mit 120 anderen nachzufühlen, wie sich wohl ein Mensch auf der Flucht fühlen muss.

Inzwischen erscheinen im "Spiegel" auch Beiträge, in denen etwa der Futurist Alex Steffen mit Blick auf hitzebedingt unbewohnbar werdende Erdregionen ausbreitet, dass die "halbwegs klimarobusten" Flecken zum "Flaschenhals" würden. Ohne Triage werde es nicht gehen. Dann gebe es Orte wie Manhattan, "in denen sich Geld, Macht und Kultur konzentrieren, die werden um fast jeden Preis verteidigt." Die "Welt" lässt indessen den reichsten Faschisten der Welt Wahlwerbung für eine rechtsextreme Partei machen. Und im Programm zur Bundestagswahl verwies das Bündnis Sahra Wagenknecht unter dem Zwischentitel "Sichere Grenzen, sichere Straßen" auf die Anzahl der von Asylbewerbern verübten Sexualdelikte.

Für Grodotzki ist die Entwicklung ein Grund zu reflektieren, berichtet der 36-Jährige im Gespräch mit Kontext. Die Verwirklichung politischer Ansprüche, etwa die Forderung nach sichereren Fluchtrouten, würde zuletzt in immer weitere Ferne rücken, da müsse sich die Bewegung schon fragen: "Sind wir in eine Sackgasse gelaufen?" Am Sinn und Zweck, Menschenleben zu retten, zweifelt er nicht. Aber es gehe ihm auch darum, "die Strategien und Taktiken, die wir angewendet haben, die Organisationsformen, zu überprüfen: Haben wir da Erfolge gezeigt? Aus welchen Fehlern können andere Bewegungen lernen?" Daneben sei eine weitere Motivation, endlich "die ganzen verrückten Geschichten aus den ersten Jahren aufzuschreiben, die man damals niemandem so richtig erzählen konnte" – sonst hätte wohl die Reputation "unseres ohnehin nicht unumstrittenen Projekts" zu stark gelitten.

Sektengründer ohne Sprachkenntnisse

Denn tatsächlich handelte es sich beim ersten Sea-Watch-Schiff um einen knapp 100 Jahre alten Fischkutter aus Amsterdam, der restauriert und umgebaut werden musste. Das nötige Kleingeld dafür stammte zunächst, wie Grodotzki es formuliert, aus dem Firmenvermögen eines "Klimbim-und-Klamotten-Handels", weil Harald Höppner vor dem Kapitel Seenotrettung als "Hippieausstatter" sein Geld verdiente. Viel lief in der Anfangszeit nach dem Motto: Machen statt quatschen.

Daher war das Personaltableau der ersten Missionen mitunter etwas merkwürdig. Gehen musste etwa der Übersetzer Idji, der "aufgrund seines beeindruckenden Kompetenzprofils engagiert worden war", schildert Grodotzki: "Neben seinen vielseitigen Sprachkenntnissen produziere der blinde Aktivist auch sehenswerte Youtube-Videos und sei psychologisch ausgebildet. Damit könne er auch gleich die Betreuung der Crew vor und nach dem ersten Einsatz übernehmen." So jedenfalls die Erwartung. Leider konnte Idji dann gar kein Italienisch. "Sein psychologisches Know-How bestand in dem durchaus beeindruckenden Kunststück, einigen Hippies weiszumachen, er sei ein blinder Shaolin-Mönch, der mittels Echolot seine Umgebung wahrnähme und so, unter anderem, Basketbälle einkorben könne. Idjis aktivistische Erfahrung wiederum – oder das, was dem am nächsten kam – war die Gründung einer Sekte in Frankreich sowie seine darauffolgende Flucht vor den Behörden nach Malta."

Solche Szenen beschreibt Grodotzki nicht mit klassisch-journalistischer Distanz: "Ich war ja mittendrin, habe das Medienteam der Sea Watch mit aufgebaut und da ein paar Jahre Vollzeit gearbeitet – wenn auch meist unbezahlt." Entsprechend ordnet er sich eindeutig als Aktivisten ein. Auch als Fotograf verstehe er sich nicht als neutraler Beobachter, der wie ein Geist durch die Szenerie schwebt. Er unterhalte sich gerne mit den Leuten vor der Linse. Und er scheut sich nicht, Partei zu ergreifen, wo Menschenrechte nicht für alle gelten.

Angefangen hat Grodotzki seine aktivistische Laufbahn in früher Jugend, aufgewachsen in der schwäbischen 8.000-Seelen-Gemeinde Hemmingen, wo er mit seiner punkigen Erscheinung mit der lokalen Nazi-Szene aneinandergeriet. Später erfolgte das Engagement bei einer Ludwigsburger Antifa-Gruppe, über die sich immer mehr politische Kontakte ergaben, bis Grodotzki auch beim Thema Umweltschutz landete. 2007 beteiligte er sich an Besetzungen von Feldern, auf denen gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden sollten, ein Jahr später lebte er in Baumhäusern im Kelsterbacher Wald bei Frankfurt. Dort sollten 100.000 Bäume für eine Expansion des Flughafens weichen. Das rief die erste Waldbesetzung der deutschen Klimabewegung auf den Plan, sie blockierte neun Monate lang die Fällarbeiten. Am Ende wurde gerodet. 

Symbiotische Zusammenarbeit

Bei seiner Zeit unter Baumwipfeln lernte Grodotzki den späteren Sea-Watch-Co-Gründer Ruben Neugebauer aus Reutlingen kennen, über den er schreibt: "Ruben und ich waren mehr als Kollegen. Wir waren Genossen; Komplizen im täglichen Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Staat und Kapital hatten wir seit frühester Jugend, aus unterschiedlichen Ausgangspositionen und Gründen, persönlich den Krieg erklärt." Zusammen arbeiteten sie in einem Kollektiv, das sozialistisch experimentierte: zum Beispiel mit einem geteilten Konto. "Dabei bildeten wir eine Art Symbiose: Ich war eher strukturiert, brachte mit Fotoaufträgen aus der NGO-Welt die Brotjobs nach Hause und fokussierte mich ansonsten auf die Fotodokumentation autonomer Umweltaktionen. Ruben war ein Chaot im besten Sinne und schien eigentlich nie zu schlafen. Er streckte seine Fühler in alle möglichen Richtungen aus, und sobald ein Politprojekt auch nur annähernd vielversprechend klang, konnte man sicher sein, dass er seine Finger im Spiel hatte." So auch bei der Sea-Watch-Gründung. 

Dabei waren die ersten Tage auf Rettungsmission ein wüster Realitätscheck für die Crew. "Etwa in der Mitte ihres Patrouillengebietes liegt die libysche Hauptstadt Tripolis", schreibt Grodotzki. "Auf dieser Höhe dümpelt die Sea-Watch auf ihrer ersten Mission, als Aktivist:innen des 'Watch the Med Alarm Phone' sie über einen Notruf nördlich von Zuwara informieren, 50 Seemeilen westlich des kleinen blauen Hilfskutters. Ein Schlauchboot mit 150 Menschen habe Leck geschlagen und sei am Sinken. Als die Besatzung Kurs auf das weit entfernte Ziel nimmt, ist bereits klar, dass ihre Chancen, rechtzeitig einzutreffen, verschwindend gering sind. (…) Die voraussichtliche Zeit bis zum Ziel: 6 Stunden und 15 Minuten. (…) Dann der nächste Notruf vom 'Alarm Phone': 200 Menschen in einem Boot, das von Misrata abgelegt hatte – ganz am anderen Ende des Patrouillengebietes. Die Sea-Watch würde zehn Stunden brauchen, um dort einzutreffen. Manche der Passagiere seien bewusstlos, eventuell sogar schon tot. ‚Es war unmöglich, mit Vollgas die libysche Küste entlang zu fahren, zu Booten in Seenot, die wir niemals rechtzeitig erreichen konnten‘, grübelt Harald. 'Wir konnten nicht Kurs auf alle Seenotfälle nehmen, die bei uns eingingen. Das Gebiet war zu groß, die Sea-Watch zu langsam, die Zahl der Notfälle zu hoch.' Eine bittere Erkenntnis, die sich in den kommenden zehn Jahren zahllose Male wiederholen würde."

Auf der Gegenseite stehen die Fälle, in denen die Helfer:innen rechtzeitig vor Ort sind. Grodotzki sagt, am Anfang hätten viele gezweifelt, ob ihr chaotischer Haufen wirklich stemmen könne, was er sich da vorgesetzt hat. Inzwischen sei diese Skepsis "solide widerlegt", angesichts 40.000 geretteter Leben: "Harald Höppner und sein Haufen 'Pazzi' – Verrückte –, wie sie viele auf Lampedusa und darüber hinaus nannten, hatten bewiesen, dass es möglich war: Man musste keine staatliche Behörde, kein millionenschweres Unternehmer:innen-Ehepaar und keine riesige, internationale NGO wie Ärzte ohne Grenzen sein, um auf dem Mittelmeer einen Unterschied zu machen", schreibt Grodotzki. "Sie hatten das mit einer Hauruck-Attitüde vollbracht, die ihresgleichen sucht. Und während die kleine, blaue Sea-Watch auf dem Wasser in ihre nächsten Einsätze zuckelte, fanden sich in Deutschland und anderen Ländern bereits weitere Grüppchen angehender Seenotretter:innen zusammen, um Schiffe zu kaufen und auf das Mittelmeer zu bringen."


Chris Grodotzki: Kein Land in Sicht. Zehn Jahre zivile Seenotrettung im Mittelmeer, Mandelbaum Verlag, 296 Seiten, 20 Euro.

Transparenz-Hinweis: Grodotzki hat seine ersten journalistischen Bilder in Kontext veröffentlicht und verfasst gelegentlich auch Texte für unsere Zeitung, zuletzt im Januar 2024. Die erste Zusammenarbeit gab es im April 2011 – in Kontext-Ausgabe 1. 

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