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Recherche gegen Rechts – die NR-Jugend

Du bist nichts

Recherche gegen Rechts – die NR-Jugend: Du bist nichts
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Mit der "Nationalrevolutionären Jugend" ist seit Mitte 2024 eine Neonazi-Organisation im Südwesten aktiv, die junge Menschen mit Gewaltvideos und NS-Rhetorik rekrutiert. Kontext hat recherchiert, wie die Organisation vorgeht.

Vor ein paar Jahren mag der Christopher Street Day (CSD) für viele eine spaßige Feierparade in Großstädten gewesen sein. Heute ist er mehr. Der CSD ist, gerade im Ländlichen, ein politisches Statement. Ein Statement, dass alle Menschen – auch Lesben und Schwule, Queere und Trans – eine Würde haben und gleichberechtigt sind. Mit dem Erstarken rechtsextremer Kräfte nimmt die Bedrohungslage für die Community zu.

So findet am Nachmittag des 14. Juni 2025 in Bad Mergentheim, einer Kurstadt mit 24.000 Einwohner:innen im Nordosten Baden-Württembergs, der "2. CSD im Taubertal" statt. "Wir haben den Wunsch, sexuelle Vielfalt auf dem Land sichtbar zu machen", erklärt die Anmelderin im Gespräch mit Kontext. Daher lautet das Motto der Veranstaltung: "Wir sind hier, wir sind queer!"

Etwa 300 Menschen sind auf den Deutschordenplatz gekommen, um den CSD mit bunten Fahnen und bunten Klamotten zu feiern. Ein großer Erfolg für die kleine Stadt. Allerdings ist die Freude getrübt. Schließlich hält die Neonazi-Partei Der Dritte Weg am Rande des Deutschordenplatzes eine Kundgebung ab.

"Deutscher Sozialismus"

Über ihren Namen schreibt die Partei, die 2013 in Heidelberg gegründet wurde, sie lehne Kapitalismus und Kommunismus ab und strebe einen "Deutschen Sozialismus" als dritten Weg an. Sie will eine "nationale Revolution" und eine "totale Erneuerung" des "völkischen Lebens". Klar ist: Aus ihrer Nähe zum Nationalsozialismus macht die Partei kaum ein Geheimnis.

Offen knüpft Der Dritte Weg an gestrige Weltmachtfantasien an. "Deutschland ist größer als die BRD", schreibt die Partei. Auf einem Flugblatt ist Großdeutschland mit Breslau und Preußen abgebildet. Der Dritte Weg behauptet, die "deutschen Ostgebiete" seien "völkerrechtswidrig besetzt", und fordert die "Wiederherstellung des Deutschen Reiches".

Rund 80 Mitglieder soll die Partei im Südwesten haben. Aktiv sind die Untergruppierungen "Stützpunkt Württemberg" und der "Stützpunkt Bodensee/Südbaden". Letzterer hat im August 2025 einen Vortrag mit Lilith E., einer "Berliner Kameradin", veranstaltet. Früher hatte E. die linksterroristische Rote Armee Fraktion (RAF) logistisch unterstützt. Heute unterstützt die Rentnerin eine militante Neonazi-Partei.

Aufmerksamkeit und Außenwirkung

An der Kundgebung gegen den CSD in Bad Mergentheim nehmen 23 Neonazis teil. 20 Männer und drei Frauen. Sie bauen einen Pavillon auf, bringen Aufsteller in Position, legen Flugblätter aus, nehmen Formation mit Bannern und Schildern an. Nick Mauser aus dem Landkreis Reutlingen und Thorsten Kokula aus Schweinfurt, die Köpfe der Partei im Süden Deutschlands, halten Reden. Dazwischen: Rechtsrock.

Wie eine Kundgebung auszusehen hat, ist in der Parteischrift "Der Nationalrevolutionär" festgehalten. Die Schrift ist 2019 erschienen und verspricht, ein "Handbuch für Aktivisten unserer Bewegung" zu sein. "Mit möglichst geringem Aufwand muss das Maximum an Aufmerksamkeit erreicht werden", heißt es. "Die Außenwirkung ist entscheidend."

Daher sollen Kundgebungen "durch kreative und visuelle Neuerungen aufgewertet werden". In der Kurstadt ist die Neonazi-Partei besonders kreativ: Leonhard T., ein Teilnehmer, schreibt Begriffe wie "Gender" und "Queer" mit Kreide auf den Boden, dann benutzt der junge Mann eine Regenbogenflagge als Putzlappen, um die Begriffe wegzuwischen.

Im "Handbuch" wird erklärt, die "Macht der Bilder" errege Aufmerksamkeit und strahle in den sozialen Netzwerken. Auf Instagram und TikTok, Telegram und X (früher Twitter) sind die Neonazis präsent. Die Partei nutzt ein Foto der Aktion, um ihren Veranstaltungsbericht zu illustrieren. Darin schreiben die Neonazis, man habe ein "Straßentheater" durchgeführt. Sie missbrauchen die Kunst- und Versammlungsfreiheit, um Hass gegen Minderheiten zu verbreiten.

"Antisystemische Haltung"

Der Dritte Weg gründete Mitte 2024 einen "Stützpunkt Baden-Württemberg" seiner "Nationalrevolutionären Jugend" (NRJ). Seitdem erfährt die Jugendorganisation im Ländle einen starken Zuwachs. Die meisten, die an der Kundgebung in Bad Mergentheim teilnehmen, sind jung. Viele offenbar minderjährig. Das legen Fotos der Teilnehmer:innen, die Kontext exklusiv vorliegen, nahe. Was macht eine Neonazi-Organisation wie die NRJ so attraktiv?

Das weiß Rolf Frankenberger. Er ist Geschäftsführer am Institut für Rechtsextremismusforschung der Universität Tübingen, das im Frühjahr 2023 gegründet wurde. Gegenüber Kontext erklärt Frankenberger: "Die Attraktivität liegt vor allem in der antisystemischen Haltung. Junge Menschen können sich so absetzen von einem als 'woke' wahrgenommenen Mainstream. Sie fallen auf, provozieren und gehen in einer Gemeinschaft auf, in der sie sich stark fühlen können."

Die NRJ besucht "Heldengedenken" und "Stützpunktabende", nimmt an "Leistungsmärschen" und "nationalrevolutionären Zeltlagern" teil. Heute einen Infostand betreuen, morgen Flugblätter verteilen. Um einschätzen zu können, wo und wie häufig Flugblätter im Südwesten verteilt werden, hat Kontext die Social-Media-Kanäle der Partei ausgewertet. Alleine 2025 werden rund 60 Orte genannt. Besonders häufig Orte im Landkreis Ludwigsburg und im Rems-Murr-Kreis. Letzterer ist traditionell eine Hochburg der extremen Rechten: von den Republikanern in den 1990er-Jahren bis zur AfD in der Gegenwart.

Der Aktivismus ist bei der NRJ kein Teil des Alltags, er ist der Alltag. Was das individuelle Leben eines jungen Menschen zählt, wird im "Handbuch für Aktivisten unserer Bewegung" deutlich. "Der Nationalrevolutionär folgt dem Ideal des Kämpfers und politischen Soldaten", heißt es. Der "Kampf um den Fortbestand unseres Volkes" habe Priorität. Man sehe "im restlosen Einsatz" für das Volk eine "heilige Pflicht". Kurzum: Du bist nichts, dein Volk ist alles.

Männer, Männer, Männer

"Die Organisation bietet Gemeinschaft und Identität, aber auch ein Feindbild an, an dem man sich abarbeiten kann und dessen Existenz den eigenen Zusammenhalt stärkt", sagt Frankenberger. Im "Handbuch der revolutionären Jugend", das 2021 erschienen ist, schreibt Der Dritte Weg: "Der Liberalismus ist unser Hauptfeind." Denn: "Es ist der Liberalismus, der unsere Kultur zersetzt, es ist der Liberalismus, der unsere Heimat mit Millionen Fremden überflutet, und es ist der Liberalismus, der unsere Identität vernichtet."

Die Partei verachtet die liberale Demokratie. Es heißt, man sei "im Krieg gegen ein Scheißsystem". Man wolle "dieses System begraben" und trete "offen als seine Feinde auf". Mehr Verachtung geht kaum. Fasziniert blickt Der Dritte Weg auf die "Kampfjahre", die Jahre vor 1933, zurück: "Schon Jahre, bevor die nationale Revolution die Macht über das ganze Land ergriff, hatte der Nationalismus die Universitäten und die gesamte junge Generation erobert", heißt es. "Nationale Revolution" – damit ist Hitlers Machtübernahme gemeint.

Die Partei schreibt, die Jugend habe das "neue Deutschland" geschaffen und im Weltkrieg verteidigt. Ausdrücklich rühmt sie die SS-Panzer-Division "Hitlerjugend". Das Soldatische, Martialische, Kriegerische spricht hauptsächlich Männer an. Dass die NRJ im Wesentlichen aus jungen Männern besteht, konnte nicht nur in Bad Mergentheim, sondern auch in Suhl, einer Kleinstadt in Thüringen, beobachtet werden. Dort veranstaltete Der Dritte Weg am 1. Mai einen Demonstrationszug. Im Kalender ist der "Arbeiterkampftag" ein fester Termin. Ein Pflichttermin.

An der Versammlung nahmen 220 Neonazis teil. Größtenteils Jugendliche und junge Erwachsene, einige aus Baden-Württemberg. Kontext hat Fotos der Demonstration ausgewertet, um Aussagen über das Geschlechterverhältnis der Teilnehmer:innen machen zu können. Das Ergebnis: Etwa 90 Prozent Männer, 10 Prozent Frauen. Martialisch ist ein Kurzvideo zur Versammlung, das die Partei in den sozialen Medien verbreitete, gestaltet: Männer, die marschieren, die Parolen rufen, die Fahnen und Schilder tragen. Männer, die Reden halten, und ein Mann, der über den "Arbeiterkampftag" rappt.

Drill und Gewalt

"Das ist wenig überraschend", kommentiert Frankenberger, "schließlich wird in der Organisation ein chauvinistisches Männlichkeitsideal gelebt, das auf Dominanz, Stärke und Wehrhaftigkeit beruht." Kein Wunder, dass Kampfsport unter den Mitgliedern beliebt ist. Gerne wird das Kämpfen in den sozialen Netzwerken zur Schau gestellt. Brutale, martialische Szenen werden gefilmt und im Netz verbreitet, um neue Mitglieder zu rekrutieren.

So geschehen im Rahmen eines "Jugendwochenendes" in Berga/Elster, einer kleinen Gemeinde in Thüringen. Rund 100 junge Neonazis sollen das Zeltlager besucht haben. Auch Mitglieder der NRJ aus dem Südwesten sind angereist, bestätigt das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg gegenüber Kontext. Im Nachgang des Lagers verbreitete Der Dritte Weg mehrere Kurzvideos in den sozialen Netzwerken.

Diese Videos zeigen, wie die jungen Menschen gedrillt und mit Wettkämpfen ermutigt werden, immer brutaler, härter und schneller zu sein. Survival of the fittest. Mit lautstarken Rufen und Tritten gegen ihre Zelte werden die Teilnehmer:innen am frühen Morgen geweckt. Erst Frühsport in Shirt und kurzer Hose, später Bogenschießen und Kampftraining. In einer Videoszene fallen mehrere Teilnehmer über einen jungen Mann her, um ihn zu verprügeln.

Die Videos haben bei Telegram inzwischen mehrere Zehntausend Aufrufe. "Für die Organisation spielen die sozialen Medien eine zentrale Rolle", erläutert Frankenberger. "Sie bringen Reichweite und täuschen oftmals eine Größe vor, die im analogen Raum so gar nicht vorhanden ist." Die martialische Inszenierung verfängt: "Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl", definiert sich ein Mitglied der NRJ aus dem Südwesten in seinem TikTok-Profil.

Es sind Worte, die Hitler auf dem Reichsparteitag am 14. September 1935 in Nürnberg sprach, um das Ideal nationalsozialistischer Jugend zu beschreiben. Bis heute lebt der Geist dieser Worte fort – der Millionen von Menschen das Leben kostete.

Karikatur: Oliver Stenzel

Dank einer Vielzahl von Spenden konnte Kontext das Projekt "Recherche gegen Rechts" ins Leben rufen. Bis ins Frühjahr 2026 werden im Wochentakt Veröffentlichungen erfolgen, die rechtsextremen Strukturen in Baden-Württemberg nachgehen. Was bislang erschienen ist:

  •   In Ausgabe 762 berichtete Fachautor Timo Büchner über Polizeibeamt:innen mit AfD-Mitgliedschaft
  •   In Ausgabe 763 gab Fachautorin Andrea Röpke einen Einblick ins Netzwerk völkischer Sippen

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