Beim Thema Prostitution kochen die Emotionen oft hoch. Die einen reden von selbstbestimmter Sexarbeit, die ein Job sei wie jeder andere und pochen auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihr Leben und ihren Körper. Die anderen, wie die Frauen in Esslingen, halten diese Selbstbestimmung für eine Erzählung, die nur auf eine kleine Minderheit zutrifft. Wissenschaftliche Untersuchungen darüber, wer sich warum prostituiert, sind rar, zumal viele Frauen ohne Anmeldung anschaffen gehen – sei es, weil sie kein Deutsch können, sei es, weil sie keine gesicherten Aufenthaltsstatus haben und sich wahrscheinlich nicht befragen lassen. Diejenigen, die überzeugt sind, dass die allermeisten Prostituierten unter Zwang arbeiten, lassen sich wiederum grob in zwei Gruppen aufteilen: (nicht nur) Feminist:innen, die durch Prostitution die Menschenwürde verletzt sehen und eine Gesellschaft wollen, in der der Kauf von Frauenkörpern keine Selbstverständlichkeit ist. Und diejenigen, die aus ihrem Glauben heraus Prostituierte retten wollen.
Der "Walk for Freedom" kommt von diesen Rettern. Die deutsche Webseite dazu wird vom Verein "Gemeinsam gegen Menschenhandel" (GGMH) betrieben. Ein Netzwerk aus mehr als 30 Gruppen, die fast alle aus dem evangelikalen Bereich kommen, also aus Gruppen, die die Bibel ziemlich wörtlich nehmen. Vorsitzender des Vereins GGMH ist Frank Heinrich, ein ehemaliger CDU-Bundestagsabgeordneter, der Offizier der Heilsarmee war und nach seiner Bundestagszeit im Vorstand der Evangelischen Gemeinschaft Deutschland saß, eine Art Dachverband evangelikaler Gemeinden und Gruppen in der Republik.
Retten für das Seelenheil
Der Begriff "evangelikal" hat nicht nur unter Atheisten hierzulande einen eher schlechten Ruf. Zum einen, weil Evangelikale missionieren, aber auch weil ihr starker Einfluss und ihre Verbindung zum Nationalismus in den USA gruselige Auswirkungen zeigt: Hass auf Homosexuelle, stockkonservative Frauenbilder, heftiger Rassismus, eingeschränkte Meinungsfreiheit. Beim Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 waren betende Gläubige, "Jesus 2020"-Schilder und ein großes Holzkreuz zu sehen, während der Mob das Parlament stürmte. Evangelikale stehen in der Mehrheit für eine rigide Moral, teilen die Welt in Gut und Böse, manche erwarten das Weltende und in den USA gehören sie zu den treuesten Trump-Anhängern. Dass Mitglieder ihren Zehnten spenden, ist allgemeiner Usus. Gerne auch mehr. Kurz: Evangelikale sind konservativ und haben den Auftrag, den Glauben in die Welt zu tragen und Seelen zu retten.
Um Prostituierte kümmern sich solche Gruppen besonders gerne. Ausdrücklich über "Rettung", "Seelenheil" und Glauben schreiben sie heutzutage eher selten und manche bieten ganz praktische Arbeit an, indem sie Prostituierte mit Geld, Beratung und Schutzwohnungen helfen, auszusteigen. Dazu gehören die Esther Ministries in Stuttgart, die im Eberhardviertel arbeiten und seit 2010 in Stuttgart den "Walk for Freedom" organisieren. Die Esther Ministries vermeiden auf ihrer Webseite Bezüge zur Religion, nennen als befreundete Gruppen aber nur "Gemeinsam gegen Menschenhandel" und das "European Freedom Network", ein evangelikales Netzwerk.
Prostituierte retten – dieser Ansatz wird in der professionellen Sozialarbeit abgelehnt. Im Stuttgarter Fraueninformationszentrum (FiZ), das auch Prostituierte berät und zur Diakonie gehört, ist man deswegen nicht glücklich über den "Walk for Freedom". "Unser Ansatz ist es, Betroffene von Menschenhandel und Ausbeutung in ihren Stärken zu stärken, ihre Resilienz zu sehen und zu fördern und sie dabei zu unterstützen, ihre Selbstbestimmung wiederzugewinnen, die ihnen mit Gewalt genommen wurde", erklärt die Leiterin Doris Köhnke. Und mit Blick auf radikalchristliche Gruppen ergänzt sie: "Als Fachberatungsstelle zur Thematik Menschenhandel bedauern wir, dass der Diskurs über Menschenhandel häufig die betroffenen Frauen auf ihr Opfer-Sein reduziert. Die Frauen werden passiv, hilflos, stimmlos, würdelos dargestellt. Damit wird genau das wiederholt, was bei Gewalt und Ausbeutung passiert." Am "Walk for Freedom" jedenfalls beteilige sich die Beratungsstelle nicht.
Zu wenig Unterstützung aus der Politik
Leni Breymaier kennt diese Argumentation. Die SPD-Politikerin aus Ulm, die von 2017 bis 2025 im Bundestag saß, ist eine vehemente Verfechterin des nordischen Modells, also des Sexkaufverbots mit gleichzeitiger Entkriminalisierung der Prostituierten. Seit Jahrzehnten kämpft sie gegen die deutsche Prostitutionsgesetzgebung, hat den Verein "Sisters – für den Ausstieg aus der Prostitution" mitgegründet. "Es ist schön und gut, wenn wir 100 Frauen beim Ausstieg helfen", sagt Breymaier. "Aber wenn für jede ausgestiegene Frau 1.000 neue kommen, bringt das nichts." Es brauche andere Gesetze.
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