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Andreas Keller

Ein Überzeugungstäter

Andreas Keller: Ein Überzeugungstäter
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Andreas Keller ist Vorsitzender der Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung" und war früher Intendant der Bachakademie. Für sein Engagement in der Erinnerungskultur hat die Stadt Stuttgart ihn nun ausgezeichnet. Doch auf seine Fragen und Wünsche reagiert sie nicht.

Einen ersten Termin muss Andreas Keller verschieben. Denn er will die Friedenskirche in Albstadt-Ebingen fotografieren, gerade ist die Lichtstimmung so günstig wie nur selten, zudem wurde das Gebäude vor Kurzem an ein lokales Immobilienunternehmen verkauft: ein moderner Bau, um 1930 entstanden wie die Brenzkirche am Stuttgarter Killesberg, deren Förderverein Keller vorsteht. Kirchenbauten sind seine Leidenschaft. Mehrere Hundert hat er seit seiner Pensionierung 2008 fotografiert, in allen Details. Für die Bilder hat er eine eigene Website eingerichtet.

Der 80-Jährige vertritt die Haltung, seine Meinung niemandem aufzwingen zu wollen. Doch er versucht zu überzeugen. Das hat er sein Leben lang gemacht: beruflich als Geschäftsführer der Gächinger Kantorei des Chorleiters Helmuth Rilling, als langjähriger Intendant der Internationalen Bachakademie in Stuttgart, als sachkundiger Bürger im Kulturausschuss des Stuttgarter Gemeinderats und jetzt als Vorsitzender des Vereins "Zeichen der Erinnerung", der die Gedenkstätte am Stuttgarter Nordbahnhof betreut.

Die Gründungsgeschichte der Bachakademie ist mit Kellers Familie verwoben, genauer: mit seinem Vater. "Mit Hermann Keller hatte die Technische Hochschule Stuttgart 1919 einen Lehrbeauftragten für Musikgeschichte gewonnen", heißt es in einer Untersuchung zur NS-Geschichte der heutigen Universität, "der sich bald zu einem bedeutenden Musikwissenschaftler, Pianisten, Organisten und Komponisten entwickeln sollte." Hermann Keller war damals 33 Jahre alt.

Er hatte zunächst Architekt werden wollen wie sein Vater, nahm dann aber Privatunterricht bei dem Komponisten Max Reger (1873 bis 1916), der ihm riet, Musiker zu werden. Für Reger war Bach "Anfang und Ende aller Musik". Hermann Keller folgte dessen Spuren. Er wurde Organist an der Stuttgarter Markuskirche, Lehrbeauftragter der Technischen Hochschule, Professor und Leiter der Abteilung Kirchen- und Schulmusik an der Musikhochschule.

1935 wurde Hermann Keller Vorsitzender des württembergischen Bachvereins und Vorstandsmitglied der Internationalen Bach-Gesellschaft, musste jedoch seine Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule und an der Musikhochschule bald danach aufgeben. "Aus politischen Gründen schied er 1936 aus", bezeugt 1952 der Germanist Fritz Martini, offenbar im Zusammenhang "mit dem früheren Engagement seiner Söhne in einer bündischen bzw. kommunistischen Jugendgruppe", wie es in der Publikation der Uni heißt.

"Das war die DJ", sagt Andreas Keller wie aus der Pistole geschossen. Drei der vier Söhne seines Vaters aus erster Ehe waren in der Deutschen Jungenschaft aktiv, einer unabhängigen Gruppe der Jugendbewegung, 1929 gegründet von dem Stuttgarter Eberhard Koebel, der 1932 in die KPD eintrat. "Die DJ wurde 1933 sofort verboten", erklärt Keller, die drei Söhne seines Vaters alle in der Gestapo-Zentrale im heutigen Hotel Silber verhört.

Klassikexperte und Computerpionier

In der Familie war dies jedoch in der Nachkriegszeit kein Thema. "Es wurde über alles Mögliche geredet und auch heftig gestritten", sagt Andreas Keller, "aber darüber nicht." Als er auf die Welt kam, war sein Vater Hermann schon fast 60 Jahre alt. Nach dem Krieg war Keller senior sieben Jahre lang Direktor der Stuttgarter Musikhochschule. Auch der Junior studierte zunächst Musik und wollte Cellist werden, musste dann jedoch einsehen, dass er es nicht zu einem erstklassigen Profimusiker bringen würde.

Daher ging er auf Empfehlung seines Vaters zum Musikverlag Bärenreiter nach Kassel. Ein mittelständischer, inhabergeführter Betrieb, aber, wie Keller sagt, "am Puls der Zeit". Er habe dort alles gelernt, was er später brauchen konnte: "Ich hatte viele Freiheiten und eine hervorragende Schulung in Veranstaltungstechnik, die drei Jahre bei Bärenreiter waren meine Lehrjahre", resümiert er. Unter anderem belegte er damals, um 1970, schon EDV-Kurse. "Wir waren dann in Stuttgart die ersten, die Computer eingeführt haben."

1972 lernte er Helmuth Rilling kennen, den Dirigenten der Gächinger Kantorei, die dieser 1954 bei Reutlingen gegründet hatte, die aber längst in Stuttgart ansässig war, und des Bach-Collegiums, das den Chor begleitete. Keller wurde deren Geschäftsführer. Das eröffnete ihm einen weiten Horizont, denn Rilling, elf Jahre älter als er, war auf der ganzen Welt unterwegs. Er trat früh in Osteuropa auf und war 1970 Mitbegründer eines Bach-Festivals in Eugene, Oregon, im Nordwesten der USA: Vorbild und Anregung der Bachakademie.

Als erster Deutscher dirigierte Rilling auch das Israel Philharmonic Orchestra, das 1976 in Tel Aviv mit der Gächinger Kantorei "Ein deutsches Requiem" von Johannes Brahms aufführte. Es war die erste Zusammenarbeit des Orchesters mit einem deutschen Chor. Und für Keller der Ausgangspunkt vieler Freundschaften wie auch seines langjährigen Engagements in der Erinnerungskultur.

Kellers Begeisterung gewinnt zahlreiche Verbündete

Von 1981 bis 2008 war Keller Geschäftsführer, dann Intendant der Bachakademie, die er 1981 zusammen mit Rilling gründete. Das ehemalige Verlagshaus am unteren Ende der Hasenbergsteige, in das die Akademie bald einzog, teilt sie sich – auf Kellers Initiative – mit dem Stuttgarter Kammerorchester. 1985 riefen Keller und Rilling das Stuttgarter Musikfest ins Leben, das sich neuerdings Bachfest nennt. Keller ist ein Lobbyist für die Kultur – auch als sachkundiger Bürger im Kulturausschuss des Gemeinderats.

Für die Kultur in Stuttgart spielen die Sachkundigen eine wichtige Rolle, da sie besser als selbst die kulturinteressierten Gemeinderäte wissen, wo in ihrem Bereich der Schuh drückt. 2009 organisierten sie die "Art Parade", Sprecherin war die heutige Landeswissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne). Die Demo richtete sich gegen pauschale Kürzungen. In einem aufwendigen zweiteiligen Kulturdialog mit Hunderten Teilnehmer:innen wurden daraufhin Leitlinien für die Stuttgarter Kulturpolitik formuliert. Keller, gerade zum zweiten Mal in das Gremium gewählt, war mittendrin. Nur der Gemeinderat spielte nicht mit. Die Bemühungen liefen ins Leere.

Otto-Hirsch-Auszeichnung

Seit 1985 verleiht die Stadt Stuttgart gemeinsam mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Stuttgart und der Israelitischen Religionsgemeinschaft jedes Jahr die Otto-Hirsch-Auszeichnung: an Personen, die sich um den christlich-jüdischen Dialog verdient gemacht haben. Der Namensgeber Otto Hirsch war ab 1921 Ministerialrat und von 1930 an Präsident des Oberrats der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg. Nachdem er vielen anderen bei der Emigration geholfen hatte, wurde er 1941 ins Konzentrationslager Mauthausen deportiert, wo er angeblich an einer Darmentzündung starb. Zu den Ausgezeichneten gehören unter anderem der Theologe Albrecht Goes, der Verleger Heinz Max Bleicher, Oberbürgermeister Manfred Rommel, der Vorstand der jüdischen Gemeinde Stuttgarts Meinhard Tenné sowie 2004 auch Helmuth Rilling.  (dh)

Man kann Keller auch einen erstklassigen Fundraiser nennen. Der Begriff klingt zwar sehr nach schnödem Mammon, doch auch eine Bachakademie und ein Musikfest sind auf Geld angewiesen. Keller hat viele Kontakte, aber was noch wichtiger ist: Er ist überzeugt von dem, was er tut. Und er hat es immer wieder geschafft, auch andere zu überzeugen.

"Es gelingt Ihnen immer wieder, zahlreiche Verbündete und Mitstreiter zu gewinnen", hob Isabel Fezer, Stuttgarter Bürgermeisterin für Jugend und Bildung, hervor, als Keller kürzlich mit der Otto-Hirsch-Auszeichnung geehrt wurde. "Das kommt der guten Sache, für die Sie kämpfen und die von hoher stadtgesellschaftlicher Bedeutung ist, zugute." Mit der guten Sache ist in erster Linie die Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung" am Nordbahnhof gemeint. Keller war Mitbegründer des Vereins und spielte von Anfang an eine wichtige Rolle, noch bevor er nach dem Tod des Architekten Roland Ostertag 2017 den Vorsitz übernahm.

500.000 Euro hat die Gedenkstätte gekostet, je zur Hälfte finanziert von der Stadt und von privaten Spendern. "Es war der nicht unwesentliche Beitrag der Bachakademie, der die Fundraising-Kampagne kräftig vorangebracht hatte", unterstrich Monika Renninger, Leiterin des evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof, in ihrer Laudatio. Auf Kellers Beharrlichkeit führt sie auch die Einrichtung der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur zurück. Und auch um die Erinnerung an die "Büchsenschmiere", die berüchtigte Polizeiwache, die von 1895 bis zur NS-Zeit im Hospitalhof untergebracht war, hat er sich verdient gemacht. Es gibt dazu ein Buch, an dem Keller mitgearbeitet hat, und es gab eine Ausstellung, die im kommenden Jahr noch einmal im Rathaus gezeigt werden soll.

Die Stadt antwortet trotzdem nicht

Zuletzt nennt Renninger auch die Brenzkirche. Als ausgesprochen moderner Bau 1933 schräg gegenüber der Weißenhofsiedlung eingeweiht, erhielt sie 1939 ein Satteldach und konservativere Formen verpasst, da ihr Anblick, wie der damalige NSDAP-Oberbürgermeister Karl Strölin meinte, den Besucher:innen der Reichsgartenschau am Killesberg nicht zuzumuten war.

Auf Betreiben des Fördervereins, dem Keller vorsteht, ist nun ein erneuter Umbau beschlossene Sache: als Projekt der Internationalen Bauausstellung 2027 Region Stuttgart (IBA'27). Der Entwurf steht dem Ursprungsbau nahe. Und Keller ist wieder einmal als Geldeintreiber gefragt. Knapp acht Millionen Euro soll das Bauvorhaben kosten. Davon soll eine Million aus privaten Spenden zusammenkommen und 6,9 Millionen aus verschiedenen Fördertöpfen und Stiftungen, während die Stadt Stuttgart nach derzeitigem Stand nicht einmal ein Prozent der Bausumme beizusteuern bereit ist. Keller argumentiert, die Stadt habe 1939 den Umbau angeordnet und stehe daher in der Verantwortung.

Auch mit der Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung" gibt es ein Problem: Mehr als 2.600 Jüdinnen und Juden sowie mindestens 271 Sinti und Roma wurden von hier aus in verschiedene Konzentrationslager deportiert und überwiegend ermordet. Zur Konzeption der Gedenkstätte gehörten von Anfang an nicht nur ihre Namen, die auf Betonwänden dokumentiert sind. Vielmehr soll der Blick auf die originalen Gleise, die sich am Horizont verlieren, an die Verschleppten, aus dem Leben Gerissenen erinnern. Doch die Gleise sollen weg: Nach den Plänen der Stadt sollen sie künftig nur noch bis zum durch einen Zaun abgegrenzten Ende des Erinnerungsorts reichen, aber nicht mehr weit darüber hinaus.

Auf 24. Juni 2024 datiert ein Antrag von SPD, Linke, SÖS, Die Partei, Tierschutzpartei und FDP, die Gleisfläche zu sichern, die Gedenkstätte weiterzuentwickeln und den Verein "Zeichen der Erinnerung" in die Planung einzubeziehen. Auf Anfrage von Kontext im vergangenen März hat die Stadt mitgeteilt, die Antwort stehe "kurz vor der Fertigstellung". Doch noch immer bleibt der Antrag unbeantwortet.

Gleich am Tag nach der Verleihung der Otto-Hirsch-Auszeichnung hat Keller einen Brief an Oberbürgermeister Frank Nopper geschrieben, in dem er beide Probleme anspricht: die Verantwortung der Stadt für die Brenzkirche und den Antrag der Fraktionen zur Gedenkstätte. Das war am 9. Juli. Auch der Brief ist bis dato unbeantwortet.

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