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Justiz gegen Klima-Aktivismus

Verwerflichkeit und Weltverbrennung

Justiz gegen Klima-Aktivismus: Verwerflichkeit und Weltverbrennung
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Auch im seit 14 Jahren grün regierten Baden-Württemberg verursacht der Klimawandel einen rasanten Artenschwund. Währenddessen geht die Justiz überhart gegen Aktivist:innen vor.

Er könne gar nicht "unbefangen durch die Gegend gehen", bekannte Winfried Kretschmann einmal bei einem Waldspaziergang mit der Presse. Das war im März 2021 bei Sigmaringen, kurz vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg. Der amtierende Ministerpräsident, heute 77 Jahre alt, zog noch ein letztes Mal als Spitzenkandidat für die Grünen ins Rennen. Allerdings konnte der studierte Biologe zwei Wochen vor der Stimmabgabe nicht ausschließlich über Politik reden – zu groß war seine Begeisterung, als er einen scharlachroten Kelchbecherling entdeckte. Der Pilz sei "eine botanische Rarität", freute sich Kretschmann gegenüber den Damen und Herren von der Presse: "Wenn Sie den gesehen haben, dann ist der Tag gerettet."

An der Authentizität seiner Begeisterung für seltene Arten besteht kein Zweifel, weltweit dürften wohl nur wenige Regierungschefs vergleichbar fundierte Kenntnisse über die heimische Flora und Fauna vorweisen können. Um den grünen Ministerpräsidenten für dessen Einsatz für den Erhalt der Biodiversität zu würdigen, benannte die Entomologin Marina Moser 2023 eine neu entdeckte Wespenart nach ihm (Aphanogmus kretschmanni). Damit scheinen die Ausgangsbedingungen für den Erhalt biologischer Vielfalt eigentlich ideal: Eine grün-geführte Landesregierung mit einem fürs Thema begeisterten Oberhaupt in einer der reichsten Regionen der Welt – und dennoch weisen auch hier die Langzeitbeobachtungen einen alarmierend Trend auf.

Denn der Klimawandel bringt nicht nur Dürren und Fluten, er verändert längst Biotope und Habitate, schmälert die Artenvielfalt. So gilt inzwischen fast die Hälfte aller 199 Vogelarten, die in Baden-Württemberg brüten, als gefährdet. Selbst der früher weit verbreitete Kiebitz wird immer seltener gesichtet. Bei einer Untersuchung im Jahr 2023 konnten nur 227 Ruf-Reviere gefunden werden, in denen Rebhühner balzen. In den 1950er-Jahren waren es noch um die 50.000.

Die Natur verarmt

Diese Zahlen seien nur bedingt vergleichbar, betont Ulrich Maurer, Präsident der baden-württembergischen Landesanstalt für Umwelt. Denn die Erhebungsmethoden würden sich unterscheiden. Und dennoch zeigten die Befunde, "wie unsere Umwelt in den letzten Jahrzehnten verarmt ist". Festzustellen ist das Phänomen auch beim Schnorcheln in Thailand oder beim Tauchgang in Ägypten, wo Korallenriffe immer mehr zu kämpfen haben. Allerdings ist Europa der Kontinent, der sich im Zuge des Klimawandels am schnellsten erhitzt – mit spürbaren Folgen im deutschen Südwesten: 17 der 20 wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881 datieren nach der Jahrtausendwende, der "Jahrhundertsommer" von 2003 ist zwanzig Jahre später kaum noch ein Ausreißer.

Die immer wärmeren Winter erweisen sich als Problem für Siebenschläfer, Igel, Weißstörche und andere Tiere, die im Winterschlaf oder in der Winterruhe gestört werden. Moorfrosch, Knoblauchkröte und Aspisviper sind vom Aussterben bedroht. 113 Nachtfalter-Schmetterlings-Arten, deren Vorkommen in Baden-Württemberg historisch belegt ist, konnten seit dem Jahr 2000 nicht mehr gesehen werden. Die größtenteils im Boden nistenden Wildbienenarten werden durch zunehmende Dürrephasen gefährdet, der allgemeine Insektenschwund wirkt sich wiederum negativ auf den Vogelbestand aus.

"Klimaforscher warnen seit Jahren – nun werden die Wetterprognosen Realität", stellte der Meteorologe Dominik Jung Ende Juni in einer Kolumne für die "Frankfurter Rundschau" fest. Und in der Tat war es in den vergangenen Jahren schwierig, die mahnenden Worte zu überhören: Die alarmierenden Prognosen aus der Wissenschaft, der Fridays-for-Future-Hype mit den größten Massendemonstrationen in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik, ein Bundesverfassungsgericht, dass auch die Freiheitsrechte künftiger Generationen für schützenswert hält. Sogar der Blackrock-Boss Larry Fink war Anfang 2020 überzeugt, dass die Börsenwelt ergrünen müsse und "wir vor einer fundamentalen Umgestaltung der Finanzwelt stehen". Das sage er nicht, weil ihn die weltweiten Demonstrationen beeindrucken würden; er sei "kein Umweltschützer, sondern ein Kapitalist". Und als solcher fragt er nicht, was mit Milliarden von Menschen passiert, deren Heimat durch Hitze oder Absaufen unbewohnbar wird – sondern, wie sich "Inflationsraten und damit auch die Zinsen entwickeln, wenn die Lebensmittelpreise infolge von Dürre und Überschwemmungen steigen", und was Versicherungen tun sollen, wenn sie "nicht mehr in der Lage sind, die Folgen von Klimarisiken über einen langen Zeitraum abzuschätzen".

Fünf Jahre später sitzt ein Mann im Weißen Haus, der erfolgreich mit der Parole "Drill, Baby, drill!" Wahlkampf gemacht hat, also einem Bekenntnis, dass keine Ölreserve unangetastet bleiben soll. Hierzulande ist der Politikbetrieb noch nicht ganz so sehr zur grotesken Realsatire verkommen wie in den USA – und trotzdem kommt die fossile Lobby ein ums andere Mal mit altbekannten Schmutzkampagnen durch. Raphael Thelen verweist etwa auf das "noch einmal besonders ambitionierte Heizungsgesetz von Habeck", das von rechts mit medialer Beihilfe von Springer und Konsorten so sehr zerschossen worden sei, dass sich die Ampelregierung ein Jahr lang überhaupt nicht mehr an Klimaschutz herangetraut habe (unabhängig von Thelens Einschätzung berichtete auch Kontext darüber).

Hohe Opferbereitschaft

Thelen hat über zehn Jahre als Journalist gearbeitet, für Medien wie "Zeit" und "Spiegel" geschrieben – und hingeschmissen. Seit 2023 ist er Vollzeit-Aktivist und begründete gegenüber dem Onlinemagazin "Übermedien", warum er sich den Klima-Aktivist:innen der Letzten Generation angeschlossen hat: Die Medienbranche sei strukturell nicht fähig, die Klimakrise angemessen zu behandeln, und in den Redaktionen sei erschreckend viel Unwissen verbreitet: "Ganz viele Menschen, auch in Redaktionen, wissen bis heute nicht was ein Kipppunkt ist, was ein Feedback Loop ist. Die wissen nicht, dass drei Grad Erwärmung, die wir ja Ende des Jahrhunderts ungefähr haben werden, sechs Grad in Deutschland bedeuten", bemängelt Thelen. Und er ist nicht der einzige, der eine klassische Karriere verworfen hat: Carla Hinrichs, die frühere Sprecherin der Letzten Generation, brach ihr Jura-Studium ab, Lars Werner hat seinen Beruf als Psychologe aufgegeben, um sich Vollzeit dem Klimaschutz zu verschreiben. Es sind Menschen, die für ihre Überzeugungen große persönliche Opfer in Kauf nehmen – bis zum Knastaufenthalt.

Am 30. Juni war Thelen zu Gast bei einer Diskussion im Württembergischen Kunstverein am Stuttgarter Eckensee, noch am späten Abend hat es über 30 Grad Innentemperatur – trotzdem hören sich 130 Schwitzende an, wie Klimaaktivismus in der Bundesrepublik kriminalisiert wird. Mit dabei sind auch die Rechtsanwältin Maja Beisenherz, die schon viele Aktivist:innen vor Gericht vertreten hat, und die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD). Beide stimmen in der Einschätzung überein, dass Straßenblockaden und Klebeaktionen nicht zwangsläufig zu Strafen führen müssten. Aber die deutsche Justiz entscheide sich mit überwältigender Mehrheit für ein überhartes Vorgehen.

Denn, wie in der Hitze des Kunstvereins detailliert ausgeführt wird, der in Bezug auf die Blockadeaktionen immer wieder angeführte Tatbestand der Nötigung sei nur dann strafbar, wenn das zuständige Gericht eine sogenannte Verwerflichkeitsprüfung bejahe: Nach Paragraf 240 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs ist eine Nötigung nur dann rechtswidrig, "wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist". Und bezogen auf Zivilen Ungehorsam in Form von Straßenblockaden entsteht dabei eine jener Situationen, in denen es schwerfällt, Alltagsverstand und die Logik der Juristerei auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. 

Verfassungsschutzpräsident erkennt edle Motive

Als Kronzeugen könnten die Klimakleber zum Beispiel Thomas Haldenwang anführen, bis 2024 Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes. Der erkennt durchaus edle Motive, schließlich sei die Botschaft der Blockaden: "He, Regierung, ihr habt so lange geschlafen, ihr müsst jetzt endlich mal was tun. Also, anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man die Funktionsträger zum Handeln auffordert", sagte Haldenwang im November 2022 gegenüber dem SWR. Zudem ist durch das Bundesverfassungsgericht klar gestellt, dass sich die Gewalt bei einer Nötigung tatsächlich physisch bemerkbar machen muss und es, sofern keine konkrete Drohung vorliegt, nicht reicht, wenn der Druck rein psychisch entsteht.

Wie kommt es dann, dass die Mehrzahl der deutschen Gerichte sowohl bejahen, dass das Handeln der Aktivist:innen verwerflich ist, als auch, dass sie dabei physische Gewalt angewendet haben? Aufschluss liefert ein Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom Februar 2024: Demnach liege zwar gegenüber der ersten autofahrenden Person, die durch eine Blockade zum Anhalten gezwungen wird, noch keine physische Gewalt vor. Aber dadurch, dass das erste Auto anhält, entsteht für alle folgenden Autofahrer:innen ein reales physisches Hindernis: Wer weit vorne ist, kann schlecht umdrehen im Stau, und das lässt sich dann in der Rechtsprechung als eine gewaltsame Nötigung auslegen, die den Blockierenden anzulasten ist, weil sie diese Zwangssituation ja verursacht haben.

Ausgabe 642 vom 19.07.2023

Hitze in Stuttgart: Das wird brutal

Von Minh Schredle

Der Klimawandel ist längst kein Zukunftsszenario mehr: Stuttgart hat das Zwei-Grad-Ziel schon verfehlt. Statt eines Plans gegen die Hitze kann die Stadtverwaltung nur eine Infobroschüre vorweisen, die empfiehlt, an heißen Tagen genug zu trinken.

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Und verwerflich ist der Klimaprotest, weil? Das Portal "Jura Online" lehrt diesbezüglich bei der Examensvorbereitung für Nachwuchsjurist:innen, dass die Klimakrise zwar als eine Dauergefahr betrachtet werden könne – "die ausgeführten Handlungen sind aber weder geeignet, diese abzuwenden, noch sind sie angemessen, da es geordnete Gerichtsverfahren und Mittel der politischen Mitwirkung und Gestaltung gibt, die in einer Demokratie vorrangig zu wählen sind." Weil nach dieser Argumentation die Rechtfertigungsgrundlage für Blockaden fehlt, sind sie verwerflich.

In der Folge heißt das: immer mehr Haftstrafen, immer häufiger ohne Bewährung. In Berlin und München klagen Staatsanwaltschaften Aktivist:innen der Letzten Generation sogar als kriminelle Vereinigung an, was bedeutet, dass sie eine "erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit" sein sollen. Wie das schlüssig begründet werden soll, sorgt auf juristischen Fachportalen für Rätselraten, aber dass auch dafür eine geeignete Hilfskonstruktion gefunden werden kann, ist wohl nie ganz auszuschließen.

Der Theaterregisseur Volker Lösch findet, dass der Staat durch die harte Repression gegen Menschen, die sich eine intakte Umwelt wünschen, seine eigene Handlungsunfähigkeit entlarvt. Das Drama um die Letzte Generation hat er auf die Bühne gebracht, das Stück endet damit, dass die jungen Aktivist:innen mit Öl übergossen werden und darin ersticken (Kontext berichtete).

Wird der entscheidende Innovator rechtzeitig geboren?

Seitens des baden-württembergischen Ministerpräsidenten ist übrigens nicht mit Mitleid zu rechnen. Von sich aus kam Winfried Kretschmann im Juni 2023 als Redner auf dem evangelischen Kirchentag in Nürnberg auf die Aktionen der Letzten Generationen zu sprechen. "Es nützt nichts, sich an der Straße festzukleben", predigte er in Bezug auf die Lukas-Bibelstelle "Die Zeit wird kommen". Der Landesvater leidet bekanntermaßen darunter, dass es in seiner Partei "leider immer noch eine gewisse Neigung dazu gibt, den Leuten Vorschriften machen zu wollen", dabei seien "marktwirtschaftliche Instrumente geschmeidiger als Verbote". Folgerichtig gerät seine Rede auf dem Kirchentag zum Hohelied auf die Schöpfungskraft: "Jeder Mensch kann einen Gedanken denken, den noch nie jemand vorher hatte. Jeder kann innovativ werden. Die Geburt eines jeden Menschen ist ein Neubeginn, ein Start-up."

Er war schon einmal weiter: Zum 40. Geburtstag der Grünen im Jahr 2019 redete Kretschmann ausdrücklich "ordnungspolitischen Leitplanken" das Wort, um den Begriff "Verbote" zu vermeiden. Mit einer entwaffnenden Erklärung: Dort, wo Deutschland in der Klimapolitik heute stehe, habe der Markt das Land hingebracht.

Im vergangenen Juni hat die Deutsche Umwelthilfe Klage gegen Baden-Württembergs Regierung eingereicht, weil das Bundesland seine Klimaziele absehbar verfehlen wird und zu einem Klimaschutz-Sofortprogramm verpflichtet sei, es aber an konkreten Maßnahmen mangele. Mit Blick auf gegenwärtige Umfragewerte wirkt sehr wahrscheinlich, dass die nächste Landesregierung erstmals seit 15 Jahren nicht mehr von den Grünen angeführt wird. Dass unter Führung der CDU mehr als bisher für den Schutz von Umwelt und Natur getan wird, ist indessen so gut wie ausgeschlossen.

Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik waren die Ausgangsbedingungen besser als im grünen Baden-Württemberg – gemessen am Erreichten erscheint es geboten, die staatliche Handlungsfähigkeit zu hinterfragen, da eine weitere Verarmung der Natur naheliegt und es die kommenden Jahre schlicht immer schlimmer mit dem Klima werden wird. Die Welt ist ziemlich buchstäblich am Brennen – währenddessen tragen geordnete Gerichtsverfahren ihren Teil dazu bei, diesen Ausnahmezustand zu normalisieren.

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