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Freiburg-Weingarten

AfD-Hochburg im Minderheitenviertel

Freiburg-Weingarten: AfD-Hochburg im Minderheitenviertel
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Freiburg bleibt grün, auch bei der jüngsten Bundestagswahl. Braun-blaue Flecken hat aber auch die Green City. Ausgerechnet im migrantisch geprägten Stadtteil Weingarten lag die AfD vorne.

Das Haus Weingarten, ehemaliges Kulturzentrum im Besitz der Stadt, gammelt vor sich hin. Die oberen Etagen sind aus Brandschutzgründen schon seit vielen Jahren nicht nutzbar. Das Gebäude liegt genau in dem Wahlbezirk, in dem die AfD in Freiburg den größten Stimmenanteil holte: 36,1 Prozent der hier im Wahllokal abgegebenen gültigen Stimmen (153 von 424) entfielen auf die Partei. Auch im gesamten Stadtteil Weingarten wurde die AfD stärkste Kraft mit 22,7 Prozent, im Wahlkreis landete sie mit 10,4 Prozent nur auf dem fünften Platz hinter Grünen (26,6 Prozent), CDU (22,2 Prozent), SPD (15,3 Prozent) und Linke (13,9 Prozent). "Es war ein wahnsinniger Schock, als wir gehört haben, dass Weingarten die AfD gewählt hat," sagt Coralla Reinhardt vom Sinti Verein. Die Sinti-Siedlung im Auggener Weg liegt nur wenige Meter vom Haus Weingarten entfernt und auch sie ist in die Jahre gekommen. Geheizt wird hier noch mit Holz oder Kohle. 

"Bei uns hat jeder Zweite Asthma", empörte sich Ende letzten Jahres ein Sinto gegenüber der Geschäftsführerin der Freiburger Stadtbau (FSB), Magdalena Szablewska. Die Stadtbauspitze war ins Haus Weingarten gekommen, um die Anwohner:innen über ein Nachverdichtungsprojekt zu informieren: Ein Wiesendreieck in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Häusern der Sinti soll mit einem achtstöckigen Hochhaus bebaut werden. In der Sinti-Siedlung sorgt das Projekt für Wut, auch weil die direkten Anrainer:innen vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Auf der Wiese stehen Protestschilder. Ebenfalls in direkter Nachbarschaft befindet sich ein Hochhaus-Wohnblock der Vonovia. Mittlerweile sind die Häuser saniert, zuvor gab es immer wieder Probleme mit Legionellen, kaputten Aufzügen und Klingeln. Das Rattenproblem bleibt virulent.

Armut und Existenzängste

Ob es Vorgänge wie diese sind, warum in diesem Stadtteil die AfD so stark ist? Johannes Koch, der Vorsitzende des Bürgervereins Weingarten, erklärt sich das Wahlergebnis so: "Wenn es einmal die Möglichkeit gibt, Macht auszuüben oder was zu bestimmen, wenn sonst nie auf einen gehört wird, dann wähle ich eine Partei, wo sich die Etablierten, die Gutbürger, ärgern." Die Leute hier hätten das Gefühl, abgehängt zu sein, berichtet Marie Harzenetter vom Forum Weingarten, Trägerverein der Quartiersarbeit für stärkere Bürgerbeteiligung mit Büro direkt im Einkaufszentrum. Armut sei ein großes Thema, sagt Harzenetter. In den reicheren Stadtteilen Waldsee, Herdern und Littenweiler lag die Armutsgefährdungsquote laut dem letzten Sozialbericht bei 13 Prozent, in Weingarten waren es 23 Prozent. Mehr als ein Drittel der Kinder lebt in Bürgergeldhaushalten. Im Stadtteil leben mit Abstand die meisten Sozialleistungsberechtigten.

Die Linkspartei forcierte hier vor der Bundestagswahl ihren Haustürwahlkampf. "Soziale Themen und Existenzängste standen im Vordergrund; Fragen nach bezahlbaren Mieten, die krasse Erhöhung der Lebenshaltungskosten und auch der Frust über niedrigere Löhne, die dazu führen, sich abzurackern und sich trotzdem keinen Urlaub für die Familie leisten zu können; Angst vor der Rente", berichtet Sarah Schnitzler, die für die Partei von Haustür zu Haustür zog. Immer wieder sei Frust darüber geäußert worden, dass existenzielle Ängste nicht gehört und gesehen würden. Mit ihrem Haustürwahlkampf rannte die Linkspartei "offene Türen ein", sagt Schnitzler. Sie wurde dafür belohnt: In der gesamten Breisgauer Stadt gewann die Linke achteinhalb Prozentpunkte im Vergleich zur letzten Wahl hinzu und kam auf 16,9 Prozent,  in Weingarten erhielt sie 17,8 Prozent der Zweitstimmen – zweitstärkste Kraft nach der AfD. Knapp dahinter landeten die grünen Wahlkreisgewinner:innen auf dem dritten Platz mit 17,3 Prozent.

Geprägt von Migration

"Wenn sie AfD wählen wollten, dann weil diese Partei Rebellion gegenüber den Verhältnissen ausdrückt", sagt Tomas Wald vom Freiburger Roma Büro. Seine Einschätzung basiert auf Gesprächen mit jungen Leuten aus Weingarten, außerdem lebte er selbst hier. Er macht darauf aufmerksam, dass sehr viele Menschen bei der Wahl überhaupt nicht mitmachen konnten.

Im Stadtteil mit über 11.000 Einwohner:innen waren bei der Bundestagswahl lediglich gut 6.300 wahlberechtigt, viele haben keinen deutschen Pass. Habibo Ismail ist 1989 nach Weingarten gekommen. Er ist Beisitzer des Forums und bietet im Quartiersbüro ehrenamtlich Unterstützung beim Ausfüllen von Bürgergeld-, Wohngeld-, Rentenversicherungs- und Pflegegeldanträgen an. Ansonsten arbeitet er in einem Kiosk. Auf Instagram nennt er sich "Bürgermeister von Weingarten" und hat, wie es sich für einen Bürgermeister gehört, die Menschen aufgefordert, wählen zu gehen. Auch er erklärt das Wahlergebnis für die AfD mit Frustration, und auch er sagt: "Die Leute fühlen sich nicht gehört."

Dabei blickt Ismail genauer auf die migrantischen Milieus. Die sogenannten Spätaussiedler könnten wegen der russlandnahen Politik der AfD ihr Kreuz bei der Partei gemacht haben, vermutet er. "Es geht hier immer wieder um die Ukraine, und dann kommt die AfD und sympathisiert mit Russland. Dann wähle ich als Russlanddeutscher die AfD, aber ohne die Hintergründe zu kennen." Muslimische Migrant:innen, vermutet er, hätten hingegen oftmals das BSW gewählt. In Gesprächen auf der Straße habe er als Grund immer wieder gehört, dass sich das Bündnis Sarah Wagenknecht gegen Israel stelle. "So gewinnt man deren Stimme." Viele würden nur einen Teil sehen, beispielsweise, dass die AfD keine Messerstecher wolle, und deshalb die Partei wählen. Solchen Menschen sage er: "Du siehst nur: 'Wir wollen Messerstecher abschieben', aber nicht, dass sie deine Rente und die Pflegeversicherung kürzen wollen." Auch Armut sei ein großes Problem, sagt Ismail. Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, müssten Flaschen sammeln. "Du kannst heute Abend hier auf der Parkbank sitzen, und dann siehst du, wie alte Rentner die Mülltonnen durchsuchen. Ich finde das beschämend." 

Sie wolle "da wohnen, wo ich nicht immer die Fremde bin, wo Andersartigkeit normal ist", habe seine brasilianische Frau gesagt, als sie 2009 gemeinsam nach Weingarten zogen, sagt Dirk Oesselmann, ebenfalls Forum-Beirat und Professor an der Evangelischen Hochschule (EH). "Politische Wahl ist sehr emotional", sagt er. Die Menschen würden sich nicht aufgrund des Wahl-O-Mat-Ergebnisses entscheiden. Auch er spricht davon, dass es hier das Gefühl gebe, nicht zur Gesellschaft dazuzugehören. Das mache die Menschen für einen Slogan wie "Wir machen alles anders" empfänglich. 

Viel Tiktok, wenig Geschichtskenntnis

"Weingarten wird seit Jahren abgehängt. Dass jetzt viele auf Protest aus sind, verstehe ich", sagt Coralla Reinhardt. Gleichzeitig lehnt sie die AfD strikt ab. Nach der Wahl machte sie eine kleine Umfrage in der Nachbarschaft. Viele junge Menschen hätten sich hauptsächlich über Tiktok informiert, wo Alice Weidel beliebt gewesen sei. Von der deutschen Geschichte hätten sie kaum Ahnung. Reinhardt schockiert das. Die Geschwister ihrer Großmutter haben den Nationalsozialismus nicht überlebt. 

Gemeinsam mit der Jugend will sie mit dem Sinti Verein die Geschichte der Freiburger Sinti aufarbeiten. Sie ist als Bildungsberaterin tätig, vermittelt zwischen Eltern aus der Community und den Schulen. Ein Konzept, dass sich Tomas Wald auch für andere migrantische Communities, nicht nur für Sinti und Roma, vorstellen könnte, beispielsweise für sogenannte Russlanddeutsche. In Weingarten wird diese Arbeit dadurch erschwert, dass es mit der EH zwar eine Hochschule im Stadtteil, nicht aber eine weiterführende Schule gibt. Die Forderungen, diesen Umstand zu ändern, verhallen. Auch gastronomische und kulturelle Angebote sind, anders als im reicheren Osten der Stadt, hier kaum vorhanden.

 "Wenn sich irgendetwas verändern soll und es nicht zu einer rechten Machtergreifung in Deutschland kommen soll, ist es nötig, Demokratie zu erweitern und die demokratischen Räume zu öffnen", sagt Wald. Er denkt insbesondere an die Freiburger Stadtbau und fordert statt Abrisspolitik mit "Dollarzeichen in den Augen" eine Politik gemeinsam mit den Betroffenen. An mehreren Orten in und um Weingarten herum stehen aktuell ältere, günstige Wohnungen zur Disposition.

Nahe der Sinti-Siedlung am Auggener Weg, im Lindenwäldle, wo ebenfalls viele Sinti und Roma wohnen, wurde bei den Wohnungszuschnitten auf die Bewohner:innen eingegangen. Die Mieten werden nach Abriss und Neubau aber selbst in den Sozialwohnungen von fünf bis sechs Euro auf neun Euro pro qm steigen, wodurch einige ärmere Familien vermutlich verdrängt werden. Das löst Zukunftsängste aus. Kürzlich zeigte eine Studie des Zentrums für Europäische Sozialforschung an der Universität Mannheim, "dass insbesondere einkommensschwache Langzeitmieter*innen in städtischen Gebieten stärker zur AfD neigen, wenn die Mietpreise in ihrem Wohnumfeld steigen".

AfD-Erfolg ohne Rassismus

In Weingarten scheinen es soziale Gründe zu sein, die das Wahlergebnis der AfD ausgelöst haben. Eine rassistische Stimmung nimmt Coralla Reinhardt nicht wahr: "Weingarten ist das einzige Fleckle, wo ich nicht diskriminiert werde, außer wenn ich auf dem Spielplatz bin und Leute von außen auf unsere tollen Spielplätze kommen und uns anschauen, als ob wir die Wilden wären." Auch Tomas Wald schaut abgeklärt auf das AfD-Ergebnis im Viertel, die allgemeine Entwicklung aber nimmt er sehr ernst. Die Roma-Community wisse aus jahrhundertelanger Verfolgung, dass sie sich mehrere Orte schaffen müsse: "Wir sind praktisch alle transnational. Man hat jemanden in London, jemanden in Rom. Man gleicht das untereinander ab, schaut wie die Optionen sind und ist wachsam, sodass man in dem Moment, wenn es hier wirklich losgeht, weg ist, nicht mehr in die Falle läuft wie 1933." 

Habibo Ismail habe vor der Wahl den Menschen, die ihn nach seiner persönlichen Meinung gefragt haben, gesagt: "Du kannst alles wählen außer blau." Jemandem, der erklärte, die AfD wählen zu wollen, antwortete er: "Wenn die gewählt werden, bin ich nicht mehr da und kann dir nicht mehr mit deinem Antrag helfen." Mit einer AfD-Regierung, vermutet er, würde es eine Quartiersarbeit wie das Forum Weingarten nicht mehr geben. Deshalb brauche es mehr Aufklärung. Man müsse sich mit den Leuten hinsetzen und persönliche Gespräche führen. Diesen Ansatz verfolgt auch Coralla Reinhardt. "Die Lebensbedingungen müssen sich verbessern", fordert Marie Harzenetter. "Menschen, die hier leben, müssen einbezogen und gehört werden", sagt die Linke Sarah Schnitzler. Ein Appell, der insbesondere bei anstehenden Nachverdichtungs- und Sanierungsprojekten auch in Richtung Freiburger Stadtbau geht. 

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1 Kommentar verfügbar

  • Georg Seider
    vor 1 Woche
    Antworten
    Wie hoch ist das Bildungsniveau von Migranten, um nicht auf das primitive Niveau von AfD und Konsorten hereinzufallen? Das soll in keinster Weise diskriminierend sein. Ich war ehrenamtlich viele Jahre in der Asylantenhilfe tätig. Aber nicht nur bei den meisten Migranten fehlt die Basis einer…
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