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Schwarz-rotes Sondierungsergebnis

"Mit Verlaub, Frau Kollegin"

Schwarz-rotes Sondierungsergebnis: "Mit Verlaub, Frau Kollegin"
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Im Bundestagswahlkampf hat die Union einen konservativen Politikwechsel versprochen. Jetzt will sie einen ganz anderen liefern und mit milliardenschweren Sondervermögen die Schuldenbremse umgehen. In Baden-Württemberg hat derweil ein heftiges Gerangel um die Deutungshoheit begonnen.

Oft kommt es nicht vor, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auf offener Bühne und vor Journalist:innen eines seiner Kabinettsmitglieder zurechtweist. Am Dienstag, 11. März, aber kommt Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) in den wenig rühmlichen Genuss. Die Wirtschaftsministerin betet, teils ablesend, die Sprachregelungen herunter, die in ihrem Landesverband ausgegeben wurden, um zu verschleiern, wie massiv der schwarze Wortbruch ist, wie zentrale Forderungen gerade des Mittelstands im Südwesten nicht erfüllt sind, wie geradezu Gegenteiliges Eingang fand ins Sondierungspapier von Union und SPD, die gerade in Berlin über die Bildung einer neuen Bundesregierung verhandeln. 

Hoffmeister-Kraut erwähnt die Zeitenwende und den Eklat zwischen Trump, Vance und Selenskyj im Oval Office und stellt fest, dass der Kompromiss zur Demokratie gehöre. Lieber nicht reden will sie über die vereinbarten 15 Euro Mindestlohn ab 2026, über Tariftreue, die Beibehaltung der Klimaziele oder des Rentenniveaus. Und sie versucht, den neuen Umgang mit der Schuldenbremse zu kaschieren, denn die bleibe ja erhalten. Trotz milliardenschwerer Sondervermögen für Rüstung und Infrastruktur. Da wird es ihrem Regierungschef zu bunt. Er ergreift das Wort, um "mit Verlaub", der "Frau Kollegin" in die Parade zu fahren: "Wenn man Sonderkredite über 500 Milliarden aufnimmt für zehn Jahre, dann umgeht man die Schuldenbremse zehn Jahre lang. Das muss man sehen, da muss man nicht ruminterpretieren, das gehört zur Wahrheit."

Manuel Hagel hatte sein Fett – milde, wie es in der Regel Kretschmanns Art ist – schon am Aschermittwoch wegbekommen, wollte der CDU-Landes- und Fraktionschef doch dem faktischen Verbot, Schulden aufzunehmen "eine Art Ewigkeitsgarantie" zuschreiben. Immer wieder wurden Hagel in den vergangenen Wochen in Landtagsdebatten, in Talkrunden oder Interviews goldene Brücken gebaut, um diese harte Ansage zu relativieren. Zum Beispiel von der FAZ noch kurz vor Weihnachten mit der Frage, ob er keine Angst habe, mit seiner Meinung spätestens nach der Bundestagswahl am 23. Februar ziemlich allein dazustehen. "Keine Sekunde", antwortete der CDU-Jungstar vollmundig. Er wolle nicht mit dem Koalitionspartner "rumtarocken", konterte der Ministerpräsident auf der Grünen-Kundgebung zum Faschingsende in Biberach, "aber zur Verlässlichkeit gehört auch ein bisserl Weitsicht". Das habe wirklich jeder absehen können, so Kretschmann, dass es in der Schuldenpolitik jetzt so komme, dass "der Kurs gewechselt wird".

Viele Versuche, die Widersprüche wegzuschminken

Wie auch immer es weitergeht in Berlin, die Regierungsarbeit in Baden-Württemberg wird komplizierter. Weil die Landtagswahl im nächsten Frühjahr lange Schatten vorauswirft. Gegenwärtig vor allem, weil die CDU-Führungskräfte im Südwesten, allen voran der Landes- und Fraktionschef selbst, wortreich in der digitalen und der realen Welt versuchen, die Vorgänge seit der Bundestagswahl umzudeuten. Und das in dem Landesverband, den Hagel "zur Zuglok" seiner Partei in ganz Deutschland ausgerufen hat, zur "mit deutlichem Abstand klar stärksten Kraft" mit den steilsten Zuwächsen bei der Bundestagswahl und "sogar vor der CSU". Jetzt ist der Druck besonders heftig. Auch nachdem CDU-Wahlkämpfer:innen gerade dem einflussreichen heimischen Mittelstand wochenlang eine Neuausrichtung der Politik in vielfältiger Weise versprochen hatten, zum Beispiel die Streckung der Klimaziele oder das Ende der Tariftreue- und Lieferkettengesetzgebung. Hoffmeister-Kraut hat einen Mindestlohn von 15 Euro regelmäßig als "Kardinalfehler" gescholten.  

Aber nicht nur zu einigen Aspekten, zu allen fünf Kapiteln im Sondierungspapier von Union und SPD gibt es aus dem Wahlkampf der Südwest-CDU konträre Aussagen – und jetzt in der Folge viele Versuche, diese Widersprüche wegzuschminken. Von der "starken Basis für einen echten Politikwechsel, den die Menschen wollen und den das Land braucht" fabuliert Hagel nach Ende der Sondierungen und davon, dass "die für uns in der CDU Baden-Württemberg wichtigen Punkte mit der SPD geeint" seien. 

Ausgerechnet beim heiklen Thema Migration wird die Umdeutung besonders augenfällig. "Zurückweisungen an den Grenzen kommen, freiwillige Aufnahmeprogramme aus Afghanistan werden beendet – keine Flüge mehr nach Deutschland! Das ist kein Feinschliff, das ist ein echter Kurswechsel", schreibt Hagel. Das Papier liest sich hingegen deutlich differenzierter. "Wir werden freiwillige Bundesaufnahmeprogramme, so weit wie möglich, beenden", steht darin zu lesen. Oder: "Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen." 

Söder bleibt Häme im Halse stecken

Obendrein hängt über allem das vorrangig, aber nicht nur von der bayerischen CSU verantwortete Stimmungstief nach den vielen persönlichen Attacken von Schwarzen auf Grüne. Die könnten längst dicke Folianten füllen, etwa wie CDU-Chef Friedrich Merz eine bei Bundestagsdebatten schon mehrfach von der AfD benutzte Diffamierung Robert Habecks aufgriff und den Vizekanzler als "Kinderbuchautor" lächerlich zu machen versuchte.

Einen neuen Höhepunkt fanden Herabwürdigungen beim Aschermittwoch-Spektakel der CSU in Passau: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder riss den Saal zu bierseligen Beifallsstürmen und Schmähgesängen hin mit einem hämmernden "Grün ist raus, Grün ist raus" und Sprüchen wie "Good bye, gute Reise, auf Nimmerwiedersehen". Noch ärger trieb es sein Generalsekretär Martin Huber, der "kein Geschwafel von Gender und Wokeness" mehr ertragen will und niedrige bayerische Instinkte bediente. Die Grünen, so hat er herausgefunden, besäßen in ihrer Bundestagsfraktion "mehr Geschlechter als Sitze", seien "Auslaufmodell" und "Ramschware" und "unangefochtene Spitzenreiter bei Doppelmoral und Realitätsverweigerung".

Nur fünf Tage später blieb Söder die Häme im Halse stecken, weil die Union aufs Mittun der verhöhnten künftigen Oppositionspartei angewiesen ist: Plötzlich appellierte er, der sonst immer ganz weit vorne mitmischen will, an deren staatspolitische Verantwortung und kündigte an, den anstehenden Gesprächen fernzubleiben. "Ich glaube, es ist für beide Seiten besser, wenn Merz die führt", sagt er im TV-Talk Kreide fressend.

Kretschmann attestiert Merz "steile Lernkurve"

Aber der CDU-Chef hatte im Wahlkampf ebenfalls immer wieder interessante Einblicke in die Psyche des mutmaßlich nächsten Kanzlers erlaubt, gerade mit Blick auf Koalitionen und notwendige Kooperationen. Gern winkte Merz mit einem imaginären Autoschlüssel und erzählte seinem Publikum dies über die potentiellen künftigen Partner:innen: "Sie glauben ja gar nicht, wie nachdenklich die werden, wenn man ihnen den mal vorhält und sie dann die Optionen sehen – am Montag entweder zu Fuß oder Dienstwagen." Dass so etwas die Politikverdrossenheit und -verachtung bei den Leuten nährt, hat er entweder nicht auf dem Schirm im Eifer des Gefechts, oder ihm ist die simple Anstandsregel entfallen, wonach mitnichten der Zweck ein jegliches Mittel heiligt. Jedenfalls steht wieder mal einer vorm Kanzleramt, rüttelt am Zaun und will rein – um fast jeden Preis.

Kretschmann ist zu vornehm, die Häufung der Anfängerfehler des Sauerländers und die Kehrtwende in der Schuldenpolitik zu kommentieren. Dabei wird er bei der allwöchentlichen Regierungspressekonferenz gedrängt, doch gerade zur Anti-Grünen-Kampagne der Schwarzen etwas zu sagen. "In solch herausfordernden Zeiten sind steile Lernkurven die Regel und nicht die Ausnahme" oder mit "Man sieht sich immer zweimal", zieht sich der Ministerpräsident aus der Affäre, um zugleich an die Bund-Länder-Abstimmung zu erinnern. Denn die Grundgesetzänderungen müssten nicht nur den Bundestag, sondern den Bundesrat ebenso passieren. Da ist Markus Söder übrigens nicht als Festzelt-Maulheld, sondern als seriöser Verhandlungspartner gefragt. Denn er hat die sechs Stimmen aus Bayern in der Länderkammer bereits zugesagt – aber die mit ihm koalierenden Freien Wähler verweigern bisher ihr Plazet. 

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2 Kommentare verfügbar

  • Gregor Klaus
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Ihre Häme gibt's kostenlos und ist in diesem Falle von der CDU selbstverschuldet. Geschenkt.

    Wie sie sich aber gleichzeitig über die Häme über Robert Habeck beschweren und einen Kübel Häme über Frau Kraut ausschütten, das ist schon eine echte Meisterleistung.
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