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Pressespaziergang mit Geflüchteten

Von der Meinungsvielfalt

Pressespaziergang mit Geflüchteten: Von der Meinungsvielfalt
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Der Verein Türkische Gemeinde in Baden-Württemberg hat einen Presse-Spaziergang für Sprachschüler:innen des Deutschkollegs angeboten. Am vergangenen Donnerstag ging's durch Stuttgarts Innenstadt auf den Spuren der Pressefreiheit. Als Referentin mit dabei: Anna Hunger von Kontext.

Vor dem Stuttgarter Rathaus warten am Donnerstagvormittag der vergangenen Woche etwa 30 junge Leute des Stuttgarter Deutschkollegs am Treffpunkt. Auf dem Programm der Sprachschule an diesem Tag: der "Mediawalk – Presse-Spaziergang durch Stuttgart". Er ist Teil des Projekts "Deine Meinung zählt!", das von der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg angeboten wird. Die Schüler:innen sind etwa 16 bis 23 Jahre alt, kommen aus der Ukraine, aus Brasilien, den USA, der Türkei und wollen wissen, wie das in Deutschland mit der Pressefreiheit ist. Die wichtigste Info vorab: Medien in Deutschland sind keine Staatsmedien, sondern unabhängig von der Politik. Kennt denn jemand Zeitungen, die es hier gibt? "Heilbronner Stimme!", ruft einer zur Verwunderung von Stadtführerin Anna Hunger. Ein junger Mensch, der eine Lokalzeitung kennt! Das ist nicht selbstverständlich und freut natürlich. Was gibt's noch? Den SWR, diverse Radios, Stuggi TV und Regio TV, die Deutscher Presseagentur dpa, das ZDF hat einen Sitz in der Landeshauptstadt, diverse Zeitschriften, die beiden Blätter aus dem Pressehaus, StZ und StN.

Weiter geht's zum Tagblattturm, dem Wahrzeichen der Pressestadt Stuttgart, war hier doch bis 1943 das "Stuttgarter Neue Tagblatt" ansässig. Also etwas Geschichte: Früher, unterm Kaiser als es noch Zensur gab, gab es in den Redaktionen den sogenannten Sitzredakteur, der für sein Kollegium ins Gefängnis ging, wenn die Obrigkeit wieder mal etwas geschrieben fand, was nicht gefiel. Das sorgt für Lacher. Weniger lustig dann die Frage an die Gruppe: Wie war das mit den Nationalsozialisten in Deutschland und der Pressefreiheit? "Zensur", sagt einer. "Alle Zeitungen waren gleich", jemand anders. Ganz genau. Und wie war das mit den Lizenzen nach dem Krieg? Tatsächlich wissen das viele ziemlich genau.

Gibt es eigentlich überall Pressefreiheit? Eine Rangliste der "Reporter ohne Grenzen" geht durch die Reihen: Norwegen steht auf Platz eins, Nordkorea auf dem letzten Platz 180, Deutschland ist seit 2022 um fünf Punkte auf Platz 21 abgerutscht, weil sich andere Länder deutlich verbessert haben. Größtes Problem hierzulande: Gewalt auf Demonstrationen.

So schwindet die Vielfalt

Ab zum Stadtbüro von "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" beim Hans-im-Glück-Brunnen. Thema hier: der große Reibach, den Verleger in früheren Zeiten mit ihren Zeitungen machen konnten. Und der Anzeigenschwund, nachdem in den Neunzigern das Internet kam, von dem keiner glaubte, dass es sich durchsetzen würde. Und heute? Keine Werbung bedeutet, kein Geld. Schlagwort, nicht nur in Deutschland: Pressekonzentration. Große Medienkonzerne kaufen kleine Medien, meist folgen Entlassungswellen, Redaktionen werden verkleinert oder schließen und plötzlich gibt es weiße Flecken auf der Landkarte, Regionen, in denen es keine einzige Zeitung mehr gibt. Darunter leiden Meinungsvielfalt, Pressefreiheit und nicht zu vergessen die Demokratie, in der Medien als vierte Gewalt unabkömmlich ist. Das Handout mit der grafischen Darstellung der Zeitungstitel, die mittlerweile vom Stuttgarter Medienkonzern SWMH teil- oder ganz geschluckt wurden, sorgt für Ohs und Ahs. Dabei ist sie aus dem Jahr 2019 und damit veraltet.

Ums Eck mäandert eine Menschenschlange vor dem Ausländeramt. Just an diesem Tag berichtete die örtliche Zeitung, das CDU-geführte Justizministerium meine, Geflüchtete seien schuld an der Dysfunktionalität der Behörde. Bestes Beispiel für die Wichtigkeit von Journalist:innen, die frei recherchieren und solchen Aussagen die Wirklichkeit entgegenhalten. Apropos Hetze: Die Bildzeitung, schlichtweg die erfolgreichste Tageszeitung in Deutschland, gibt's natürlich auch in Stuttgart. Zeit also, den Pressekodex hochzuhalten: Was darf Presse eigentlich nicht? Geschichten erfinden zum Beispiel, knallharte Lügen drucken, Hetze verbreiten.

Vorletzte Station: Das Büro der "Süddeutschen Zeitung" über einer Kneipe an der S-Bahn-Haltestelle Stadtmitte ist ein guter Ort, um darüber zu sprechen, mit welch harten Bandagen Pressefreiheit manchmal verteidigt werden muss. Vor ein paar Jahren hatte ein Solarunternehmer die "Süddeutsche" wegen ihm unliebsamer Berichterstattung auf 75 Millionen Euro verklagt. Die Zeitung hielt dagegen, der Streit dauerte Jahre. Wir lernen: Pressefreiheit ist nicht umsonst zu haben, manchmal muss sie mit allem Nachdruck auch vor Gericht erstritten werden.

Was darf Presse im Krieg?

Letzte Station: Die Dachterrasse bei Kontext im Stuttgarter Westen. Die Sonne knallt, Wasserflaschen machen die Runde, Stühle werden in den Schatten gerückt. "Habt Ihr Fragen?", will Anna Hunger wissen. Allerdings. Erstmal geht es um Geld.

"In Deutschland muss man für Radio und Fernsehen bezahlen. Bekommen die Zeitungen davon auch etwas?" fragt ein junger Ukrainer. "Nein", erklärt Hunger. "Zeitungen bekommen davon kein Geld. Die Gebühren sind nur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk." "Warum?" Gute Frage! Kurze Erklärung: Die Alliierten richteten den ÖRR nach dem Zweiten Weltkrieg für Deutschland ein, damit das Volk zur Demokratie findet und Demokratie gibt es eben nur, wenn die Menschen sich frei und seriös informieren können. Ob das heutzutage immer so funktioniert, wie einst gedacht, sei dann wieder ein anderes Thema.

Auch Hunger ist neugierig. "Welche Erfahrungen habt ihr in euren Heimatländern mit der Presse und mit Pressefreiheit gemacht?" Kurze Stille, dann traut sich der erste in der für ihn noch einigermaßen fremden Sprache zu reden. Tymofii, 22, seit einem Jahr in Deutschland: "In der Ukraine informieren die Medien nicht über Angriffe auf LGBTQ+-Menschen." Das ärgere ihn auch, weil die Ukraine ja immer betone, dass sie Teil Europas sei und in die EU wolle. Dann müssten auch die Rechte von LGBTQ+-Menschen ernst genommen werden. Niemand reagiert darauf, eine längere Debatte entspinnt sich um die Frage, wie Pressefreiheit in Kriegszeiten wahrgenommen beziehungsweise gewährt werden sollte. "Das ist eine schwierige Frage", findet Daria, 22, die seit einem knappen Jahr in Deutschland ist. "Alle Journalisten können schreiben, aber ohne Kontrolle." Sie ist unsicher. "Das kann auch Verwirrung unter die Leute bringen." Was gerade im Krieg nicht gut sei. Da müssten die Menschen gestärkt werden.

Ihre Sitznachbarin sieht das anders: "Ich finde es gut, dass es viele Informationen bei uns gibt und man sich entscheiden kann, was man liest und was man für glaubwürdig hält. Wenn es nur eine Meinung gibt, kann man sich aber nicht entscheiden." Es geht ein wenig hin und her zwischen den Positionen. Einig ist man sich, dass es heute in der Ukraine besser bestellt sei um die Pressefreiheit als vor 20 Jahren. Da sei ein regimekritischer Journalist getötet worden. "Heute benennen wir eine Straße nach ihm." Kritisiert wird aber auch, dass es nicht genügend Informationen darüber gebe, "wie die Politiker mit Geld umgehen". Damit habe die Ukraine ein ziemliches Problem. Auch die Berichte über den Kriegsverlauf seien nicht immer richtig. "Da ist immer alles gut", sagt eine weitere Schülerin. Aber das sei nicht die Wahrheit. Sie selbst lese auch ausländische Zeitungen und da stehe oft etwas ganz anderes drin. Ist die Presse in der Ukraine nun frei oder nicht? "Man kann die Wahrheit erfahren, aber nicht aus den Hauptnachrichten", fasst eine junge Frau zusammen.

Zu viel glauben, zu wenig denken

Gül hat härtere Erfahrungen gemacht. Vor einigen Monaten ist sie aus der Türkei nach Deutschland gekommen, lernt nun Deutsch und will später studieren. "Am liebsten Medizin." Sie hat in ihrem Heimatland registriert, dass gerade Twitter-Meldungen von der Regierung oft nur Propaganda seien und nicht stimmten. Außerdem sei es sehr einfach, unliebsame Menschen los zu werden: "Wenn jemand etwas Regierungskritisches twittert, kann jeder eine Nummer bei der Polizei anrufen und die holt den Angezeigten ab. "Das ist wie Gestapo", wirft Tymofii ein. Für Gül ist das größte Problem: "Manche Menschen glauben, aber denken nicht."

Auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei nicht alles so gut, weiß Jasmin. Die 24-Jährige US-Amerikanerin hat in Stuttgart eine Stelle als Architektin gefunden. Sie hat den Eindruck, dass seit Corona die Meinungen extremer geworden seien und Menschen sich entfremden, weil jede und jeder nur die eigene Meinung und die dazugehörenden Medien akzeptiert. "Im Internet werden oppositionelle Meinungen auch oft gelöscht", hat sie beobachtet. So ist das, wenn einem Menschen, hier Elon Musk, reichweitenstarke Nachrichtendienste gehören – dann kann der machen, was er will.


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2 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 17.09.2023
    Antworten
    Auf dem Spaziergang hätte doch gerne auch über die Frage diskutiert werden können, wie es in Deutschand um die Pressefreiheit steht. Stichworte hätten das Verbot der linken Onlineplattform Indymedia LInksunten, die Anklage gegen einen Journalisten von Radio Dreyeckland, der auf das Archiv von…
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