Der ehemalige Richter liebt Musik auch live; um die 100 Konzerte besucht er pro Jahr, fährt dafür durch ganz Deutschland, in angrenzende Länder und auch mal nach Großbritannien. Seine Leidenschaft so auszuleben, scheint kein schlechtes Rezept: Reicherter wirkt meist heiter, lacht gerne und oft.
Begonnen hat es bei ihm, erzählt er, mit 14 oder 15 Jahren. Die Eltern einer Freundin hatten ein Café und darin eine Musikbox, "die aussortierten Singles haben sie für eine Mark verkauft". Das war der Anfang seiner Sammlung. Richtig los ging es mit den Beatles, und anders als viele Fans der Fab Four liebt Reicherter auch die Rolling Stones. The Who, die Beach Boys, The Zombies und und und. Die Sixties überwiegen in seiner Kollektion, aber auch für Neues ist er offen.
Der Strahl des Wasserwerfers änderte alles
Seine Platten kauft er mit Vorliebe bei "Second Hand Records" in Stuttgart. Dort war er auch am 30. September 2010, ehe er mit einer frisch gefüllten Stofftasche voller LPs in den Schlossgarten ging, um sich die Demonstration gegen die anstehenden Baumfällungen für Stuttgart 21 anzuschauen. Bald war er nass wie viele andere, der Strahl des Wasserwerfers traf ihn, obwohl er am Rande des Geschehens stand. "Sowas hatte ich noch nie erlebt", sagt Reicherter. Die Dusche und das brutale Vorgehen der Polizei gegen friedlich Demonstrierende änderten sein Bild vom Staat. "Ich war ja bis vier Wochen davor auf der anderen Seite und dachte, bei der Polizei kann man sich einigermaßen verlassen, dass sie Recht und Ordnung einhält – als Richter muss man das." Diese Gewissheit war dahin nach dem Tag, der bald "Schwarzer Donnerstag" genannt wurde.
Reicherter war entsetzt über das, was er gesehen hatte, und wieder entsetzt, wie darüber berichtet wurde: In den TV-Nachrichten am Abend wurde teils die Behauptung der damaligen Landesregierung unter Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) wiedergegeben, die Demonstranten seien gewalttätig gewesen und die Polizei habe einschreiten müssen. Als er am Morgen des 1. Oktober diesen Tenor auch in der Zeitung las, "habe ich mich im Schlafanzug an den Schreibtisch gesetzt und angefangen, meine Erinnerung aufzuschreiben." Daraus wurde eine Dienstaufsichtsbeschwerde, gerichtet an den damaligen Innenminister Heribert Rech (CDU). Er schickte sie auch an die Presse, an Landtags- und Bundestagsabgeordnete und an Freunde, irgendjemand stellte den Text ins Internet – "und plötzlich stand mein Telefon nicht mehr still."
Mit Stuttgart 21 hatte sich Reicherter bis dahin kaum auseinandergesetzt. Auch jetzt wollte er sich zunächst nur mit dem Schwarzen Donnerstag befassen und nicht mit dem ganzen Projekt. "Aber ich habe relativ schnell gemerkt, dass man das überhaupt nicht trennen kann. Dass bei S 21 genauso gelogen und betrogen wurde wie bei der Aufklärung des Polizeieinsatzes."
Bald nach dem 30. September erhielt er eine Einladung bei den "Juristen zu S 21" mitzumachen, seitdem "wurde es immer mehr". Seit Februar dieses Jahres ist Reicherter Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Sein Engagement hatte zuletzt dazu geführt, dass er durch eine jahrelang beantragte Akteneinsicht nachweisen konnte, wie manipulativ die Regierung Mappus 2010 bei Schlichtung und Untersuchungsausschuss zum 30.9. vorgegangen war (Kontext berichtete). Und dass Mappus im Ausschuss nicht die Wahrheit gesagt hatte. Den Ex-CDU-Ministerpräsidenten dafür strafrechtlich zu belangen, war zu spät – verjährt. Doch ohne Reicherters Beharrlichkeit und seine Kenntnisse als ehemaliger Richter und Staatsanwalt wären diese Details womöglich gar nicht ans Licht gekommen.
Jura war dritte Wahl
Dabei war die Juristerei nicht Reicherters erste Wahl. "Eigentlich hat mich Medizin interessiert. Aber ich konnte kein Blut sehen." Die zweite Wahl war Theologie – aber nachdem er als jüngstes Mitglied des Kirchengemeinderats in Esslingen hinter die Kulissen blicken konnte, "wollte ich auch nicht mehr Theologe werden." Also blieb, an dritter Stelle, Jura.
1966 fing er in Tübingen an zu studieren, die 68er warfen dort damals schon ihre Schatten voraus. Doch richtig dabei in der Studentenbewegung war Reicherter nicht, auch wenn er viele Forderungen teilte. Bei Aktionen wurde damals auch mal der Zugang zur Uni versperrt, "das hat mich abgeschreckt. Wenn ich eines nicht leiden kann, dann wenn mir andere sagen, was ich machen soll, wenn ich nicht die Chance habe, mich selbst zu entscheiden." Politisch fühlte er sich der SPD und ihrem Vorsitzenden Willy Brandt verbunden, der Einfluss des Vaters, SPD-Mitglied, aktiv in Gemeinde- und Kreisrat. "Aber ich selbst war nie Mitglied."
Anders gekommen als gedacht ist es immer wieder in Dieter Reicherters Leben. So wäre der Skandinavienbegeisterte während seiner Studienzeit fast nach Finnland ausgewandert, dort hatte er eine Freundin. Er lernte Finnisch, weil sie kein Englisch konnte, die Fernbeziehung fand ein Ende, als Reicherter seine spätere Frau kennenlernte.
Unfreiwillig zum Strafrecht – und geblieben
Nach Studium und Referendarszeit wollte er eigentlich seine Doktorarbeit schreiben: über die Übernahme der freien Reichsstadt Esslingen durch das Herzogtum Württemberg 1803. Er hatte alles Material beieinander, da zwang ihn 1976 eine bevorstehende Stellensperre im Justizbereich, sich zu entscheiden: "Entweder jetzt anfangen bei der Justiz und die Dissertation vielleicht später fertig machen, oder jetzt fertig machen und keine Stelle kriegen." Er entschied sich für die Stelle.
Doch auch die – in der Assessorenzeit konnte er nicht wählen – entsprach nicht seinen Zielen. Verwaltungsrecht lag ihm, erzählt Reicherter, "und ich war todunglücklich, dass ich zur Staatsanwaltschaft musste." Dann fand er Gefallen am Strafrecht – und blieb dabei. Es folgten Stationen beim Amtsgericht Stuttgart, beim Landgericht Stuttgart in der Jugendkammer, wieder Staatsanwaltschaft, Amtsgericht in Ludwigsburg, dann wieder das Landgericht, das – nach weiteren Zwischenstationen – auch seine letzte Arbeitsstätte werden sollte, als Vorsitzender Richter einer kleinen Strafkammer.
Seine schönsten Erinnerungen hat er an Verfahren, in denen es zu keinen oder milden Strafen kam. Etwa, als sich herausstellte, dass ein per Überwachungskamera vermeintlich des Diebstahls Überführter doch nicht der Schuldige war, "und da habe ich ihn freigesprochen", sagt Reicherter. "Man stellt sich immer vor, als Richter müsse man zuschlagen, aber das stimmt überhaupt nicht."
Zum 1. September 2010 ging Reicherter in den Ruhestand, vorzeitig, mit 63 Jahren. "Hauptgrund war, dass meine Mutter pflegebedürftig war, um sie wollte ich mich mehr kümmern." Als angenehmste Erfahrung dieses neuen Lebensabschnitts nennt er: "am Wochenende keine Akten lesen müssen, am Montagmorgen entspannt frühstücken können." Dann kam der Schwarze Donnerstag. Seitdem liest er wieder viele Akten.
2 Kommentare verfügbar
Nico
am 03.10.2022Respektabler u integerer u freundlich charmant intelligenter Schwabe, der Hr. Reicherter.
Weckt bei mir Erinnerungen an die Beschäftigung mit dem 'Armen Konrad' Bauernaufstand im Remstal, Beutelsbach.
Die Macht kann nur durch Hinterfotzigkeit u…