Seitdem lebt Tatjana Matter nicht mehr in ihrem Haus in Jungnau. Die NachbarInnen wissen nicht, wo sie ist, sind besorgt, manchmal leeren sie Matters Briefkasten. Ein Nachbar, um die Neunzig, kommt gerade aus seiner Schmiede-Werkstatt und trägt eine Art Arbeitskleidung, "Des isch a Wilde" mit "wilde Kinder", sagt er. Dabei scheint der alte Mann durchaus Sympathien für die Steinbildhauerin zu pflegen: "Sie hat scho was im Hirn". Matter habe den Stammtisch zu sich nach Hause eingeladen und angeboten, am Dorffest an der Bar zu arbeiten, erzählt er. Manchen DorfbewohnerInnen war das anscheinend zu stürmisch. Sie sei darauf hingewiesen worden, dass ihr Platz – zumindest vorerst – vor der Bar ist.
Der alte Mann meint, Projekte wie die KünstlerInnen-Gemeinschaft und die alternative Lebensform seien für ihn von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen: "Das geht bei uns nicht. Bei uns heißt es: Bleib aufm Land und schaff redlich." Die Polizeimeldung vom 2. Mai kennt er. Matter habe bei der Verkehrskontrolle "die Polizei gebissen". Gerüchte verbreiten sich bekanntermaßen schnell und variantenreich – erst recht auf dem Land.
Seit dem 2. Mai ist das große Haus mit dem wunderschönen Garten in der Mitte des Dorfes unbewohnt. Der bunte Bauwagen auf der Wiese ist verlassen, die Luft aus den Reifen der Fahrräder vor der Tür gewichen, der VW steht mit einem Platten an einem Stein. Auf den, so heißt es in der Polizeimeldung, sei sie draufgefahren. Im Beschluss der Staatsanwaltschaft Hechingen ist zu lesen, dass Matter der Trunkenheit im Verkehr beschuldigt wird. Die Fahruntüchtigkeit habe sich darin gezeigt, dass die Beschuldigte langsam fuhr, mehrmals auf die Gegenspur abkam und vor ihrem Haus auf einen Stein gefahren sei. Den Führerschein haben die Beamten einbehalten.
Gunst und Gnade
Matter sitzt in einer Hütte im Tübinger Wald, in die sie sich vor den Vorkommnissen in Jungnau geflüchtet hat. Sie ist sichtlich erschöpft, spricht schnell und hat Mühe, die Ereignisse zu sortieren. Sie kniet auf den Holzdielen im Wohnzimmer, Stück für Stück wickelt sie behutsam filigrane schwarze Wachsmodelle aus Tüchern und arrangiert sie, balanciert eine Figur auf einer anderen aus: Es geht um Gunst und Gnade.
Dann zeigt sie Bilder und Videos auf ihrem Handy, die ihr Freund von der Verhaftung und deren Folgen gemacht hat. Sie zeigt ein Foto, auf dem ein riesiger blau-gelber Fleck und rot hervortretende Einstichstellen zu sehen sind. Ihr Handgelenk schmerzt noch nach Monaten und erschwert ihre Arbeit.
Nach Jungnau zurück traut sie sich nicht. "Weil ich mit dieser Willkür nicht leben kann", meint Matter. Mit "Willkür" meine sie vor allem die Vorkommnisse im Rahmen der Verkehrskontrolle vom 1. Mai. Und die Erzählungen, die im Dorf davon kursieren.
Auf der einen Seite eine offizielle Polizeimeldung über eine betrunkene Autofahrerin, die Polizisten angreift. Auf der anderen der Vorwurf von Polizeiwillkür aus Sicht der Betroffenen. Aussage gegen Aussage – und erstere erscheint zunächst glaubhafter, geprüfter, in der Zeitung veröffentlicht. Gäbe es da nicht diese Tonaufnahme auf Matters Handy.
Das Handy hört mit – neun Stunden lang
Das Telefon sei im Trubel zu Boden gefallen, die Beamten hätten es aufgelesen und mitgenommen. Die Aufnahmefunktion sei aus Versehen aktiviert gewesen, sagt Matter. Das Handy hat die Verkehrskontrolle aufgenommen, die Festnahme, es lag wohl im Polizeiauto und auf der Polizeistation, während Matter zur Blutabnahme im Krankenhaus und in Gewahrsam war. Insgesamt neun Stunden soll die Aufnahme umfassen. Matters Anwalt hat dem Amtsgericht Sigmaringen und der zuständigen Staatsanwaltschaft ein Protokoll dieses Audios und die Tonaufnahme vorgelegt. Das Protokoll liegt auch Kontext vor.
In bestem Schwäbisch wird Matter wüst beschimpft. Sie sei außerdem eine links-grüne Bazille und das sei auch der Grund für die Kontrolle und den Gewahrsam.
Matter berichtet, ein Polizist soll in der Aufnahme von seiner Schwiegermutter gesprochen haben, einer Nachbarin von Matter, die ihm schon schlimme Geschichten über die Alternativen von nebenan erzählt habe. Es freue ihn, dass Matter nun in Gewahrsam genommen wurde, weil sie eine blöde Hippie-Sau sei, soll der Beamte gesagt haben. Der Polizist habe sie schon häufiger gern mal kontrollieren wollen, bei Matter würden Althippies aus dem Tübinger Epplehaus ein und aus gehen.
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B. Brecht
am 16.03.2023