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Windelversorgung

"Wir bitten um etwas Geduld"

Windelversorgung: "Wir bitten um etwas Geduld"
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Die Krankenkasse will die Windeln für die mehrfach schwerstbehinderte Anne Hofmann nicht zahlen. Für die Eltern der 19-Jährigen bedeutet das zermürbenden Aufwand. Kein Einzelfall. Eltern von behinderten Kindern haben nun eine Petition gestartet.

Seit 19 Jahren leiden Ursula Hofmann und ihr Mann an Schlafmangel. Tochter Anne hat einen seltenen Gendefekt, sie kann sich nicht verständigen, laufen kann sie nur mit Hilfe. Weil sie beim Atmen Luft schluckt, hat sie einen Schlauch im Bauch, der stündlich geöffnet werden muss. Sie zu versorgen ist eine 24-Stunden-Aufgabe.

Ursula Hofmann ist eine taffe Frau. Sie leitet den Verein "Rückenwind", in dem Mütter mit schwerstbehinderten Kindern sich gegenseitig stützen und versuchen, politisch Einfluss zu nehmen: für eine bessere Versorgung und für mehr Unterstützung von Familien mit diesem Schicksal (Kontext berichtete). Deswegen schreibt Hofmann Briefe an PolitikerInnen, an Verwaltungen und aktuell an ihre Krankenkasse, die Techniker (TK). Denn die will plötzlich die bewährten Windeln nicht ohne Weiteres bezahlen und hat den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MD) angewiesen, den tatsächlichen Bedarf von Anne zu überprüfen. Und das dauert.

Anne benötigt viel Flüssigkeit, also braucht sie viele Windeln. Es ist nicht so einfach, den individuell passenden "aufsaugenden Inkontinenzartikel", wie es im Krankenkassendeutsch heißt, zu finden. Einen passenden hatten die Hofmanns vor einigen Jahren entdeckt: bestimmte Windeln der Firma Hartmann und zwar sechs Stück pro Tag. Bisher hat die TK das bezahlt, doch mit dem Jahreswechsel hat sich für die Kasse offenbar etwas an Annes Windelbedarf geändert. "Was glauben die?", fragt Ursula Hofmann. "Dass Anne jetzt weniger pinkelt? Oder meinen die, dass Anne jetzt, wo sie volljährig ist, arbeiten geht und Geld verdient?" Die ausgebildete Hebamme ist stinksauer. Zumal das Prozedere nun schon mehr als sechs Wochen dauert. Sechs Wochen, in denen Hofmanns die Windeln selbst zahlen, bislang knapp 200 Euro.

Glauben Kassen den Ärzten nicht?

Anfang Januar hatte Ursula Hofmann wie gewohnt bei der Firma Hartmann neue Windeln bestellt. Nichts passierte. Weil die erfahrene Frau ahnt, was auf sie zukommt, führt sie ein detailliertes Protokoll über die anschließenden Telefonate und Briefwechsel. Auf Nachfrage bei Hartmann erklärte ihr die Firma, das Rezept sei noch nicht von der TK genehmigt, deswegen dürfe sie keine Windeln verschicken. Also ein Anruf bei der TK. Dort ist ein Mitarbeiter erstaunt und verspricht, er werde den Versand klären. Dass der MD eingeschaltet wurde, erfährt Ursula Hofmann nicht. Die TK ruft am selben Tag wieder an: Die Firma Hartmann dürfe nur aufzahlungsfreie Windeln liefern, die Kostenfrage sei noch nicht geklärt. Hofmann erläutert, sie habe mittlerweile selbst passende Windeln gekauft, weil keine mehr da waren. Die TK-Frau sagt, das bezahle die Kasse nicht. Dafür hätte Frau Hofmann vorab einen Antrag auf Kostenübernahme stellen müssen, allerdings dann nur ein zuzahlungsfreies Produkt kaufen dürfen. Aber jetzt würde ihr die Firma alternative, zuzahlungsfreie Produkte schicken. Hofmann: "Ich erklärte der Dame von der TK, diese Produkte kenne ich schon und die würden nicht funktionieren." TK: Die Vorgaben seien nun mal so.

16. Januar: Ein Brief der TK mit einem Formular für den Medizinischen Dienst trifft ein. Hofmanns sollen bis zum 20. Januar – also binnen vier Tagen – Unterlagen schicken. Angefordert werden Unterlagen, die besagen, aus welchem Grund die Versorgung mit den bestimmten Windeln notwendig sei; welche Produkte wurden bereits getestet und mit welchem Erfolg? Zudem soll ein Miktionsprotokoll angefertigt werden – Ursula Hofmann soll also aufschreiben, wann und wie viel Liter Anne trinkt, wann und wie viel Liter sie pinkelt. Zudem möchte der MD eine ausführliche ärztliche Stellungnahme.

Hofmann erklärt: "Das alles habe ich bereits im November 2019 auf Anforderung der TK gemacht. Damals habe ich alternative Windeln getestet, auch die Schule hat aufgeschrieben, wie schlecht die Dinger waren. Ich habe denen damals Fotos geschickt von den verklumpten Windeln und den durchnässten Hosen. Geantwortet hatte die TK mir darauf nicht, aber Anfang 2020 meldete sich die Firma Hartmann und sagte, die Kasse habe der doppelten Pauschale zugestimmt und wir könnten wieder mit den bekannten und bewährten Windeln beliefert werden. Warum jetzt alles nochmal?" Sie hat dem MD die Unterlagen von vor einem Jahr nochmal geschickt. Inklusive Windel- und nasse-Hosen-Fotos. Seitdem wartet sie.

TK arbeitet nach Vorschrift

Kontext hat bei der TK gefragt, warum jetzt wieder geprüft werde. Das beantwortet deren Pressestelle nicht. Stattdessen heiße es: "Zur Windelversorgung hat die TK Verträge mit Sanitätshäusern, bundesweiten Anbietern und Apotheken abgeschlossen. Somit stellen wir flächendeckend die Versorgung der Versicherten sicher und vereinfachen den Prozess durch die direkte Vertragspartnersuche." Und: "Da wir verantwortungsvoll mit Versichertengeldern umgehen, sind Einzelfallprüfungen manchmal unumgänglich. Es kann aber nicht von einer systematischen Infragestellung ärztlicher Verordnungen die Rede sein." Zum Fall Anne Hofmann könne die TK erst etwas sagen, wenn der Medizinische Dienst sich geäußert habe. Die Rückmeldung des MD "soll in den nächsten Tagen bei uns eingehen". Ursula Hofmann erhielt mittlerweile von der TK einen Brief mit der Nachricht: "Wir bitten Sie noch um etwas Geduld. Vielen Dank."

"Es ärgert mich dermaßen, dass wir immer wieder nachweisen müssen, was unsere Kinder warum benötigen – obwohl sogar ärztliche Atteste vorliegen. Aber offenbar glauben Kassen den Ärzten nicht." Hofmann zählt auf, womit sie sich in den vergangenen Jahren so beschäftigen musste: "Orthopädische Einlagen und die dazu passenden speziellen Schuhe wurden ärztlich verschrieben – Einlagen genehmigt, Schuhe nicht. Widerspruch eingelegt, Schuhe genehmigt. Motomed, ein Trainingsgerät für daheim, ärztlich verschrieben – zwei Mal abgelehnt mit der Begründung, ich solle öfter zur Physio mit Anne fahren. Nach dem zweiten Widerspruch genehmigt. Zwei waschbare Bettschutzunterlagen abgelehnt, Widerspruch geschrieben, genehmigt. Spezieller Kinderstuhl, mit dem Anne in der Schule sehr gut klarkam, abgelehnt, weil es kein orthopädischer Stuhl war – der übrigens doppelt so teuer wäre. Widerspruch geschrieben, genehmigt." Sie könne ja Briefe formulieren, sagt Hofmann. Aber es koste immer Zeit, es sei immer mit Ärger verbunden. "Was glauben Sie, wie viele Eltern das nicht können oder keine Nerven mehr dafür haben, weil wir pflegenden Eltern wirklich mehr als genug zu tun haben …" Hofmann findet es unverschämt, wie wenig Unterstützung Familien mit behinderten Kindern erfahren. "Das System funktioniert einfach nicht."

Eine Petition soll helfen

Die Esslinger Familie ist kein Einzelfall. Verena Niethammer aus Nordheim bei Heilbronn, Vorsitzende von "Hölder – Initiative für Kultur und Inklusion" und Mutter eines schwerstbehinderten Sohnes, hat andere betroffene Eltern aufgerufen, ihr von ihren Hilfsmittel-Ablehnungen durch Krankenkassen zu schreiben. Quer durch mehrere Krankenkassen geht es um Windeln, Reha-Buggys, Autositze, Spezialnahrung, Windeln, Therapieräder, Rollstühle, Windeln. Die Berichte haben die Eltern selbst geschrieben und aus jedem Satz spricht Verzweiflung. Hofmann: "Weil wir immer am Rande unserer Kräfte sind. Eltern, die ihre schwerbehinderten Kinder selber pflegen, stehen ständig unter Strom. Eine Bekannte von Rückenwind sagte mir neulich: 'Zoomkonferenz um 20 Uhr? Da gehe ich ins Bett, weil ich so fertig bin.' Was sind denn das für Leben?"

Der Familie Lechleuthner aus Bayern reichte es nun. Sie haben einen vierjährigen schwerstbehinderten Sohn und ebenfalls schon viel Erfahrung mit den Steinen, die Kranken- beziehungsweise Pflegekassen ihnen in den Weg legen. Das Arzt-Ehepaar hat eine Petition gestartet: Stoppt die Blockade der Krankenkassen bei der Versorgung schwerstbehinderter Kinder. Bislang haben knapp 35.000 Menschen unterschrieben. Wenn es in den nächsten drei Wochen 50.000 werden, muss sich der Petitionsausschuss des Bundestages damit befassen.


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3 Kommentare verfügbar

  • Carmen Lechleuthner
    am 11.02.2021
    Antworten
    Mit Versicherungsgelder sorgsam umgehen heißt aber auch unnötige Überprüfungen unterlassen. Denn was sollte sich denn verändert haben? Wieviel kostet dieser Aufwand? Und am Ende kommt raus, sie braucht dieselbe Windelversorgung wie bisher....
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