Nein, es gibt ein Grundmisstrauen gegen die Zukunft. Viele spüren, dass die Welt sich verändert, und versuchen reflexartig, Kontrolle über ihre Umgebung wiederzuerlangen. Beim Thema Migration meint man dann, mit harter Hand lässt sich das schon richten, und alles bleibt wie früher. Das ist schon neurotisch, wie in Deutschland so getan wird, als könnte man alles bis ins letzte Detail kontrollieren. Und es zeigt auch, dass wir eine alternde Gesellschaft sind. Das ist eine Art Selbstberuhigung. Die aber zur Beunruhigung führt, wenn es nicht gelingt. Man könnte stattdessen ja auch den eigenen Konsum kontrollieren, um Fluchtursachen zu bekämpfen, das ist vielen aber schon zu stressig und zu teuer. Das Thema Migration ist gerade der Blitzableiter für jede noch so diffuse Angst in diesen Zeiten. Die eigenen Widersprüche fallen dabei unter den Tisch.
Was ist also zu tun?
Eine stabile Demokratie braucht eine starke Mittelschicht, die eine Grundgelassenheit in den Diskurs bringt, und die wirtschaftliche Sicherheit, sich als Bürger engagieren zu können. Bürgersein kostet ja Zeit, Deutschland kann das nicht den Rentnern überlassen. Die Bürger müssen neben ihrer Arbeit und Familie Zeit haben, Bürger zu sein. Sozialpolitik ist in diesem Sinn die beste Sicherheitspolitik. Vor Jahren schon wurde davor gewarnt, dass durch die Kulturalisierung und Ethnisierung von Diskursen andere Bereiche wie etwa die ungerechte Verteilung von Wohlstand aus dem Blickfeld geraten könnten. Der bedürftige Einwanderer ist als Gegner einfacher als Konzerne und Superreiche: Das bringt Leute wie mich in die Bredouille, weil wir über die Themen sprechen möchten, etwa über Missstände wie mangelnde Teilhabe von Migranten. Gleichzeit werden diese neuen Debattenlinien, wird die Schärfung des "Migranten" als Konzept missbraucht, um wichtige Probleme unserer Gesellschaft nicht ausreichend zu thematisieren.
Was kann man also aus den Integrationsversäumnissen der Vergangenheit lernen?
Ein großer Fehler war die Wohnungspolitik. Ein türkischer Taxifahrer erzählte mir diese Woche, dass sein Kind nun in eine Privatschule gehe, weil er eine vielfältige Klasse will und nicht nur ein oder zwei Ethnien. Er sagte, damals, als seine türkische Familie nach Berlin kam, habe man ihnen nur Kreuzberg, Neukölln oder Wedding angeboten. Ich hab das noch nicht überprüft. Aber mir scheint dezentrales Wohnen für viele Deutsche – und Einwanderer hierzulande – relevant zu sein. Wobei da so manche privilegierten Hausbesitzer sicher nicht viel davon halten. Aber es könnte eine Besonderheit der deutschen Integration sein, dass man gezielt durchmischt, statt einzelne Viertel zu schaffen. Es gibt den Anspruch, einen Konsens zu finden, zu dem sich viele bekennen können. Das ist zunächst mal die Gelegenheit, eine Wertedebatte zu führen. Leider entgleitet sie zu oft und wird zur Ausgrenzungsdebatte. Das könnte man sehr leicht mit einem Blick in die Geschichtsbücher aushebeln. Die Gastarbeiterdesintegration bietet zig Lektionen über Ausgrenzungsmechanismen, zum Beispiel die "Duldungen", die man damals den Gastarbeitern als Aufenthaltsstatus zugemutet hat und heute den Flüchtlingen. Man muss diese Fehler dann nur eben vermeiden wollen und nicht vorne herum Integration fordern und sie hinten herum erschweren.
Und wann gehen Sie in die Politik, Frau Marinic?
Ich bin in der Politik. Jeder Bürger ist in der Politik. Es wäre ein Fehler, die Politik für eine Sache der Politiker zu halten. Für das Durchsetzen werde ich allerdings am Sonntag mein Kreuz setzen. Ich lebe ja in einer repräsentativen Demokratie und finde das ganz gut so.
Info:
Jagoda Marinić , 39, ist Schriftstellerin und Journalistin und leitet seit 2012 das Interkulturelle Zentrum Heidelberg. Geboren und aufgewachsen ist sie in Baden-Württemberg, ihre Eltern sind aus Kroatien eingewandert. In ihren Büchern und Essays beschäftigt sie sich mit Migration und Integration.
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Stefan Ohm
am 13.09.2017