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Panikmache gegen Toleranz und Vielfalt

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Ein neues, tolerantes Gesicht will Grün-Rot dem Land "durch die Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern" geben. So steht es schon im fast vier Jahre alten Koalitionsvertrag. Jeder Schritt auf dem Weg zur Einlösung des Versprechens gibt Konservativen Anlass, mit immer neuen Unwahrheiten Ängste zu schüren.

Es weht ein kalter Wind über den Schillerplatz an diesem Samstagnachmittag. Zufällig vorbeikommende Passanten wundern sich über die Einsatzhundertschaften, die so gar nicht zur Familienfest-Stimmung passen, die die Veranstalter verbreiten möchten. Ein Kastenwagen aus Sachsen-Anhalt mit der Kennzeichen JL für Jerichower Land ist vorgefahren. Helfende Hände laden Dutzende von bunten Protestplakaten mit dummen Sprüchen aus. "Wir kennen uns aus Hannover, schön, dass wir uns wiedersehen", sagt ein Mitzwanziger im Sweater samt "Demo für alle"-Logo zu einem der Redner. Ein anderer instruiert gerade ein halbes Dutzend Männer, die in gebrochenem Deutsch fragen, worum er eigentlich gehe. Sie streifen sich die Armbinde mit dem Aufdruck "Ordner" bereitwillig über, um sich dann stolz gegenseitig zu fotografieren.

Tausend Teilnehmer wird die Polizei später vermelden. Viele sind im Großeltern-Alter, aber auch Kinder, die noch gar nicht lesen können, schwenken Schilder in Rosa und Hellblau. Auf denen stehen Parolen wie "Ehe und Familie gehen vor", "Gleichmacherei: Nein!" oder "Indoktrination stoppen". Einige bekannte Gesichter wollen nicht übersehen werden. AfD-Stadtrat Heinrich Fiechtner hält Hof. Natürlich ist die Südwest-CDU ebenfalls vertreten, durch Pfarrer Johannes Bräuchle vom Evangelischen Arbeitskreis der Partei oder durch Christoph Schwarnweber.

Der hatte schon vehement gegen die Verankerung einer Kultur der Vielfalt in den neuen Bildungsplänen Stimmung gemacht und zum außerparlamentarischen Widerstand in ganz Baden-Württemberg aufgerufen. Josef Dichgans, Vorsitzender der Christdemokraten für das Leben, einer anderen Splittergruppe in der CDU, fantasiert, der neue Aktionsplan solle "die menschliche Sexualität von ihrem natürlichen Sinn entkoppeln". Keine Distanzierungen aus dem Landesvorstand oder gar von Landeschef Thomas Strobl, der den CDU-Landesverband doch modernisieren wollte. Mehr noch: Strobl will Schwarnweber, den Parteifreund von stattlicher Statur, gar nicht kennen, wiewohl sie beide aus Heilbronn sind. 

Auslöser der gesteuerten Aufregung ist der ebenfalls schon im Koalitionsvertrag festgeschriebene <link http: ba-wue.lsvd.de projekte-aktionen spezielle-themen-in-bawu _blank>Aktionsplan für Toleranz und Gleichstellung, in dessen Rahmen Konzepte zu entwickeln sind, "um Vorurteile abzubauen und Baden-Württemberg zu einem Vorreiter für Offenheit und Vielfalt zu machen". Seit bald drei Jahren liegt ein entsprechender Kabinettsbeschluss auf dem Tisch, ein Beirat, in dem auch CDU und FDP vertreten sind, unterstützt die Beratungen, die wissenschaftliche Begleitung läuft ebenfalls, regionale Workshops und eine Online-Befragung haben stattgefunden. An Letzterer beteiligten sich mehr als 2000 Menschen. Die Ergebnisse sind auf 67 Seiten zusammengefasst und stehen seit Wochen im Netz.

"Weg zum Abbau von Diskriminierungen konsequent weiter gehen"

Betroffene seien "besonders häufig herabsetzenden Reaktionen wie Gaffen, Imitieren und Lächerlich-Machen ausgesetzt", würden nicht ernst genommen, nicht anerkannt, beleidigt oder unfreiwillig geoutet, steht darin zu lesen. Am häufigsten seien "Getuschel und Gerüchte am Arbeits- oder Ausbildungsplatz, gefolgt von Witzen und nicht ernst nehmen". Ein Teil der "transsexuellen, transgender und aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität queeren Menschen erleben zudem, dass sie nicht im gewünschten Geschlecht angesprochen, ihnen Zugänge zur Toilette ihres neuen Geschlechts verweigert oder sie gezwungen wurden, im früheren Geschlecht weiter zu arbeiten". In ihrem Vorwort bekennt die zuständige Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD), wie sehr sie gerade die vielen Berichte über persönliche Diskriminierungserfahrungen berührt hätten – und bestärkt zugleich, "den eingeschlagenen Weg zum Abbau von Diskriminierungen konsequent weiter zu gehen". 

Alle Ministerien waren aufgerufen, sich Gedanken zu machen und Ideen zu entwickeln. Seit Ende Januar liegen 210 Anregungen schriftlich vor. Die "Stuttgarter Nachrichten" sahen sich aufgerufen, diese als "Maßnahmen-Katalog" im Internet öffentlich zu machen. Sie zitierten die AfD, an die das Papier durchgestochen worden sei und die jetzt mobil mache gegen den Aktionsplan. Damit alle Interessierten die acht dicht beschriebenen, farblich unterlegten Seiten richtig verstehen, wird eine Legende mitgeliefert: Grün steht danach für "könnte man nach Ansicht der Landesregierung machen", Gelb für "es gibt noch Klärungsbedarf" und Rot für "bereits abgelehnt". Unterschlagen bleibt, dass überhaupt nur 21 der 161 grünen und gelben Maßnahmen als "ausgereift" bewertet sind. "Das ist nicht der Aktionsplan", ärgert sich Helmut Zorell, Sprecher in Altpeters Sozialministerium. Das sei auch kein Maßnahmenkatalog, es handle sich um Ideen und Vorschläge.

Wer an allem anderen als an Versachlichung interessiert ist, will von solchen Einordnungen nichts wissen. Der Stein ist im Wasser und zieht seine Kreise. Vor allem natürlich in einschlägigen Foren. Da rücken Interessierte den Aktionsplan, der gar keiner ist, fälschlich in die Nähe des Bildungsplans für alle Schulen im Land. Wozu selbst vergleichsweise seriöse CDU-Politiker ihr Scherflein beitragen. Es könne nicht sein, dass nun doch Vorgaben für die Schulen durch die Hintertür eingeführt werden, sagt der frühere Staatssekretär im Kultusministerium, Georg Wacker.

"Kritische Betrachtung des Dudens"

Dabei kommt kein einziger der ausgereiften und als machbar eingestuften Vorschläge aus dem Kultusministerium. Andere gehen – wie immer gerne anonym – deutlich schärfer zur Sache: "Das hat mit Gleichberechtigung nichts zu tun, sondern mit Besserstellung homosexueller und pädophiler Grüner gegenüber allen anderen." Niemals kämen die Grünen von ihrem "Gutmenschen-Gesinnungsterror-Trip" herunter. "Die links/grüne Ideologie" werde "schon unseren Kleinsten ins Gehirn gehämmert, um schon frühzeitig ihren Nachwuchs zu rekrutieren".

Mitinitiatoren der Demo vom Samstag behaupten online, dass "rote Maßnahmen" gar nicht verworfen worden seien. Potenzial zum Aufregerthema in der "Demo für alle"-Szene und bei anderen Konservativen haben Vorschläge wie die Prüfung eines Adoptionsrechts, eine "kritische Betrachtung des Dudens" mit Blick auf geschlechtersensible Sprache oder die Abschaffung von Diskriminierungen von verpartnerten Paaren im Sterbefall.

Manche der Foristen verschweigen zwar ihren Namen, outen aber herzhaft ihre Gesinnung, etwa die, die als "Kornblume", kombiniert mit unterschiedlichen Ziffern, ihr Unwesen treiben – dem einstige Erkennungszeichen illegaler Nationalsozialisten. "Nur die Ehe ist natürlich", ereifert sich eine Frau auf dem Schillerplatz. Und eine hat keine Hemmungen, umstehenden Medienvertretern ihre Einsicht in den Block zu diktieren, dass Homosexualität eine Krankheit und von Jesus heilbar ist. "Unsere Kinder bekommt ihr nicht", ruft eine der Rednerinnnen an die Adresse der Landesregierung.

Auch deshalb ist Katrin Altpeter unbeirrbar: Der Aktionsplan kommt. Der Nachholbedarf in dem so lange von der CDU geprägten Land sei riesig. Mindestens zwei weitere Beiratssitzungen sollen noch stattfinden, um die Ideen in zwei endgültige Kategorien einzuteilen: grüne und rote. Und überhaupt erst dann fällt die Entscheidung, welche Pläne konkret realisiert werden. Als Beispiel nennt Zorell Informationen für Altenpfleger und -pflegerinnen, um sie dafür zu sensibilisieren, dass "Familie nicht nur aus Papa und Mama bestehen muss". Grün-Rot plane "keinen Maßnahmenkatalog, sondern einen politischen Aktionsplan zum Abbau von Diskriminierung". 

Aus Schaden klug geworden, finden bildungspolitische Anregungen darin möglicherweise gar keine Aufnahme. Altpeter will den Blick auf dringend notwendige Veränderungen durch immer neu angeheizten Widerstand nicht getrübt sehen. "Ich finde es traurig, wie herablassend Sie über den Aktionsplan berichten, der von über 70 Organisationen und mehreren Hundert Teilnehmern in ehrenamtlicher Arbeit zusammengestellt wurde", schreibt eine Internet-Kommentatorin an die "Stuttgarter Nachrichten". Immerhin seien rund 500 000 Menschen in Baden-Württemberg davon betroffen. Und alle aufgeklärten Eltern müssten doch immer damit rechnen, dass auch ihr Kind darunterfallen könnte: "Was dann? Schämen, verstecken, schweigen, Selbstmord wie leider immer noch oft? Oder annehmen, aufklären, freuen und feiern? Wäre doch so schön? Zu schön? Es wird uns nichts geschenkt. Aber lasst uns weiter daran arbeiten."


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