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Haartransplantationen in der Politik

Die unheimliche Frisur

Haartransplantationen in der Politik: Die unheimliche Frisur
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Wie glaubwürdig sollen Politiker sein, die sogar den eigenen Körper und Kopf manipulieren? Besonders kafkaesk ist, was in und auf dem Kopf von Florian Stegmann passiert, dem Chef von Baden-Württembergs Staatskanzlei.

Auf den ersten Blick erscheint die Frisur als Thema für den Boulevard – ist Kontext jetzt zu einem Blatt mutiert, das gutes Aussehen zur Voraussetzung für gute Politik erklären will? Ganz so schlimm ist es nicht. Ein schöner Haarschnitt soll hier nicht mit Kompetenz verwechselt werden. Doch in einer Welt, in der die Präsentation der äußeren Erscheinung eine bedeutende Rolle spielt, wollen auch politische Profile durch visuelle Kohärenz gewinnen. 

Im Zentrum der Untersuchung soll daher stehen, welche Implikationen damit einhergehen, den eigenen Körper einer Verwandlung zu unterziehen. Wer plötzlich veränderte Haaransätze unter einer anthropologischen Linse studiert, schärft sein Gespür für paradoxe Botschaften. Wo Politik Authentizität verkörpern will, ist eine gewisse Skepsis gegenüber Transplantationen angebracht. 

Anthropologisch zu forschen, also der Kunst des Zeitverschwendens nachzugehen, heißt, im scheinbar Banalen und Alltäglichen Bedeutung zu finden. So könnten Schönheitsoperationen in der ernsten Sphäre der Politik als Nebensache erscheinen. Allerdings finden die ständigen Aussagen eines Politikers über Kredibilität und Fairness – all das, worüber sie unermüdlich reden – ihre Inversion in einem manipulierten Körper. Wie glaubwürdig soll einer sein, der sich selbst zur wandelnden Täuschung gemacht hat?

Der Politikerkörper verkörpert Biopolitik

Die Persona, also die nach außen hin gezeigte Einstellung eines Menschen, gerät in Spannung zur Authentizität, wo öffentliche Figuren versuchen, ihr Profil durch plastische Eingriffe zu kontrollieren und zu optimieren. Verstärkt wird der Trend, den eigenen Körper als eine Art Maske zum Instrument für Inszenierungen zu machen, durch eine "Like-Culture", in der Anerkennung zunehmend durch digitale Bestätigung wie die Reaktionen auf einen Social-Media-Post definiert wird. 

Man muss sich nur einmal ansehen, wer sich dem operativen Eingriff in die Kopfhaut unterzogen hat. Öffentlich zur Haartransplantation bekannt haben sich etwa Christian Lindner oder Silvio Berlusconi: Ihr Wort entstammt verfälschtem Fleisch, über Täuschungsabsichten braucht sich daher niemand zu wundern. Die türkische Bio Hair Clinic informiert auf ihrer Website zudem: "Experten sind der Meinung, dass Elon Musk zwei Mal eine Haartransplantation durchgeführt hat." Wenngleich der Verdächtigte nie gestanden hat.

Im Körper des Politikers verdichtet sich Biopolitik. Der Begriff, den Michel Foucault geprägt hat, beschreibt die Art und Weise, wie der Körper in den Fokus politischer und sozialer Kontrolle rückt. Im Fall des Politikers bedeutet dies, dass der Körper nicht nur ein individuelles, sondern auch ein kollektives und symbolisches Gut ist: Er wird zur Projektionsfläche politischer Macht und gesellschaftlicher Erwartungen.

Betrachtet man den Politikerkörper als Symbol, weist er insofern Parallelen mit einem Traumobjekt auf, als darin Bedeutungen schlummern, die es durch einen Deutungsprozess zu dechiffrieren gilt. Nach Freud unterliegen die Bilder, die uns im Traum erscheinen, einer Verzerrung, die Unbewusstes in sozial akzeptabler und damit zurechtgestutzter Form erscheinen lässt. Die latente und unbeschnittene Ebene kann erst durch Tiefenbohrungen offengelegt werden.

In diesem Sinne handelt es sich bei der Haartransplantation um einen vermutlich unbewussten Akt der Selbstdiskriminierung. Wer so etwas mit sich machen lässt, verwandelt sich als Politiker frei nach Giorgio Agamben in einen "Homo sacer": also einen Menschen, der eingeschlossen und ausgeschlossen zugleich ist. Einerseits als Herrscher und Teil der gesellschaftlichen Elite. Anderseits als Sklave, der sich sozialen Normen unterwirft und damit entmachtet. 

Denn bei dieser Verwandlung handelt es sich nicht einfach um eine ästhetische Entscheidung, sondern eine ontologische Metamorphose: eine kafkaeske Transformation. Wirklich kafkaesk ist nicht, dass sich jemand in ein schöneres oder auch ungeheuerliches Wesen verwandelt, sondern die Verwandlung selbst – das Unheimliche liegt in der Transformation an sich. Der Horror besteht darin, dass eine Selbstmanipulation am eigenen Leib vorgenommen wird. Und das ist buchstäblich das Unheimliche par excellence: Unser Körper ist unser innerstes Heim. Wenn wir uns entscheiden, ihn durch operative Anti-Aging-Maßnahmen bleibend zu verändern, bedeutet das, dass etwas Unheimliches einzieht, etwas, das das Heimelige und Vertraute bedroht und uns von uns selbst entfremdet.

Der Wolf verschmilzt mit seinem Schafspelz

Genau das macht auch den Wolf im Schafspelz so gruselig: Es handelt sich um eine Täuschung, bei der die äußere Schönheit eine bedrohliche Wahrheit verschleiert. Aber müssen wir so harsch mit denen, die sich nach einem vollen Schopf sehnen, ins Gericht gehen? Wie bereits angedeutet sind Politiker, die kahle Stellen fürchten, selbst Opfer gesellschaftlicher Normen, die uns vorschreiben, wie wir zu sein haben, um respektiert werden zu können. Das wirft die Frage auf: Wer manipuliert hier eigentlich wen?

Die Bereitschaft zur Selbstmanipulation enthüllt eine tiefe Unzufriedenheit mit dem, was wir sind, eine Ablehnung des Heimeligen, zudem eine fehlende Akzeptanz des Alterns. Die Folgen von Haarausfall mit einer Operation kaschieren zu wollen, heißt auch, sich jenem Diktat der Jugendlichkeit zu beugen, das Leute dazu bringt, sich für Falten zu schämen. Doch die Ambitionen, der Natur die Stirn zu bieten, sind zum Scheitern bestimmt.

In einem alternden Land scheint der transformierte Politiker jung zu bleiben (wie ein Vampir). Wo aber die Zahl der Senioren zunimmt und viele Menschen sich keine teuren ästhetischen Operationen leisten können, sendet die Doxa "bleib jung!" eine höchst problematische Botschaft. Unsere Infrastruktur und sogar die Umsteigezeiten an Bahnhöfen sind für junge und schnelle Körper optimiert, während die Alten an den Rand gedrängt werden.

Und wer könnte diesem System Paroli bieten? Die Politiker. Aber was machen sie? Sie passen sich demselben System an, indem sie ihm wortwörtlich den eigenen Kopf unterwerfen, und dadurch diskriminieren sie sich selbst. Das macht das Dilemma unserer Zeit offenbar: Wer ändert diese Normen, wenn die Politiker selbst ihnen gehorchen?

Allerdings reicht die paradoxe Ironie noch weiter: Wenn jemand bereit ist, seinen eigenen Körper zu manipulieren – das Persönlichste, was es gibt –, was macht er dann mit seinen Worten, die noch plastischer und formbarer sind? Und weiter gedacht: Was macht er dann mit dem Volk, das er repräsentieren soll? Und noch weiter gedacht: Wie gruselig wird es eigentlich, wenn ein von sich selbst entfremdeter Politiker gar nicht in der öffentlichen Arena des Meinungskampfes auftritt, sondern die Regierungsgeschicke vom Wahlvolk nahezu unbemerkt aus dem Inneren einer Institution heraus beeinflusst?

Anti-Antidiskriminierung

Einer, dessen Gesicht nicht auf Wahlplakaten zu sehen war und der trotzdem mehr zu entscheiden hat als der durchschnittliche demokratisch gewählte Abgeordnete, ist Florian Stegmann. Der Amtschef von Baden-Württembergs Staatskanzlei bereitet für Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) Termine und Briefings vor. Außerdem ist er "Koordinator der Landesregierung für Verwaltungsmodernisierung, Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung" und sitzt obendrein einer sogenannten "Entlastungsallianz" vor.

Die "Süddeutsche Zeitung" charakterisierte ihn im vergangenen Februar als "Verwaltungsjurist mit einem feinen Gespür für überflüssige Normen, Regeln und Gesetze aller Art". Leider kann er dabei nicht völlig uneingeschränkt walten: "Das Problem ist: Das Brombeergestrüpp wächst schneller, als es Stegmann stutzen kann." Da wären nämlich "die Politiker, die nun mal lieber Gesetze erlassen als abschaffen. Ein nicht unwesentlicher Teil von Stegmanns Arbeit besteht darin, diesen Gestaltungsdrang einzuhegen."

Zuletzt hat Stegmann das vom Landtag über viele Monate verhandelte Antidiskriminierungsgesetz "eingehegt", weil er ein Bürokratiemonster befürchtet. Eigentlich sollten sich diskriminierte Menschen damit besser gegen Schikane wehren können. "Sowohl aus grundsätzlichen Erwägungen als auch aufgrund der konkreten Ausgestaltung kann und werde ich den aktuell vorliegenden Entwurf des Gleichbehandlungsgesetzes nicht in die weitere Regierungsarbeit einbringen", sagt Stegmann, ganz als wäre seine Meinung wichtiger als die des Parlaments.

Bei so einem praktischen Einsatz gegen Antidiskriminierung wäre die Selbstdiskriminierung nur folgerichtig. Tatsächlich scheint auch Stegmanns Haaransatz anders zu verlaufen als im Vorjahr: War es eine Transplantation, ist es vielleicht ein Toupet oder handelt es sich schlicht um Einbildung? Eine Anfrage der Redaktion lässt der Gestrüppstutzer unbeantwortet.

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4 Kommentare verfügbar

  • metaphorische Judith
    vor 3 Wochen
    Antworten
    Seien wir doch froh, dass Politiker sich Haare verpflanzen lassen! Dann nämlich können wir sie bei Bedarf viel leichter beim Schopf packen und ihnen, wie weiland Judith es mit Holofernes tat, den Kopf abschlagen! Um Gottes willen - womit? Mit unserem scharfen Schwert der Kritik!
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