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Gruppe S

Kein kurzer Prozess

Gruppe S: Kein kurzer Prozess
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Nach 180 Prozesstagen stehen die Urteile gegen Mitglieder der Gruppe S. Nach Überzeugung des Stuttgarter Oberlandesgerichts haben sie eine rechte Terrorzelle gegründet, um einen Bürgerkrieg herbeizuführen.

Auf Grundlage der Angaben eines Hinweisgebers wurden am 14. Februar 2020 zwölf Männer an 13 Orten, verteilt über ganz Deutschland, verhaftet. Sie kommen in Untersuchungshaft, und am 13. April 2021 beginnt vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim der erste von 180 Prozesstagen mit Verlesung der Anklage. Der ursprüngliche Vorwurf lautet, dass die Beschuldigten am 28. September 2019 bei einem in Treffen in der Hummelgautsche bei Alfdorf im Rems-Murr-Kreis eine terroristische Vereinigung gegründet haben sollen. Die Anklage stützt sich dabei stark auf die Angaben des Informanten und Angeklagten Paul-Ludwig U.. Als sich dessen Aussagen im Lauf des Verfahrens teilweise als unglaubwürdig entpuppen, bessert der Senat nach. Demnach soll die "Gruppe S." erst am 8. Februar 2020 bei einem Treffen im nordrhein-westfälischen Minden gegründet worden sein. Benannt ist sie nach Werner S., dem mutmaßlichen Gruppen-Initiator.

Mehrere der Beschuldigten bestätigen in den ersten Aussagen nach ihrer Verhaftung, dass sie bei dem Treffen im Februar über Anschläge auf Moscheen gesprochen haben, Waffenbeschaffungen vereinbarten und dafür Geldzusagen gegeben wurden. Der Fall scheint klar und ist es doch nicht. Die Pläne sind sehr abstrakt und nicht alle wollten mitmachen.

Aus dieser Ausgangslage und der anwaltlichen Strategie, ihre Mandanten wenig aussagen zu lassen, entwickelt sich ein für alle Beteiligten unvorhergesehener Mammut-Prozess. Die Beteiligten können 150.000 Blatt Akten studieren. 130 Zeug:innen und Sachverständige werden befragt und zudem 200 mitgeschnittene Gespräche angehört.

Geballter Menschenhass auf der Anklagebank

Zuletzt sitzen elf Beschuldigte auf der Anklagebank, alle sind Männer, extrem rechts eingestellt, darunter keine Akademiker. Es gibt unter den Angeklagten klassische Neonazis, rechte Prepper oder Reichsbürger, die mit der Gruppe "Staatenlos" sympathisieren. Diese propagiert kurioserweise eine "Entnazifizierung" der Bundesrepublik – allerdings, um damit zum Kaiserreich zurückzukehren. Hier kommt geballter Menschenhass zusammen, auch Irrsinn wurde sichtbar. Doch nicht nur in den politischen Einstellungen tun sich Abgründe auf. Ein Angeklagter ist ein verurteilter schwerer Sexualstraftäter, der später mit seiner rechten Bürgerwehr "unsere" Frauen und Kinder schützen wollte. Bei einem anderen wurde jugendpornografisches Material gefunden.

Der Gruppen-Initiator Werner S. stellt sich als großen Zampano dar. Er habe Immobilien-Besitz, komme aus dem italienischen Südtirol und sei in Italien Soldat und Polizist gewesen. Nichts davon stimmt. Er ist in Deutschland geboren und war wohl nicht einmal bei der Bundeswehr.

Stattdessen hört man an einem Prozesstag staunend ein mitgeschnittenes Gespräch, in dem sich Werner S. als sein eigener Bruder ausgibt und bei einer Sozialbehörde anruft. In dieser Rolle gibt er an, er wolle zukünftig die Kontaktperson für Werner S. sein, da dieser psychisch zu Behörden-Kontakten nicht fähig sei. Er diktiert in diesem Gespräch seine eigene E-Mailadresse, was ihm dann offenbar auffällt, denn er schiebt hastig hinterher, dass er die für seinen "Bruder" eingerichtet habe. Kurzum: Einer derjenigen, die sich so gerne über die "Einwanderung in die Sozialsysteme" beklagen, ist selber ein Sozialhilfebetrüger.

Ein ehrenamtlicher V-Mann

Neben Werner S. versuchte bei dem Treffen in Minden besonders Paul-Ludwig U. den Brand anzufachen. Dieser gab sich besonders radikal und wollte auch Kinder als Opfer nicht ausschließen. Doch U. hatte zwar eine rechte Einstellung, täuschte seine Begeisterung für Anschläge aber vermutlich nur vor. Offenbar in selbst gestellter Mission, aber gleichzeitig stark beeinflusst von den Behörden. Offiziell fungierte er nur als Hinweisgeber, de facto war er eine Art ehrenamtlicher V-Mann. Ein Zeuge nannte U. einen "Kronbeschuldigten", ein eigens erfundener Neologismus aus Kronzeuge und Beschuldigter. Er war jedenfalls weitaus mehr als ein normaler Hinweisgeber. Durch mehrere Straftaten, unter anderem zwei Geiselnahmen, verbringt U. insgesamt mehr als 20 Jahre in Haft und Maßregelvollzug, letzteres möglicherweise auf Grund einer Fehl-Diagnose zu Unrecht. Selbst für psychologische Laien ist erkennbar dass U. bisher kaum funktionierende echte freundschaftliche Beziehungen in seinem Leben hatte. Er braucht Aufmerksamkeit und Anerkennung, wozu seine brüchige Erwerbsbiografie nicht taugte. Seine Vorstrafen verschafften ihm aber Zugang zu rechtsextremen Kreisen, weil er hier als eine Art harter Kerl gilt.

Der Glaubwürdigkeit und Rolle von U. kommt lange Zeit im Prozess eine Schlüsselstellung zu. Da irgendwann klar wird, dass U. kein verlässlicher Zeuge ist, gibt das Gericht bekannt, es würde seinen Aussagen nur dort Glauben schenken, wo sie durch andere Aussagen oder Beweismittel bestätigt würden. Ein Teil von U.s Aussagen ist auf jeden Fall massiv übertrieben, vermutlich aber nicht bewusst gelogen. Er wirkt leichtgläubig, etwa weil er überzeugt ist, dass ein geheimes Bürgerkriegsheer von 1.000 Mann bereitstehe, nachdem er das in rechten Chats gelesen hat.

Auffällig ist auch, dass U. dasselbe Szenario mit geplanten Anschlägen auf Moscheen bereits zuvor bei den Behörden anderen Personen zugewiesen hatte. Ermittlungen ergaben hier nichts. Doch schien U. bei Werner S. und seinen Männern diesmal tatsächlich mehr gefunden zu haben. Während er gegenüber den Behörden sehr redselig war, schweigt er im Prozess lange Zeit. Als er sich dann einlässt, relativiert er seine früheren Aussagen und geht nun selbst davon aus, dass die Angeklagten doch keine terroristische Vereinigung hinbekommen hätten.

Besonders zwei Beamte nutzten die kostenlosen Dienste von U. für sich. Regelmäßig trafen sie sich mit U. und schöpfen seine Informationen ab. Es entsteht eine Art Symbiose. Paul U. genoss die Aufmerksamkeit, und die Behörden erhielten kostenlosen Zugang in ein radikalisiertes Milieu, den sie sonst nur schwer finden.

Durch den Prozess entsteht allerdings der Verdacht einer Manipulation von U. durch die Behörden. Als Zuckerbrot hätte demnach das Locken mit einem V-Mann-Status und ein Zeugenschutz-Programm im Anschluss gedient. U. hatte sich mehrfach in Gesprächen weitschweifig von Bekannten verabschiedet, weil er annahm, demnächst im Zeugenschutz im Ausland leben zu können.

Die Peitsche wäre dagegen der Verstoß gegen die Bewährung, beziehungsweise die Gefahr, wieder ins Gefängnis zu müssen. Am 2. Oktober 2019 gab es in Heidelberg am Bahnhof eine Kontrolle, bei der U. scheinbar zufällig die mitgeführte CO2-Waffe abgenommen wurde. Er durfte, obwohl er auf Bewährung war, weiterfahren und nahm am 3. Oktober an einer rechten Demonstration in Berlin teil. Theoretisch hätte man mit seinem Verstoß gegen die Bewährungsauflagen ein Druckmittel gegen U. in der Hand. Tatsächlich sprach U. in Telefonaten immer wieder das Thema an und bat, das Problem für ihn zu regeln. Erst im Prozess erfährt er, dass die scheinbare Zufallskontrolle kein Zufall war.

Es gibt keine harten Beweise, dass U. von den Behörden bewusst manipuliert und gar angewiesen wurde. U. behauptet das, aber die befragten Beamten verneinen es. Offiziell wurde U. immer als Beschuldigter geführt.

Das Urteil

Am Ende des langen Prozess erhält Werner S. als Rädelsführer mit sechs Jahren Freiheitsstrafe die höchste Strafe. Tony E., seine rechte Hand, wird zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Rest der Angeklagten erhält Strafen zwischen eineinhalb Jahren und über vier Jahren. Der als Unterstützer angeklagte Michael B. erhält eine Bewährungsstrafe, und der "Kronbeschuldigte" Paul-Ludwig U. wird freigesprochen.

Teils scheint fraglich, ob die Anwält:innen immer im Sinne ihrer Mandanten gehandelt haben. Manch eine:n konnte man während des Prozesses auch mal beim Online-Shopping beobachten. Die Stimme einer Anwältin war erstmals während der Schlussplädoyers im Gerichtssaal zu hören.

Ein normaler Prozesstag brachte den Rechtsanwält:innen 670 Euro Honorar plus Fahrtkosten und Hotelunterbringung. Fünf rechte Szene-Anwälte waren unter den 24 Anwält:innen – auch sie verdienten gut an dem Verfahren. Insgesamt kostete ein einzelner Prozesstag über 30.000 Euro, wie der Vorsitzende Richter einmal verriet.

Gruppen-Gründung oder doch nicht?

Wer das Verfahren nicht direkt verfolgte, könnte angesichts des Urteils auf die Idee kommen, dass die Ermittlungsbehörden und die Justiz endlich einmal konsequent gegen eine rechtsterroristische Bedrohung gehandelt haben. Doch beim Beobachter und Autor dieser Zeilen bleiben Zweifel zurück. Was genau am 8. Februar 2020 in Minden passierte, wissen wohl nur diejenigen, die sich vor Ort versammelt hatten. Dabei wurde das Treffen von den Behörden sogar überwacht. Allerdings, soweit bekannt, nur per Video von außen.

Vieles deutet darauf hin, dass ein Teil, insbesondere Werner S. und seine rechte Hand Tony E., tatsächlich Anschläge planten und dafür Männer rekrutierten. Insgesamt fanden sich etwa 30 Beteiligte, die in geschlossenen Chat-Gruppen miteinander kommunizierten. Doch es gab nur wenig Verbindlichkeit. Werner S. drängte auf reale Treffen, doch viele sagen immer wieder ab oder verstummen. Werner S. und Tony E. wollten – das wird aus den abgehörten Gesprächen klar – kampferprobte Männer. Das Gericht sieht sie auf der Suche nach Mitgliedern für eine rechtsterroristische Gruppe. Am Anfang ging es aber wohl eher um eine rechte Prepper-Gruppe.

In Minden fand nach mehreren Termin-Verschiebungen das dritte realweltliche Treffen statt. Hier kamen die Männer zusammen, die Werner S. rekrutiert hatte. Einige hatten sich vorher noch gar nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen. Andere kannten sich aus einer gemeinsamen Zeit bei extrem rechten Bürgerwehren schon seit Jahren. Doch ein Teil der Verurteilten wusste möglicherweise vor dem Treffen in Minden nicht, welchem Zweck genau die Zusammenkunft dienen sollte, auch wenn fast alle wussten, dass illegale Aktivitäten besprochen werden sollten. Immerhin wollte man ohne Handys über "Pläne zur Durchsetzung des Widerstandes" sprechen.

Der während des Prozesses an einem Herzproblem verstorbene Marcel W. gab an, dass er eher davon ausgegangen war, es gehe darum, "die Antifa" zu verprügeln. Mindestens einer war wirklich am falschen Ort und wusste ziemlich sicher nicht, um was es gehen sollte: Ulf R. aus Porta Westfalica. Mehrere der Anwesenden, darunter Paul-Ludwig U., beschrieben, dass er bleich wurde und schnell weg wollte, als es um das Thema Anschläge ging. Der Prepper wurde kurzfristig von seinem Bekannten Thomas N. eingeladen. Er gehörte trotzdem zu den am 14. Februar 2020 Verhafteten und verstarb am 15. Juli 2020 in U-Haft. Die Polizei gab später bekannt, dass ihr keine Hinweise auf Fremdverschulden vorlägen. Niemand, auch Ulf R. nicht, wandte sich nach dem Treffen in Minden an die Behörden und berichtete von Gesprächen über Anschläge und von Versuchen der Waffenbeschaffung.

Das Gericht geht davon aus, dass die Verurteilten die Pläne nach dem 8. Februar 2020 weiter verfolgten. Das ist eine Interpretation. Andere Hinweise deuten darauf, dass die Pläne an diesem Abend schon aufgegeben wurden. Nicht aus humanistischen Gründen, sondern aus Angst vor Racheakten, Staatsrepression oder der Ansicht, es sei noch zu früh, um so etwas zu planen.

Werner S. gab sich in einem mitgeschnittenen Gespräch jedenfalls enttäuscht und kündigte an, er werde sich nach Italien zurückziehen.

Es bleiben Zweifel an der Version des Gerichts. Es könnte durchaus so gewesen sein – oder auch anders. Dann wäre die Gründung einer Terrorgruppe nur ein Versuch gewesen, weil den meisten der Anwesenden die mörderische Entschlossenheit fehlte.

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1 Kommentar verfügbar

  • Gerald Wissler
    am 07.12.2023
    Antworten
    Wenn ich den Artikel richtig lese, hat das Gericht den alten Rechtsgrundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" einfach mal so außer Kraft gesetzt.
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