Sie sitzen nurmehr in drei von 17 Regierungen in der Republik. In einer Deutschlandkoalition in Sachsen-Anhalt, in zwei Ampeln in Rheinland-Pfalz und im Bund. In letzterer auch dank der Liberalen im Stammland. "Es kommt immer auf Baden-Württemberg an", sagt Michael Theurer in der Jahreszeit für starke Sprüche. Der Vorsitzende der Südwest-FDP läuft sich warm für seine Reden: zuerst auf dem Parteitag in der Fellbacher Schwabenlandhalle und anderntags zu Dreikönig in der Stuttgarter Oper. Zahlen sollen zeigen, wie wichtig die Südwest-FDP ist: Fast immer liegt sie bei Wahlen überm Bundesdurchschnitt und ganz nebenbei regelmäßig vor NRW, der Heimat des großen Vorsitzenden Christian Lindner. Bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 wurden im Südwesten gut 15 Prozent geerntet, in Nordrhein-Westfalen, wo die FDP mitregiert, kam die Partei mit 11,4 Prozent nur haarscharf über das republikweite Ergebnis; die Hälfte der Zugewinne gingen aufs Konto der Liberalen zwischen Main und Bodensee.
Jetzt stehen wieder Wahlen an: im Februar in Berlin, im Mai in Bremen, im Oktober in Bayern. Vorbei die vielen komfortablen Jahre der Zweierkoalitionen, bei denen der liberale Schwanz gern ein Bild von sich entwarf, auf dem er mit dem Hund wedelt, der meistens schwarz und manchmal rot war. Die Demoskopie verspricht bewegte Wochen und Monate für die Partei, die die Fünf-Prozent-Hürde regelmäßig mal von oben und mal von unten betrachten darf. Den Einzug ins Münchener Maximilianeum hat sie 2018 mit gerade mal 5,1 Prozent geschafft, gegenwärtig liegt die FDP in drei von vier Umfragen unter der magischen Grenze. Die Zahl von fast 10.000 Mitgliedern und vor allem die mehr als 3.000 Neueintritte sind anderswo unerreicht, noch immer gelten Basis und Anhängerschaft in den 42 baden-württembergischen Kreisverbänden als gut mobilisierbar. Und sie erweisen sich bisher als programmatisch belastbar. "Die Stimmung ist ordentlich", berichtet Generalsekretärin Judith Skudelny. Gerade auf Parteitagen wolle die Basis aber auch FDP pur erleben und "nicht nur als Teil der Ampel wahrgenommen werden".
Hans-Ulrich Rülke zielt gerne weit nach rechts
Also übt sich die Partei ständig im Spagat. Der Landesverband möchte und muss auf Bundesebene gestaltend mitregieren und ist mit demnächst fünf Staatssekretär:innen gut vertreten, wenn auch nur in der zweiten Reihe ohne Ministerwürden: Theuer selber (Verkehr), Florian Toncar (Finanzen), Benjamin Strasser (Justiz) sowie Jens Brandenburg und ab 1. Februar Sabine Döring (Wissenschaft). Zugleich wird in Stuttgart munter opponiert gegen die Landesregierung. Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke arbeitet sich mit eiserner Konsequenz an Grünen und CDU ab. Auf Dauer leitet der Pforzheimer Ex-Studienrat die Fraktionsvorsitzenden-Konferenz, er ist Präsidiumsmitglied in der Bundespartei und sein Einfluss nicht zu unterschätzen. Hemmungen, sich ziemlich derb zu äußern und sogar nach ziemlich weit rechts zu zielen, hat er keine.
So rief Rülke rechtzeitig vor Dreikönig nach publikumswirksamem Durchgreifen gegen die "Letzte Generation": "Ich würde begrüßen, wenn die Justiz sagen würde, jetzt müssen wir ein Zeichen setzen, jetzt verhängen wir eine deutlich härtere Strafe gegen einen Straftäter aus dieser Bewegung." Adressat eines ernsthaften Vorstoßes wäre eigentlich ein Parteifreund, Bundesjustizminister Marco Buschmann. Mehr Aufmerksamkeit und Beifall unter Konservativen und Rechten bringt aber der öffentliche Rundumschlag.
Das neue liberale Normal ist hochelastisch. Es geht nicht mehr nur ums Vertrauen auf die Gestaltungskraft und die Vernunft der Einzelnen – stolz im Grundsatzprogramm beschrieben als gesellschaftspolitisches Alleinstellungsmerkmal gegenüber alle anderen Parteien. Es geht längst um möglichst viele Kirschen aus den Gärten ziemlich unterschiedlicher Nachbar:innen. Hier der Versuch, sozialliberal daherzukommen – nicht nur Skudelny hat das Bürgergeld gegen die ungerechtfertigen Angriffe der Union offensiv verteidigt und der eigenen Basis die Vorzüge erläutert –, da die Idee, mit Knallern wie dem Hang zum Straßenbau zu punkten. Oder als Anwalt des Individuums gegenüber übergriffigen Regierungen und bürokratischer Regulierungswut nicht nur während der Pandemie. Für populistische Stimmenfängerei war es immer verlockend, staatliche Vorgaben pauschal gegen private Freiheit auszuspielen, Selbstbestimmung und Verantwortungsbewusstsein gegen "Etatisten, Umverteiler und Fortschrittsskeptiker", so Lindners Klagelied vor zwölf Jahren in der Stuttgarter Oper. Als Finanzminister muss er unterdessen einen Schuldenberg von 500 Milliarden verantworten, und angesichts von Krieg, Klima und Kostenbelastungen frisst diese Geisteshaltung ihre Kinder. Denn der in jeder Dreikönigsrede beschworene mündige Mensch, der bloß noch Tempo 100 fährt wegen Putin und/oder dem Klima, der "Geiz ist geil" bescheuert findet, weitgehend auf Inlandsflüge verzichtet oder dieser Tage aufs Feuerwerk, ist vor allem derzeit kein Massenphänomen.
Silvester-Gesamtbilanz: erschütternd
Rund um den Jahreswechsel tobt ein Glaubenskrieg in der digitalen und der realen Welt: nicht um Erbschaftssteuer oder Atomkraft, nicht ums Sondervermögen oder den Genderstern, sondern ums private Abbrennen von allerlei Pyrozeug. Das sei wieder erlaubt, twittert Lindner, "jeder und jede sollte verantwortungsbewusst und maßvoll damit umgehen, so sparen wir uns künftig die Debatte über ein Böllerverbot", das er für überflüssig hält. "Ich sage es schon seit Jahren: Silvester ist der ultimative IQ-Test", antwortet einer dem FDP-Bundesvorsitzenden. Und weil der 2022/2023 von so vielen Menschen nicht bestanden worden sei, müsse eben doch endlich die Politik ran. Und tatsächlich müsste ja die Gesamtbilanz auch in den Augen des FDP-Bundesvorsitzenden erschütternd sein angesichts unzähliger amputierter Finger, Unterarme und verlorener Augen. Und nicht zuletzt wegen dieser unbegreiflichen Straßenschlachten mit ihren Attacken auf Rettungskräfte, nicht nur in Berlin. Die Gewerkschaft der Polizei Berlin (GdP) fordert ein weitgehendes Böllerverbot. "Wir haben deutschlandweit gesehen, dass Pyrotechnik ganz gezielt als Waffe gegen Menschen eingesetzt wird", kritisierte GdP-Landeschef Stephan Weh am Neujahrsmorgen. Das müsse ein Ende haben. Eine Reaktion darauf enthält Lindner nicht nur seinen fast 618.000 Followern bislang vor.
Mit erklärender Untermauerung des neuen Normal in der Bundesregierung und vor allem im eigenen Ressort wird der Finanzminister großzügiger sein müssen auf den Bretter, die jeden 6. Januar die liberale Welt bedeuten. Denn für seine Partei hängt deutlich mehr ab vom Erfolg der gemeinsamen Arbeit als für Rote und Grüne, die sich vielleicht in die Opposition, aber sicher nicht aus dem Bundestag verabschieden würden. Die FDP dagegen wurde von der Wählerschaft erst vor zehn Jahren ultimativ abgestraft und in die ausserparlamentarische Opposition geschickt. Alle Landesverbände teilen dieses Schicksal, manche sogar über mehrere Legislaturperioden. Mit einer einzigen Ausnahme. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass es sich ums Stammland handelt.
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Jue.So Jürgen Sojka
am 07.01.2023III. Kapitel.…