Sollten sich die Prognosen am Wahlabend bestätigen und sollte die von Olaf Scholz angeführte SPD wirklich zur stärksten Partei werden und damit den Auftrag zu einer Regierungsbildung erhalten, dann wäre das schon eine Überraschung. Denn zu Beginn des Wahlkampfs lag die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten noch eher aussichtslos hinter den Grünen mit Annalena Baerbock und der CDU/CSU mit Armin Laschet. Und könnte – einmal weitergeträumt – die Bildung einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung ein europaweites Signal sein für ein Revival eines großen Reformprojektes? Ja, könnte es vielleicht sogar die Chance bieten, dass angesichts des Klimawandels und der sozialpolitischen Herausforderungen die Notwendigkeit einer "großen Transformation" umgesetzt werden kann? Zumal dann, wenn es Anne Hidalgo, der Oberbürgermeisterin von Paris, gelingen sollte als Kandidatin der Parti Socialiste gegen Emmanuel Macron und Marine Le Pen anzutreten und vielleicht sogar die Wahl in Frankreich 2022 zu gewinnen?
Ein Traum, gewiss. Allein ein Blick auf die Zahlen und die Geschichte der Wahlergebnisse bisheriger Bundestagswahlen ernüchtert, lässt vielleicht sogar solche Träume als bloße Illusionen einsehbar machen. Egal ob nun SPD, CDU oder die Grünen mit ihren Spitzenleuten die Wahl gewinnen werden: Es wird die erste Bundestagswahl sein, die eine Partei mit nur circa 25 Prozent "gewonnen" haben wird. Klammert man die erste Wahl zum Deutschen Bundestag ein, dann hat bis einschließlich der Wahl 1998 die stärkste Partei mindestens 40 Prozent der Wahlstimmen errungen; ja in den vier Bundestagswahlen zwischen 1969 und 1980 erreichten sowohl die CDU wie auch die SPD je für sich über 40 Prozent der abgegebenen Stimmen – und das bei Wahlbeteiligung von deutlich über 80 Prozent! Da machte es noch Sinn, von "Volksparteien" zu reden.
Heute dagegen erreichen die ehemaligen Volksparteien zusammen nur circa 45 Prozent Wahlstimmen, und das bei deutlich gesunkener Wahlbeteiligung. Und auch wenn man die Stimmen für die Grünen hinzunimmt, bleiben diese drei Parteien mit rund 60 Prozent weit hinter den Stimmanteilen der früheren Volksparteien zurück. Daraus resultiert dann der Zwang, immer mehr Parteien in eine Koalition einzubinden – mit dem Resultat, dass vor lauter verwässerten Kompromissen eine wirklich reformistische und erst recht eine transformatorische Politik unmöglich gemacht wird. Denn die Kompromissbildung erfolgt unter solchen Bedingungen ja nicht so, dass der im Koalitionsvertrag festgeschriebene Kompromiss zumindest einen kleinen Schritt in Richtung der eigentlichen Reformziele beinhaltete. Sondern der Kompromiss zielt nur noch darauf, eine Parteien-Koalition zu ermöglichen, die völlig unabhängig und losgelöst ist von den eigentlichen politischen Zielen der koalierenden Parteien. Solche Kompromisse sind dann insofern schlechte Kompromisse, weil sie ausschließlich ausgerichtet sind auf den Machterwerb und Machterhalt. Dabei könnte die SPD von dem in ihrer Partei immer noch hochgehaltenen Eduard Bernstein (1850 bis 1932) lernen, wie gute Kompromisse eingegangen werden können: als reformorientierte Schritte in Richtung des eigentlichen Ziels, eines demokratischen Sozialismus. Aber ein solches Reform-Projekt kennt die heutige SPD eben nicht mehr – und die Einsicht in und die programmatische Ausrichtung auf die Notwendigkeit einer "Großen Transformation" erst recht nicht.
Abschied vom Wahlvolk
Parlamente sollen in ihrer Zusammensetzung die sozialstrukturellen und vielfältigen kulturellen und religiösen Milieus, Gruppen oder auch Klassen repräsentieren, also so etwas wie einen Querschnitt der Wahlbevölkerung abbilden. Das aber ist schon lange nicht mehr der Fall. Vielmehr kommen über 80 Prozent der Abgeordneten, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in nahezu allen repräsentativen Demokratien, aus dem ähnlichen sozialstrukturellen Milieu: den mittleren und gehobenen Schichten mit höheren Bildungsabschlüssen. Insofern – und das ist auch durch die empirische Demokratieforschung gut belegt – repräsentieren Parlamente nur noch einen Ausschnitt der Wahlbevölkerung, aber keinen Querschnitt. Damit verknüpft ist dann, dass Probleme und Interessen dieser (eigenen) Schicht sehr schnell in Parlamenten behandelt und diskutiert werden. Um aber Probleme und Interessen anderer Schichten im Parlament behandeln zu können, ist im Vorfeld ein bis zu zehnfach höherer Aufwand erforderlich – zum Beispiel Demonstrationen, Aktionen, Unterschriftensammlungen. "Es gibt keine alltägliche, permanente Verbindung zwischen Parteien und Bürgern mehr", konstatiert der Politologe Adam Przeworski. Und deswegen haben die Parteien auch ihre gesellschaftliche Integrationsfunktion verloren.
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