Gang 1: Rund 40 Milliarden Packstücke im Jahr werden derzeit in Deutschland zugestellt. Darunter ist jede Form von Gütern zu verstehen, die sich zu einer Einheit gebündelt auf einer Europalette mit den Maßen 1,20 Meter mal 80 Zentimeter transportieren lassen. Davon entfallen vier Milliarden auf so genannte Kurier-Expresspakete (KEP), der Rest, 90 Prozent, auf Lebensmittel, Getränke, Waren aus dem Non-Food-Bereich oder aus dem Baumarkt – kurz: alles, was auf die Europalette passt und vom Hersteller oder Händler entweder zu einem anderen Unternehmen (Business to Business, B2B) oder direkt zum Verbraucher (Business to Consumer, B2C) transportiert wird.
80 Packstücke passen durchschnittlich auf eine Palette. Die genannte Zahl entspricht daher 500 Millionen Paletten im Jahr oder sechs Paletten pro Einwohner. Heruntergebrochen auf den Stuttgarter Talkessel, die Stadtteile Botnang, Kaltental und Frauenkopf eingeschlossen, aber ohne Bad Cannstatt und Feuerbach, ergeben sich für diesen Einzugsbereich rund 1,27 Millionen Paletten im Jahr. Da aber die Wirtschaftskraft Stuttgarts um 19 Prozent über dem Durchschnitt liegt, steigt das Potenzial auf über 1,5 Millionen Paletten. Ausgehend von 300 Arbeitstagen entspräche dies 5.000 Paletten am Tag. Eine zweigleisige Röhre von vier Metern Durchmesser, in zwei Schichten betrieben, könnte diese Mengen bewältigen. In den Achtmeter-Röhren der Stuttgart-21-Tunnel bleibt also genug Luft nach oben.
Wirtschaftlich, wenn Tunnel schon gegraben sind
Gang 2: Die Wirtschaftlichkeit des Systems hängt natürlich von den Grundvoraussetzungen ab, unter denen die Kostenabschätzung vorgenommen wird. Hätte der Betreiber eines unterirdischen Warentransportsystems alle Kosten zu tragen, die für den Tunnelbau bereits angefallen sind, wäre dies ein K.O.-Kriterium. Die Gutachter sind aber davon ausgegangen, dass die Tunnel ja bereits gegraben sind. Von den dabei angefallenen Kosten haben sie nur zehn Prozent für notwendige Anpassungen in ihre Berechnungen einfließen lassen.
Zu den Kosten zählen weiterhin Investitionen für Fördertechnik und Software – denn der Betrieb würde automatisiert vor sich gehen – sowie operative Kosten, Abschreibung und Zinsen. Diese Ausgaben müssten durch die erzielbaren Umsätze gedeckt sein. Je nach Szenario rechnen Precht und Wilde mit einem Mindestumsatz zwischen 3,72 und 12,34 Euro, bei einer Gewinnmarge von 15 Prozent zwischen 4,28 und 14,19 Euro, der pro Palette erzielt werden müsste, damit sich das System trägt.
Unter diesen Voraussetzungen ließe sich der unterirdische Gütertransport ohne weiteres rentabel betreiben. Denn der Gesamtpreis für solche Transportleistungen, Umsetzen am Güterverteilzentrum (GVZ) und Endauslieferung mitgerechnet, beläuft sich derzeit auf etwa 25 bis 50 Euro pro Palette. Wenn dafür, grob überschlägig, ein Drittel für den Transport im Tunnel einkalkuliert wird, könnte das System ohne weiteres profitabel arbeiten.
Einsparpotenzial: bis zu 1.970 Tonnen CO2 pro Jahr
Gang 3: Bei den Umwelteffekten haben sich Precht und Wilde ganz auf die Treibhausgasemissionen konzentriert, da sie der Meinung sind, Feinstaub- und Stickoxid-Emissionen würden, wenn entsprechend weniger Lkw über die Straßen ins Stadtzentrum rollen, im selben Umfang zurückgehen. Sie haben mit einem Mix aller Lkw-Klassen vom Transporter bis zum Schwerlast-Lkw gerechnet, die zu siebzig Prozent ausgelastet sind. Dies wiederum in drei Szenarien, je nachdem, ob sich der Gütertransport komplett, zu 70 oder nur zu 30 Prozent in die Tunnelröhren verlagern lässt.
Je nach Variante, Tunnel Ober-/Untertürkheim, Fildertunnel oder beide, ergäben sich Einsparpotenziale zwischen 255 und 1.970 Tonnen CO2 pro Jahr –davon abhängig auch, ob beim Kohlendioxid-Ausstoß nur die reine Verbrennung im Lkw-Motor gerechnet wird oder auch die CO2-Äquivalente, die bei Gewinnung und Transport des Treibstoffs anfallen. Dass der Fildertunnel dabei am besten abschneidet, liegt schlicht daran, dass es sich um die längste Strecke handelt. Jede Lkw-Fahrt, die hier nicht stattfinden muss, spart folglich mehr Emissionen als bei einer kürzeren Strecke.
Am Ende weisen die Gutachter noch darauf hin, dass die bereits gegrabenen S-21-Tunnel die Chance böten, die unterirdische Güterlogistik zu einem Netz auszubauen – und damit über das hinauszugehen, was in Hamburg mit Smart City Loop oder in der Schweiz mit Cargo Sous Terrain geplant ist. Denn durch relativ kleine Eingriffe – ein Lastenaufzug und ein lokaler Hub – ließe sich auch die Filder-Hochebene in das System einbeziehen, ebenso Feuerbach und die angrenzenden Stadtteile, wenn auch der S-21-Nordtunnel genutzt würde.
Wer finanziert und betreibt es?
Darüber hinaus haben sich Precht und Wilde Gedanken gemacht, wer die Investitionen tragen und das System betreiben könnte. Im Schweizer Projekt Cargo Sous Terrain sind dies ausschließlich private Investoren, zu denen auch Konzerne wie Migros und Coop gehören, die an einer effizienten Warenanlieferung ein Eigeninteresse haben. Möglich wäre auch ein Logistikdienstleister, ein Konsortium aus Industrie, Einzelhandel, Logistikdienstleister und Investoren, einePublic-Private-Partnership (PPP) oder ein städtischer Betrieb.
Diese letztere Variante wäre Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis eindeutig am liebsten. Seiner Meinung nach handelt es sich bei der Güterlogistik um eine Einrichtung der Daseinsvorsorge. Ein Modell könnte ein "Logistik-Stadtwerk" sein, wie es sich, darauf weisen die Gutachter hin, in der 2018 erschienenen Studie "What Cities Want" des Lkw-Herstellers MAN findet. Der Hinweis auf die hohen Investitionen zieht hier nicht, denn nach den Berechnungen von Precht und Wilde wäre das Projekt ja profitabel. Um den Lkw-Verkehr schneller zu reduzieren, könnten sie sich flankierend auch eine City-Maut oder partielle Fahrverbote vorstellen.
Der Ministerpräsident hat ja recht, wenn er das Projekt Stuttgart 21 als Käs' bezeichnet. Dass dieser Käs' zu großen Teilen bereits angerichtet ist, wirft natürlich die Frage auf, wer dafür verantwortlich zu machen ist und die Kosten zu tragen hat. Aber es gibt keinen Zwang, diesen Käs', der seit längerer Zeit unappetitlich riecht, bis zum bitteren Ende weiter anzurichten und aufzutischen. Ein Alternativ-Menü ist nun auf dem Tisch. Viele Fragen bleiben. Werner Sauerborn kündigt schon einmal an, dass das Aktionsbündnis auf der Grundlage der Coburger Analysen bald ein aktualisiertes Umstiegskonzept vorstellen wird.
Hier gibt's die Studie zum Download.
14 Kommentare verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 23.04.2021Gibt es seit wenigen Monaten nicht die inflationär vorgetragene Aussage von Politikern: "Gesundheitsschutz der Bevölkerung vor dem Corona-Virus"
Jetzt ist der Schutz…