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Nawalny und die Medien

Putin war's! Oder doch nicht?

Nawalny und die Medien: Putin war's! Oder doch nicht?
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Nach dem Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Nawalny sind sich die meisten deutschen Parteien und die meisten deutschen Medien einig: Der Kreml steckt dahinter. Beweisen können sie es nicht, harte Strafen für Putin-Russland fordern sie trotzdem.

"Seit einigen Jahren scheint mir die deutsche Presse jedoch wie verwandelt. Wenn Sie einen Beitrag über Russland zur Hand nehmen, werden Sie oft feststellen, dass er von einem Journalisten geschrieben wurde, der wie ein Ankläger auftritt. Themen, die mit Russland zu tun haben, werden nicht selten mit einer generellen Vorwurfshaltung behandelt." Michail Gorbatschow in seinem Buch "Was jetzt auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Freiheit"

Sie wissen alle ganz schnell Bescheid! Der Außenminister Heiko Maas (SPD) etwa hat nach dem Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny kaum einen Zweifel daran, dass der russische Staat dahintersteckt: "Die tödliche Chemiewaffe, mit der Nawalny vergiftet wurde, befand sich in der Vergangenheit im Besitz russischer Stellen. Nowitschok ist nur einer sehr kleinen Gruppe von Menschen zugänglich. Und das Gift wurde von staatlichen Stellen bereits für den Anschlag auf den Ex-Agenten Sergej Skripal verwendet." Der CDU-Politiker Norbert Röttgen sagt: "Jetzt sind wir erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert worden." Für den FDP-Mann Christian Lindner ist Putin-Russland ein "Regime, das Giftmorde inszeniert". Auch die Grünen-Chefin Annalena Baerbock ist sich sicher: "Das ist ein Mordanschlag, aus dem Kreml gesteuert." Und für alle müssen jetzt Sanktionen gegen Russland folgen und das Nord-Stream-2-Projekt beendet werden.

Aber halt! Baerbocks Parteikollege Jürgen Trittin lässt noch einen kleinen Raum für Zweifel. Ja, es sei wahrscheinlich Putin gewesen, sagt er. Vielleicht aber auch andere im "Machtapparat". Aber selbst dann sei Putin schuldig. Das würde nämlich bedeuten, so wird Trittin vom "Spiegel" zitiert, "dass Putin die Lage nicht im Griff habe. Putin habe seinem Land stabile Verhältnisse versprochen. Wenn der russische Präsident die Tat nicht angeordnet habe, habe er dieses Versprechen gebrochen." Nun, Stabilität versprechen auch andere Staaten, etwa der deutsche. Wenn also bei uns etwas Schlimmes passiert, etwa NSU-Morde, müsste man dann die Bundeskanzlerin schuldig sprechen?

Kleiner Exkurs: Die NSU-Analogie hat Wolf Wetzel in einem "Telepolis"-Artikel durchgespielt. In seiner Fiktion fordert Russland Aufklärung, die ungeklärten "Selbstmorde" nach den NSU-Attentaten führen zu dem für Wetzel realen Schluss: "Es gibt mehr als berechtigte Zweifel an dem Aufklärungswillen deutscher Behörden. Es gibt signifikante Beweise dafür, dass Beweismittel manipuliert oder beseitigt werden oder aber für 'nicht zielführend' in den Papierkorb landen."

Keine Unschuldsvermutung für Russland

Zweifel an der Putin-hat-Nawalny-vergiftet-These äußert am 6. September 2020 bei "Anne Will" die Linken-Politikerin Sevim Dağdelen: "Wir können nicht sagen, nur weil es ein Gift der Nowitschok-Gruppe ist, dass es sofort nur die Russen sind. Wir wissen aus Recherchen von 'Süddeutsche Zeitung' und NDR und vielen anderen, dass aus den 90er-Jahren eine Probe in die Hände des Bundesnachrichtendienstes gelangt ist, und damit auch an westliche Geheimdienste. Und dass das Bundesministerium für Verteidigung und der BND sogar die Formel bekommen haben aus dem Labor in Schweden, wo damals diese Probe untersucht worden ist. Das heißt, mindestens Russland, oder sagen wir mal, die Nachfolgerepubliken der Sowjetunion könnten es im Besitz haben, aber auch westliche Geheimdienste. Und insofern halte ich es für hochgradig spekulativ, zu behaupten, X oder Y ist der Täter oder sonst was … Ich bin dafür, dass wir auf Aufklärung dringen. Das muss gemacht werden. Und ich finde es befremdlich, vor einer Aufklärung gleich nach Maßnahmen zu rufen."

Diese Dağdelen-Sätze, die man als Plädoyer für das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung verstehen kann, bezeichnet der Anne-Will-Gast Wolfgang Ischinger, Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz, als "unsägliche Verschwörungstheorien". Er benutzt also ein Wort, mit dem jede Diskussion verweigert wird. Ischinger ist Mitglied der im Kalten Krieg gegründeten Atlantik-Brücke, zugespitzt gesagt: einem Verein von etwa 500 USA- und Nato-Freunden, von denen gut die Hälfte aus der Wirtschaft kommt. Es tummeln sich darin aber auch Journalisten wie die ZDF-Leute Elmar Theveßen, Theo Koll und Claus Kleber, die ihre Anti-Russland-Haltung gerade besonders betonen.

Die teils engen Verflechtungen von Moderatoren und leitenden Redakteuren zu Nato-affinen Elitenetzwerken hat der Medienwissenschaftler Uwe Krüger 2013 in seiner Dissertation untersucht, die später unter dem Titel "Meinungsmacht" veröffentlicht wurde – und in der Krüger einen hohen Einfluss transatlantischer Organisationen auf insbesondere außenpolitische Fragen feststellte.

Aber zurück zur ARD: Da kann es schon mal passieren, dass bei Anne Will, wie die MDR-Web-Seite berichtet, "gleich mehrere Mitglieder der Atlantik-Brücke in einer TV-Sendung sitzen, um 'kontrovers' über Syrien zu diskutieren. 'Drei Stühle, eine Meinung' titelte daraufhin ein Medienmagazin und im Ergebnis entsteht dann einmal mehr ein Ungleichgewicht bei der Betrachtung der Beziehungen zu Amerika auf der einen und Russland auf der anderen Seite." Wie deutsche Medien auf die Aussagen von Frau Dağdelen reagiert haben, wie bereitwillig sie das Wort "Verschwörungstheorie" aufgriffen, wie geifernd sie die Bundestagsabgeordnete als Pressesprecherin des Kremls denunzierten, hat Albrecht Müller in den "Nachdenkseiten" dokumentiert. Seine Überschrift: "Die traurige Realität: Eine sich selbst gleichschaltende Kampfpresse".

Geheimdienste und reale Verschwörungen

Ja, es ist möglich, dass die russische Regierung oder sogar Putin selbst für den Anschlag auf Nawalny verantwortlich ist. Aber bewiesen ist das nicht. Wer von anderen in dieser Sache Transparenz verlangt, müsste nicht nur Fragen erlauben, sondern sie auch selber stellen. Etwa die, ob Nawalny noch andere Feinde hatte und hat. Zum Beispiel aus der Zeit, als er Migranten als "Kakerlaken" bezeichnete und deren Deportation forderte, oder als er mehrmals an dem von Rechtsextremen dominierten "Russischen Marsch" teilnahm. Gregor Gysi hält auch folgendes für möglich: "Es kann ja auch sein, dass es ein Gegner der Erdgasleitung nach Deutschland war. Oder ein beauftragter Gegner, der wusste: Wenn man einen solchen Mord inszeniert, der dann der Regierung in die Schuhe geschoben wird, führt das zur Verschlechterung der Beziehungen."

Auch das russische Außenministerium hat die Frage aufgeworfen, wer von dem Anschlag profitiere. Für die so genannte Russlandexpertin Inna Hartwich, aktiv für so verschiedene Medien wie die NZZ, die "Stuttgarter Zeitung" oder die taz, ist "schon allein die Frage nach dem Nutzen menschenverachtend". Statt einer Recherche liefert sie moralische Entrüstung. Arbeitet sie mit dem Cui-Bono-Frage-Verbot an der Abschaffung ihres eigenen Berufsstandes? Nein, Frau Hartwich und viele ihrer KollegInnen – um nur drei zu nennen: Christina Hebel im "Spiegel", Alice Bota in der "Zeit", Golineh Atai in der ARD – bekommen weiter viel Raum für Mutmaßungen, Verdächtigungen, Verurteilungen und Sanktionswünsche. Jedenfalls solange es gegen Russland und Putin geht.

In der FAZ immerhin finden sich zum Nawalny-Fall auch mal diese Sätze: "Es ist alles dabei: Hintermänner und Drahtzieher, Vertuschungsversuche und Desinformation." Dazu jedoch einschränkend, dass so etwas "kein zweitklassiger Spionagethriller" hätte besser erfinden können. Wieso denn zweitklassig? In den erstklassigen Romanen des früheren Geheimdienstlers John LeCarré unterscheiden sich die Methoden des Westens kaum von denen des Ostens. Zu trauen ist im Reich der Geheimdienste jedenfalls keinem. Was zum Beispiel erst jetzt publik wurde: die Operation Rubikon. Der BND hat dabei zusammen mit der CIA von 1970 bis 1993 (vielleicht auch länger) eine Schweizer Firma namens Crypto AG betrieben, über die manipulierte Verschlüsselungstechnik an mehr als hundert Staaten verkauft wurde, um die Käufer auszuspähen.

Was den "Spiegel" (und viele andere Medien) am 10. September 2020 in Sachen Nawalny nicht an der Reduzierung von Komplexität hindert: "Für den Anschlag wurde nach Analysen eines Speziallabors der Bundeswehr eine Variante des russischen Nervenkampfstoffes Nowitschok eingesetzt, die noch giftiger ist als der Stoff, mit dem 2018 der russische Ex-Agent Sergei Skripal und seine Tochter vergiftet wurden. Der Angriff auf Skripal wurde von einem Kommando des russischen Militärgeheimdienstes GRU ausgeführt." Dass auch der Anschlag auf den Doppelagenten Skripal und seine Tochter keineswegs geklärt ist, hat Craig Murray, früherer UK-Botschafter in Usbekistan, in seinem Blog akribisch dargestellt. Er kommt zu dem Schluss, dass sowohl die britische als auch die russische Regierung lügen und hinter den "Spionagespielen" viel mehr steckt "als eine sinnlose Racheattacke auf die Skripals".

Was Geheimdienste mitunter veranstalten, hat vor zwei Jahren die Ukraine vorgeführt. Sie meldete die Ermordung des kremlkritischen Bloggers Arkadi Babtschenko, zeigte Bilder von dessen Körper in einer Blutlache, verwies auf Russland als Täter – und ließ Babtschenko einen Tag später in einer Pressekonferenz wiederauferstehen! Der Geheimdienst habe dessen Tod (übrigens mit Schweineblut) inszenieren müssen, so wurde behauptet, um der tatsächlichen Ermordung durch Putins Schergen zuvorzukommen und angebliche Anschlagspläne des russischen Geheimdienstes zu entlarven. Sogar Inna Hartwich zeigte sich da zwar "glücklich", aber auch etwas "ratlos". Die Liste tatsächlich getöteter (und oft regierungskritischer) Journalisten und Politiker in der Ukraine ist übrigens lang, sie enthält etwa die Namen Oles Busina, Oleg Kalaschnikow und Pavel Scheremet. Von deutschen Sanktionen war in diesen Fällen nie die Rede.

ARD berichtete lückenhaft – sagt die ARD

Noch ein paar Anmerkungen zu den Reizthemen Ukraine und Krim. Für den Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen war die neue Regierung illegitim, am 18. März 2014 sagt er im "Deutschlandfunk", dass die Gespräche mit der Ukraine so schwierig seien, "hat ja eine Ursache auch in Kiew selber, nämlich die Tatsache, dass dort ein fataler Tabubruch begangen worden ist, dem wir auch noch applaudieren, der Tabubruch nämlich, zum ersten Mal in diesem Jahrhundert völkische Ideologen, richtige Faschisten in eine Regierung zu lassen, und das ist ein Schritt zu weit."

Dass die meisten deutschen Medien davon nichts wissen wollten, hat ebenfalls schon 2014 der Journalist Stefan Korinth bemängelt. Er stellt in seinem Artikel "Der Qualitätsjournalismus versagt" eine "tendenziöse, irreführende und einseitig-parteiische Berichterstattung der großen etablierten Medien" fest.

Sogar der ARD-Programmbeirat hat damals die Ukraine-Berichterstattung seines Senders gerügt: "einseitig, lückenhaft und voreingenommen". Verena Bläser kommt in einer Untersuchung für die Bundeszentrale für politische Bildung zu einem ähnlichen Schluss. Und heute? Es hat sich nicht viel geändert. Dabei ist selbst in Sachen Krim nicht klar, ob es sich tatsächlich um eine Annexion handelte. Der Strafrechtler Reinhard Merkel, Mitglied im Deutschen Ethikrat, schreibt am 8. April 2014 in der FAZ, dass die Sache kompliziert sei, dass es sich aber letztlich um eine Sezession handle.

Warum keine Sanktionen gegen die USA?

Und noch ein paar Wörter zu den USA, unserem großen Verbündeten, der das Nord-Stream-2-Projekt zu Fall bringen will, um sein Fracking-Gas zu verkaufen. Ein Staat, der sich einen Chauvinisten und Rassisten zum Präsidenten gewählt hat, der aus seinen Sympathien für rechtsextreme Regierungen wie die des Brasilianers Bolsonaro kein Hehl macht; der geheime Foltergefängnisse in EU-Länder ausgelagert hat und in Zusammenarbeit mit Deutschland Drohnenmorde begeht; der auf Kuba sein gegen alle Rechte verstoßendes Guantanamo betreibt; der den Wiki-Leaks-Gründer Julian Assange, nachdem dieser US-Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hatte, durch ein amerikanisch-schwedisch-britisches Komplott der Todesstrafe zuführen will; der gerade Sanktionen gegen die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs verhängt hat, weil sie Kriegsverbrechen in Afghanistan untersuchen will; der den Atomdeal mit dem Iran einseitig aufgekündigt hat und überhaupt jedem Staat droht (vom Einfrieren der Konten über Blockaden bis zum Einmarsch), der sich nicht seinem Willen unterwirft.

Ach ja: Da wäre auch noch die Sache mit der NSA, die die ganze Welt illegal überwacht und abgehört hat – sogar das Handy von Frau Merkel. Eine Frage an unseren Außen- und Abmahnminister Heiko Maas: Sollte man die USA sanktionieren? Und sollte man dem Whistleblower Edward Snowden, der den NSA-Skandal publik gemacht hat, Asyl gewähren, wie es gerade wieder der Ex-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele fordert? Aber das wird nicht passieren, schließlich hat der BND mit der NSA kooperiert. "Monatelang hatte die Regierung Öffentlichkeit und Parlament belogen", erinnert sich Ströbele im "Freitag", und dies so "dreist, wie ich es als Abgeordneter bis dahin nicht erlebt habe". Snowden hat in Russland Asyl erhalten.

Und dann wäre da noch ... Aber nein, dieser Text wird zu lang, auch wenn es noch viel zu sagen gäbe. Übergeben wir das Schlusswort an den schon eingangs zitierten Michail Gorbatschow, der sich direkt an Russland-Gegner und Journalisten wendet: "Denken Sie nach, über die Vergangenheit und die Gegenwart. Bedenken Sie, wohin es uns führen kann, wenn wir den gegenwärtigen Weg der Feindseligkeit fortsetzen. Ich fordere von niemandem, auch nicht von der Presse, auf Kritik zu verzichten. Aber Kritik ist eine Sache, die Wiederbelebung eines Feindbildes eine andere."


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12 Kommentare verfügbar

  • Klaus Zerkowski
    am 21.09.2020
    Antworten
    Sehr geehrter Herr Tauss,
    sind Sie der Meinung, Sie könnten als Journalist in Russland unbehelligt (= ohne Angst zu haben körperlich oder psychisch angegangen zu werden) arbeiten? Würden Sie einem einem jungen russischem Kollegen raten, als investigativer Journalist dort zu arbeiten?
    Glauben Sie,…
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