Werner Preißing (72) ist promovierter Architekt und Mathematiker aus Leidenschaft. Er gilt als Pionier der EDV-Forschung und -Entwicklung im Bauwesen. Als Lehrbeauftragter war er unter anderem an den Hochschulen in Stuttgart, Esslingen, Berlin und Dortmund tätig. Mit seinem Verfahren zur Analyse und Bewertung hat er im Laufe seines Berufslebens über 4.500 Architektur- und Ingenieurbüros beraten. Preißings akademisches Steckenpferd ist die von ihm entwickelte Methode "Visual Thinking" (Denken in Bildern). Aktuell hat er ein Simulationssystem zur Pandemieforschung entwickelt. (fs)

Herr Preißing, warum meldet sich ausgerechnet ein Architekt zu der Corona-Problematik zu Wort?
Warum nicht? Die Pandemie treibt mich zuerst einmal wie jeden anderen Zeitgenossen um. Mein persönlicher Zugang ist aber durchaus spezieller.
Inwiefern?
Seit Jahrzehnten arbeite ich mit der von mir entwickelten Faktorenfeldmethode und wende bei meiner Beratungstätigkeit für Architekturbüros "Visual Thinking" an.
Sichtbares Denken.
Bei sämtlichen Sitzungen entstehen Skizzen, mit deren Hilfe sich komplexe Problemstellungen und Gedankengänge relativ einfach und spontan erfassen lassen.
Sie arbeiten mit Illustrationen?
Das wäre zu kurz gesprungen. Die reine Illustration ist keine Problemanalyse. Bei der Faktorenfeldmethode handelt es sich um eine Systemsprache, die Sie sich als Werkzeugkasten zur Lösung von Problemen vorstellen müssen. Für diese Methode spricht, dass sie sehr gut funktioniert. In freiwilligen und unfreiwilligen, persönlichen und beruflichen Problemsituationen, bei Fragen der strategischen Entwicklung von Unternehmen und in der Ausbildung.
Und in der Politik?
Die Faktorenfeldmethode funktioniert auch in der Politik. Es stünde übrigens Politikern generell gut zu Gesicht, vor allem in Krisen den Menschen Probleme und Lösungsvorschläge anschaulich zu erklären. Denn daran hapert es ja ganz offensichtlich gewaltig. Hier liegt auch der Hauptgrund für den um sich greifenden Unmut in der Bevölkerung und für die Proteste.
Lautet Ihr Vorwurf also Politikversagen?
Nein. Versagt haben nicht die Kanzlerin oder einzelne Minister. Gegen diesen Vorwurf sprechen ja schon alleine die – im weltweiten Vergleich – niedrigen Infektionszahlen. Übrigens hat auch die Presse nicht versagt. Versagt hat aber die Fähigkeit zu einer nachvollziehbaren Vermittlung der Situation. Ich will damit sagen, dass die Politiker keine verständliche Sprache gefunden haben, um die komplexen Zusammenhänge greifbar zu machen. Was ist denn passiert? Zu Beginn der Pandemie schauten die Bürger mit Sorge, aber auch mit Vertrauen auf die allabendlich in der Tagesschau vermittelten Zahlen und Grafiken. Bald kamen Balkendiagramme von Infizierten, Genesenen, Toten und aktuell Infektiösen hinzu.
Die Verdoppelungszahl nicht zu vergessen, die Zahl "R".
Die magische Zahl "R". Das ist ein Fall für sich. Das Problem liegt hier schon darin begründet, dass es für das allgemeine Verständnis schwierig ist, wenn eine Zahl steigt und das dann negativ sein soll. Im Übrigen wird hier mit Zahlen hinter der Kommastelle ein Anschein von Genauigkeit erweckt, der durch nichts gerechtfertigt ist. In der Öffentlichkeit bleibt dann hängen: über eins schlecht, unter eins gut.
Das war zumindest gewöhnungsbedürftig.
Zudem kamen mit den Angaben zur Übersterblichkeit und einer Wachstumsrate in verschiedenen grafischen Darstellungen und den unterschiedlichen Angaben von Wissenschaftlern Zweifel an der Aussagekraft auf. Die Menschen reagieren irritiert, das Ganze scheint ihnen zunehmend verunklart mit dem Resultat, dass der Unwille wächst.
Und dann kommen noch die üblichen Verdächtigen, die überall die globale Weltverschwörung am Werke sehen. Kann das Ihre Methode verhindern?
Das wäre jetzt eine unzulässige Zuspitzung, aber ich sehe zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Denken immer noch eine akademische Barriere, die notwenige Synergien verhindert. Viele Wissenschaftler glauben, dass mit immer neuen Faktoren, Begrifflichkeiten und Verlaufsgrafiken die Situation zu retten sei. So war aber aus der verfahrenen Situation kein Ausweg mehr zu finden. Schon allein deshalb nicht, weil die Wissenschaftler aus ihrem Fachjargon nicht mehr herausgekommen sind. Ich denke visuell, erkläre visuell und diskutiere visuell.
Visualisierung also als Antwort gegen die vielgescholtene Expertokratie.
Es könnte wirklich eine Bereicherung sein, wenn Politiker und Journalisten Bilder anstelle von unsicheren Zahlenwüsten oder geheimnisvollen Parametern – wie die Verdoppelungszahl – zur Verfügung hätten.
Was macht aber ein Wissenschaftler, der nicht zeichnen kann?
Einspruch: Jeder kann zeichnen. Als Kinder haben wir alle gemalt und gezeichnet wie die Weltmeister. Leider geben wir im Erwachsenenalter diese fast schon natürliche Gabe auf. Dabei zeigt sich: Wenn noch ein anderer Sinneskanal angesprochen wird, wächst das Verständnis geradezu sprunghaft an. Dabei reicht es in der Pandemie nicht, in Ansprachen, Pressekonferenzen oder Talk-Shows ausschließlich mit dem Repertoire von Kurven- oder Balkendiagrammen zu arbeiten. Dieses Verständnisdefizit müssen wir gerade in Zeiten sozialer Verwerfungen auflösen. Dabei sehe ich gerade mit der bevorstehenden zweiten Welle ein massives Verständnisproblem auf uns zurollen.
Wie würden Sie dieses Verständnisproblem grafisch auflösen?
Ich sehe das Virus als konzentrische Ausbreitung, wie von einem ins Wasser geworfenen Stein und der daraus verbreiteten Welle. Wenn jetzt an nur einer Stelle der vom Epizentrum ausgehenden konzentrischen Kreise ein neues Epizentrum entsteht, bereitet sich auch dieses Zentrum als zweite Welle wieder entsprechend aus. Aber statt dieses Satzes sollten Sie einfach nur mit einer Zeichnung arbeiten!
1 Kommentar verfügbar
Leo Kottke
am 17.06.2020Zu keinem Zeitpunkt der Pandemie hatte ich bisher das Gefühl nicht zu verstehen, was das…