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Das große Fressen

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Während zwanzig Millionen Afrikanern der Hungertod droht, machen immer mehr Europäer Sorglos-Urlaub auf den Kanarischen Inseln. All inclusive heißt die Devise jenseits von Afrika. Das gute Gewissen gehört nicht dazu.

Rund vier Flugstunden südlich von Deutschland scheint die Welt noch in Ordnung. Fast das ganze Jahr herrscht Badewetter, goldgelbe Sandstrände glänzen im Sonnenlicht, das Meer schimmert in unverschämt schönem türkisblau. Islamistischer Terror, schreckliche Kriege oder angstmachende Populisten scheinen auf den Kanarischen Inseln weit weg.

Nur wenn der Wind auf Ost dreht, dann spüren Einheimische und Touristen, dass auch hier ein Krisenherd in nächster Nähe liegt. Dann nämlich bläst der Calima heiße Luft und staubigen Saharasand aus Afrika auf die spanische Inselgruppe, deren kürzeste Entfernung zur marokkanischen Küste gerade mal hundert Kilometer beträgt. Der blaue Himmel über Teneriffa, Gran Canaria und den übrigen Inseln trübt sich ein, die Sonne dringt kaum noch durch, die Fernsicht auf die umliegenden Inseln ist drastisch reduziert. Der Wüstensturm taucht die Kanaren in monochromes Sepia.

Kurz vor der größten Hungersnot

Zufällig herrschte das Wetterphänomen auch Anfang März, als der Schwarze Kontinent kurzzeitig Schlagzeilen machte. Wie so oft waren es Hiobsbotschaften, die sich über Afrika verbreiteten. Gleich in drei Ländern des Kontinents, in Nigeria, in Somalia und im Südsudan, führen Dürren und Kriege zu dramatischen Hungernöten. "Wir sind an einem kritischen Punkt in der Geschichte. Seit Jahresbeginn sind wir mit der größten humanitären Katastrophe seit Gründung der Vereinten Nationen konfrontiert", appellierte UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brian am 10. März im Weltsicherheitsrat, alle Rettungshebel in Bewegung zu setzen. Rund 20 Millionen Menschen drohe der Hungertod, sollten sich die Vereinten Nationen nicht zu einer größeren Hilfsaktion entschließen. 4,4 Milliarden US-Dollar muss die Staatengemeinschaft bis Juli auftreiben, um das Schlimmste zu verhindern, so O'Brian.

Während sich auf dem Schwarzen Kontinent unfassbares Unheil anbahnt, herrscht nicht weit entfernt davon grotesker Überfluss. In den Hotels und Restaurants der Kanaren sind Speisekammern, Kühlschränke, Bierfässer und Weinkeller prall gefüllt. Dürre, Hunger und Tod sind kein Thema, erst recht nicht für die Touristen, von denen im vergangenen Jahr rekordverdächtige 14 Millionen auf den sieben Inseln gezählt wurden. Vielleicht auch, weil die Hauptnachrichten von "Tagesschau" oder "Sky-News" gerade dann laufen, wenn sich die Speisesäle der zahllosen Bettenburgen zum Abendessen öffnen. Die Schlacht am Büffet triumphiert so über Schreckensbilder von ausgemergelten Kindern und verdurstetem Vieh, die via Satellit oder Internet ins Urlaubsparadies eindringen.

Lässt es sich noch in Los Cristianos (Teneriffa), Maspalomas (Gran Canaria) oder Puerto del Carmen (Lanzarote) guten Gewissens urlauben, wenn quasi nebenan die Welt untergeht? Etwa jeder dritte Kanaren-Besucher trägt heute ein Bändchen am Handgelenk, das ihn als All-Inclusive-Privilegierten ausweist. Auf Fuerteventura sind sogar fast sechzig Prozent der Gäste AI-Touristen. In immer mehr Hotels ist "alles drin" die einzige Buchungsoption. "Schlemmen und genießen im All Inclusive Hotel. Reisen Sie ganz unbeschwert", bewirbt etwa der Marktführer TUI das Rund-um-Sorglos-Paket.

Neben Flug, Transfer, Unterkunft sowie Unterhaltung sind es vor allen die im Reisepreis inbegriffenen Mahlzeiten morgens, mittags und abends, lokale alkoholische und nichtalkoholische Getränke sowie Snacks und Getränke tagsüber an der Hotelbar, die derartige Pauschalangebote attraktiv machen. Da alles schon vorab bezahlt ist, drohen keine ausufernden Rechnungen oder versteckte Kostenfallen, werben die Veranstalter. Das Reisebudget bleibt überschaubar, was laut Deutschem Reiseverband (DRV) vor allem Familien schätzen.

Der neueste Shit: Ultra-All-Inclusive und All-Inclusive-Plus

Wem das nicht reicht, für den schnüren Anbieter inzwischen "Ultra-All-Inclusive"- oder auch "All-Inclusive-Plus"-Pakete. "Wenn selbst Tennis, Spa, geführte Mountainbike-Touren, Katamaran, Wellenbad oder Massage etc. keinen Cent extra kosten, bleibt kein Wunsch unerfüllt", beschreibt etwa das Reiseportal "lastminute.de" diese Optionen. In Online-Foren finden sich jedoch auch ganz andere Erläuterungen: "Fressen und Saufen rund um die Uhr", heißt es dort zu den Superpauschalen.

An dem Abend, an dem UN-Nothilfekoordinator O'Brien in New York vor Hungerkatastrophen in Afrika warnte, bot ein Mittelklassehotel auf Lanzarote seinen Gästen folgende Auswahl: am Salatbüffet neben Variationen (Kartoffel-, Kohl-, Eier-, Linsensalat) Auflauf mit Gemüse und Soja, Frikadellen mit Cheddar-Ummantelung sowie Huhn-Toast. Zum Hauptgang durften die Gäste unter Kalbsragout, Fleischbällchen mit Tomaten, Tintenfisch à la Romana, verschiedenen Pizzen, Pasta mit Béchamelsauce, Fischauflauf oder gebratener Blaufisch nebst verschiedener Reis-, Kartoffel- und Nudelbeilagen wählen. Für das Dessert standen Schokoladen-, Eigelb, Himbeer-, Johannisbeer- oder sonstige Kuchenvariationen bereit, zuzüglich vier Eissorten und reichlicher Obstauswahl. Für viele Gäste stellte sich erst gar nicht die Frage, ob Fisch oder Fleisch, Kuchen oder Käse. Sondern: wie viel von möglichst allem. Im Zweifel tischten sich die meisten deutlich mehr als weniger auf.

Zu wenig essen schadet – zu viel auch

Laut Robert Koch Institut (RKI) sind zwei Drittel der Männer (67 Prozent) und die Hälfte der Frauen (53 Prozent) in Deutschland übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen (23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen) ist sogar stark übergewichtig, sprich adipös. Beides gilt als Mitursache für Beschwerden und chronische Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Gelenkschäden. Die zunehmende Zahl der Betroffenen und ihre Folgeerkrankungen lassen die Kosten des Gesundheits- und Sozialsystems explodieren. "Übergewicht und Adipositas sind daher Themen von hoher Public-Health-Relevanz", so das RKI.

Während in Deutschland zuletzt der Gesundheits- und Wellnesstourismus boomt, scheinen in südlichen Gefilden die Fress- und Trinkorgien weiter zu florieren. Schnäppchenangebote tragen dazu bei, diese Entwicklung zu zementieren. Mittlerweils ist das AIl-Preisniveau auf historische Tiefstände gesunken, wenn auch die Destinationen der Superbilligurlaube in derzeit weniger angesagten Ländern liegen. So ist eine Woche Al-Inclusive in der türkischen Touristenhochburg Side schon für 58 Euro zu haben. Mit Flug ab Stuttgart nach Antalya zahlen Urlauber nur 211 Euro.

"Diese Preise sind nicht kostendeckend", heißt es aus Branchenkreisen. Mit allen Mitteln, auch mit Verlusten, versuchen türkische Hoteliers, deutsche Gäste wieder zurückzuholen. Nach Terroranschlägen und dem Putschversuch gegen Staatspräsident Erdogan waren im vergangenen Jahr die Reisebuchungen in die Türkei um bis zu 40 Prozent eingebrochen. Jüngste politische Entwicklungen ließen die Buchungszahlen im Januar nochmals um die Hälfte absacken.

Kritik, dass sie Urlauber im sonnigen Süden zu Dumpingpreisen abfüllen und vollstopfen, versuchten die Reiseveranstalter zuletzt mit einer Studie zu entkräften. Demnach ist Tourismus auch so etwas wie Entwicklungshilfe. "Die vielen Millionen Auslandsreisen der Deutschen tragen auch zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in zahlreichen Ländern dieser Erde bei", betont Michael Frenzel, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Tourismuswirtschaft e.V. (BTW), im Vorwort der im Oktober 2015 erschienenen Studie "Entwicklungsfaktor Tourismus" (<link http: www.btw.de cms upload tourismus_in_zahlen entwicklungsfaktor_tourismus entwicklungsfaktor_tourismus_kurzfassung.pdf external-link-new-window>Download Kurzfassung hier) So geben deutsche Reisende in Entwicklungs- und Schwellenländern 13,5 Milliarden Euro aus und schaffen damit direkt 738 000 Arbeitsplätze. In Afrika ließen deutsche Touristen im vorvergangenen Jahr 2,9 Milliarden Euro. Mit indirekten und induzierten Effekten trugen die Urlauber dort zu Umsatz und Einnahmen von insgesamt 4,1 Milliarden bei. Eine Gesamtbetrachtung relativiert die Hilfeleistung für Afrika: In 2015 gaben die Deutschen für Auslandsreisen insgesamt 72 Milliarden Euro aus.

Dennoch betont Frenzel, dass es anhand der Studie erstmals überhaupt gelungen sei, den Einfluss des Tourismus auf die Lebensbedingungen der Einheimischen zu untersuchen. "Wir wissen jetzt, dass der Tourismus zu einer besseren Wasserversorgung für die Bevölkerung in Entwicklungs- und Schwellenländern beiträgt", so BTW-Präsident Frenzel.

Dass sich deutsche Touristen künftig als Entwicklungshelfer in die Hungerregionen Afrikas aufmachen, bleibt unwahrscheinlich. Zunächst müssten dort die Waffen schweigen. Letztlich hat es jeder mit dem eigenen Gewissen zu vereinbaren, wo und wie er oder sie die kostbarsten Wochen im Jahr verbringt. Auch dann, wenn die Kanarischen Inseln das Traumziel sind. Den Veranstalter für unerwünschte Nebenwirkungen einer Sorglos-Reise verklagen, geht jedenfalls nicht. Das entschied ein Gericht, nachdem ein Urlauber 2,5 Kilogramm im All-Inclusive-Domizil zugelegt hatte.


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5 Kommentare verfügbar

  • Peter S
    am 28.03.2017
    Antworten
    Stimme tauss und Kornelia zu.
    Man ändert an dem Leid Afrikas null wenn sich der Tourismus ändert, egal ob auf den Kanaren oder in Afrika oder der Türkei. Die meide ich allerdings bis auf weiteres auch.
    Wir (also BRD, Nato und möglicherweise USA) sollten aufhören Krieg zu führen bzw zu unterstützen…
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