KONTEXT:Wochenzeitung
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Journalisten als Pack

Journalisten als Pack
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Im Journalistenmillieu scheint dasselbe soziale Gesetz zu gelten wie auf dem Pausenhof: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.

Vielleicht eine der härtesten Lektionen meines Lebens lernte ich auf dem Pausenplatz. Ich war nicht besonders beliebt: Ich hatte eine dicke Brille, gute Noten und keine Ahnung von Kindern.

Kurz: Sobald es klingelte, musste ich mich vor meinen Kameraden hüten. Ich mochte sie nicht. Aber wen ich wirklich hasste, waren nicht die Leute, die mich verprügelten. Es waren die, die noch deutlich öfter verprügelt wurden als ich. Also der dicke Thömeli. Oder der Alkoholikersohn Manfred, der sein Bein leicht nachzog.

Mit ihnen schlug ich mich, angefeuert von der Meute und der Hoffnung, bei einem möglichst grausamen Sieg in ihre Reihen aufgenommen zu werden. Was natürlich nie passierte.

Erst zwanzig Jahre später verstand ich, was passiert war. Und zwar, als ich von Hans Mayer das Buch "Außenseiter" las: über Juden, Homosexuelle und Frauen in der Literatur. Mayer schilderte für die Salons des 18. und 19. Jahrhunderts dasselbe wie für die Primarschule Bassersdorf in den 70er-Jahren: Auch in der Literatur gingen die Außenseiter in spektakulären Kämpfen aufeinander los, um vom Establishment akzeptiert zu werden. Was natürlich nie passierte.

Stalin vs. Mao

Eines der mutigeren Projekte unserer Branche war kürzlich die Tageszeitungsdebatte, angerissen durch den "Spiegel"-Reporter Cordt Schnibben. Sie endete ziemlich spektakulär mit dem Konzept einer Tageszeitungs-App.

Davor lief eine längere Debatte. Ein paar der etwas lauteren Köpfe im Journalismus schrieben zur Tageszeitung. (Darunter ich.) Danach spottete Sascha Lobo, dass alle Teilnehmer der Tageszeitung genau das als Geschäftsmodell verschrieben, was sie selbst als Geschäft betrieben. (Darunter ich.)

Lobo hatte natürlich recht: Jeder hatte sein Musterköfferchen ausgepackt. Andererseits, was sollte man tun? Bei einer öffentlichen Debatte macht man meistens einen sicheren Eröffnungszug. Und hält sich an Erprobtes.

Was aber auffallend war, war die harte Differenz in diesen Eröffnungszügen. Fast alle Blogger erklärten die Tageszeitung für tot, fertig, aus. Während die Print-Leute behaupteten, keine Probleme zu haben als die Debatte darüber, dass sie tot seien.

Kurz, der Streit klang erstaunlich vergilbt. Als wäre die Frage noch Internet oder Papier. Oder wie der verblüffte Gastgeber Schnibben sagte, der von beiden Seiten beschossen wurde: "Printstalinisten" kämpften gegen "Onlinemaoisten".

Kinder und ihr Kuchen

Nur woher die Härte der Polemik? Sonst ist das Überraschende an der Journalistenszene ihre Freundlichkeit. Zwar hören, sagen, denken alle über fast alle viel Böses: Dieser Artikel ist unterirdisch, dieser Kollege ein Blinder. Nur dass, falls man den Blinden in einer Bar trifft, man ihn fast immer mit ehrlicher Freude begrüßt. Und ebenso begrüßt wird, trotz allem, was dieser über einen denkt.

Danach redet man ausführlich über die Blindheit Dritter, die man später ebenso erfreut trifft. Das soziale Gesetz im Journalistenmilieu scheint zu sein: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.

Und dafür gibt es gute Gründe:

Jeder von Verstand in der Branche weiß, wie schwierig der Job ist, seriell irgendetwas Wichtiges, Cleveres, Unfugfreies zu schreiben. Ein missratener Text (oder auch fünf) sprechen gegen niemanden.

Der Informationsfluss hilft allen. Andere Journalisten gehören zu den wichtigsten Quellen: für Branchenklatsch, Telefonnummern, Sachthemen. Man kann sich keine Feindschaften im Dutzend leisten.

Das wäre auch riskant, weil die meisten Redakteure periodisch die Redaktion wechseln. Man trifft sich wieder.

Das Gedächtnis der Branche ist das eines Kindes: Sie interessiert sich nicht für gestern (und nicht für morgen), sondern nur für die Ausgabe morgen früh.

Doch der wichtigste Grund ist, glaube ich, ein ökonomischer. Journalismus ist eine Branche mit wenig Neid. Einfach, weil Platz für alle ist: für den Routinier, den Rechercheur, den Dauerkommentator, den Schnörkelschreiber, wen auch immer. Wenn Journalist X einen Artikel veröffentlicht, egal wie lang oder prominent, heißt das für Journalist Y so gut wie nie, dass er seinen Artikel nicht veröffentlichen kann. Denn mit der Publikation jedes Artikels ist sein Platz schon wieder leer: in der nächsten Ausgabe. Oder im Netz: in der nächsten Minute.

Das heißt: Die erstaunliche Freundlichkeit unter Journalisten basiert darauf, dass der Kuchen groß genug für alle ist – selbst für die Dümmsten unter uns.

Großzügigkeit und Angst

Böse könnte man sagen: Der große Kuchen führt zur Komplizenschaft satter Stümper. Aber ist nicht die volle Wahrheit: Kuchen für alle führt auch zu Großherzigkeit. Denn seltsamerweise verlässt man als Journalist die eigene Redaktion nicht nur dann aufrecht, wenn einem ein Artikel gelungen ist. Sondern man ist fast ebenso stolz, wenn den Kollegen etwas gelang.

Das gilt sogar für Journalisten vollkommen fremder Blätter. Eine Recherche, eine Frechheit, ein Treffer, den man irgendwo (selbst bei der direkten Konkurrenz) liest, kann einen den halben Morgen lang glücklich machen. Erstens, weil man weiß, was es an Können und Glück brauchte, dass das Teil gelang. Aber vor allem: weil der Erfolg eines Kollegen nie gegen den eigenen spricht. (Morgen ist die Bühne wieder leer, mit Platz für eine neue Show.)

Diese Entspanntheit des Urteils und des Herzens gehört zum Schönsten an diesem Beruf. Und ist nicht selbstverständlich. Die Kunstszene etwa funktioniert zwar sehr ähnlich wie der Journalismus – und zwar nach dem Recycling-Modell: So wie Zeitungstexte primär aus anderen Zeitungstexten wachsen, wächst Kunst primär aus anderer Kunst. Und trotzdem funktioniert das Milieu sehr anders: mit einer Menge mehr Angst, Neid und Opportunismus.

Naive denken, Künstler sind die freiesten Menschen. Doch in der Praxis können Profis bei einer Kunstparty die Hierarchie schon an den Begrüßungsküsschen ablesen: die Hackordnung zwischen denen mit und denen ohne Namen. Nervös sind unterschiedslos alle: Stars, Exstars und Underdogs. Denn die Hierarchie des Erfolgs ist nur temporär. Anfänger wie Arrivierte können massenweise Fehler begehen: zu wenig Variation in seinem Werk zu haben (unkreativ!) oder zu viel (keine sichere Marke!), in den falschen Galerien auszustellen (bei den Losern), das falsche Medium zu benutzen (er macht noch Video – gähn!) oder überhaupt älter zu werden (Mutter, was tust du hier – du hast geboren).

Dabei oder nicht dabei zu sein ist für Künstler die Frage der ganzen Existenz: von Prestige wie Geld. Kein Wunder, ist die Kunst in der Kunstszene nicht zuletzt die Kunst des Opportunismus – nicht umsonst funktioniert der Kunstmarkt nach den Wellen der Mode, nicht umsonst wirken Kunstwerke wie Künstler oft erstaunlich uniformiert. Und es herrscht eine Menge Neid. Denn es gibt pro Stadt nicht nur eine begrenzte Menge Leute, die gleichzeitig die großen Galerien, die fetten Mäzene und die staatlichen Stipendien kontrollieren. Sondern auch eine begrenzte Anzahl Plätze für lokale Stars. Das heißt: Wenn du eine Ausstellung, einen Gönner, einen Kunstpreis bekommst, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass auch ich etwas bekomme.

Kurz: Wer Künstler wird, beweist Mut. Er liefert sich einer Welt des Neides, der Angst und des Opportunismus (Self Branding) aus.

Auf dem Pausenplatz 2013

Der Grund für die Schroffheit der Tageszeitungsdebatte im "Spiegel" ist, fürchte ich, dass sich der Journalismus in Richtung Kunstszene entwickelt. Der Kuchen wird kleiner, die Kuchenesser aggressiver. Heutige Print-Redaktionen sind ähnlich gemanagt wie ein Roman von Agatha Christie: Das Personal schrumpft mit Fortschreiten der Handlung. (Nur dass der Mörder nicht der Butler, sondern die eigene Verlagsetage ist.)

Hier trifft die Charakterisierung der Tageszeitung als einer sterbenden Branche präzis. In ihrer Personalpolitik gleichen Zeitungen einem Totenschiff. Das ohne klaren Kurs im Sturm mit löchrigen Kassen segelt, gefangen in einer ewigen Abwehrschlacht, nicht zuletzt gegen die eigene Kapitänsetage. Nur dass die Matrosen noch immer weit besser bezahlt sind als die kleinen Kanus mit neuen Ideen.

Nur welche? Viele dieser neuen Ideen laufen auf das Modell Kunstszene hinaus. Im Kern geht es – bei bezahlten oder unbezahlten Blogs, bei der Meinungsführerschaft in einer gewissen Sparte, bei Flattr, beim Aufbau eines eigenen Netzes, einer eigenen Marke, eines Berufs, bei dem die Texte nur noch Werbeträger für einen Vortrags- oder Beratungsjob sind – um die Errichtung eines Starsystems. Die Cleversten werden für ihre Arbeit hinreichend bezahlt, dass sie davon leben können. Die anderen nicht.

Der einzige Unterschied zum Kunstsystem ist, dass ein breites Publikum die Summen einiges breiter streut, statt dass eine Elite den Gewinnern Elitenpreise zahlt. Trotzdem bleibt in einem Markt, der Individuen als Marken handelt, das Problem immer dasselbe: Aufmerksamkeit ist ein knappes und untreues Gut. Die meisten werden es nicht schaffen und wenn, nicht auf Dauer.

Kurz: Die Zeitung hat in der neuen Medienwelt eine höchst ungewisse Zukunft; das Individuum, das allein auf sein eigenes Geschick baut, aber auch.

Ich fürchte, der harte Ton in der "Spiegel"-Debatte gleicht den Prügeleien auf dem Pausenplatz in Bassersdorf: Hier treten Machtlose gegen Machtlose an. In der Hoffnung, bei einem möglichst harten Fight es in den sicheren Hafen des Establishments zu schaffen.

Was natürlich nie passieren wird.

Jeder stirbt für sich allein

Das Üble an der Zeitungsdebatte bis heute ist, dass sie zwar – wie jede Krise – die Leute zum Denken und zum Reden bringt: Nur denkt und redet jeder für sich allein. Das nicht nur aus Eitelkeit. Sondern weil das Forum fehlt. Zwar gibt es Zeitungen, Twitter, Blogs und Kongresse, aber kein Projekt.
 Das ist nicht zuletzt die Schuld derer, die bei der Tageszeitungs-Debatte (mit der Ausnahme eines Springer-Mannes) fast komplett schwiegen: der Verlage.

Das Problem mit den Verlagen ist, dass sie die Krise hauptsächlich mit dem Rotstift bekämpfen. Oder dem Handelsregister: durch Fusion oder Verkauf von Zeitungen. Investitionen flossen zwar in Ich-auch-Onlineportale – schlicht, weil es ohne nicht mehr ging. Aber so gut wie kein Verlagshaus investierte ein paar wenige Gelder offensiv in die Zukunft. Und machte eine oder mehrere kleine Entwicklungsabteilungen für die eigenen Produkte auf.

Das hat enorme Folgen für die Qualität der Zeitungsdebatte. Würde man an einem Projekt arbeiten, müsste man a) zuhören, b) um konkrete Dinge streiten. Und c) müssten die Theorien den Test der Wirklichkeit bestehen. Doch so kann, wer aus Erfahrung spricht, nur aus seiner Ecke sprechen. Das Charakteristische an der Pressekrise ist, dass zwar die Branche langsam vor sich hin serbelt, aber fast jeder stirbt für sich allein. (Oder rettet sich allein.) Es fehlt das Kollektiv.

Eine Zeitung ist im Kern nicht Papier, nicht Online, sondern ein Organisationsmodell. Im schlimmsten Fall eine Verarbeitungsfabrik für Nachrichten, im besten ein Expeditionsteam in die Wirklichkeit. Ihr Job ist auch durch brillante, gut vernetzte Einzelne nicht machbar.

Die politische Frage

Was tun? Das Problem für die aktuellen Köpfe ist, dass publizistische Ideen nicht genügen, um aus der Falle zu kommen. Es braucht organisatorisches Denken. Und es braucht noch mehr: Es braucht Projekte, also Unternehmertum und Investitionen.

Aber wenn schon Denken, dann glaube ich, dass Konzepte wie die Tageszeitungs-App des "Spiegels" der richtige Ansatz sind. Die App ist nicht perfekt, sicher. Und Kritik daran ist teils berechtigt. Doch es ist die Richtung, wie man die Zeitung neu denken müsste: nicht als Renovation des Bestehenden, sondern als komplett neues Unternehmen. (Auch wenn die App erneut im Wesentlichen wieder nur nur der Plan eines einzelnen Journalisten ist – und nicht die Kühnheit eines mutigen Verlagshauses.)

Aber darum geht es letztlich in der Zeitungsdebatte: nicht um die Frage Print oder Online, nicht einmal um die Rettung des eigenen Jobs, sondern um den Neubau einer ganzen Institution. Und damit um zwei eminent politische Fragen. Erstens: Was sind die Alternativen? Und zweitens, wie man sich organisiert.

 

Constantin Seibt ist Redaktor beim Züricher "Tages-Anzeiger". Der 1966 in Frankfurt am Main geborene Reporter wurde nach der Veröffentlichung seines Buch "Der Swissair-Prozess" als Schweizer Journalist des Jahres 2007 ausgezeichnet. Sein bemerkenswerter Text erschien bis dato nur in der Schweiz. (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.)


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2 Kommentare verfügbar

  • Jörg Beyer
    am 04.10.2013
    Antworten
    Es ist, sagen wir mal, fast alles richtig, im Beitrag und dem Kommentar drauf. Und doch fast alles falsch. Die Diskussion über Printmedien vergisst bislang den Preis, das Geld, das Menschen auszugeben bereit sind.

    War die Tageszeitung vordem ein Betrag, der nebensächlich war, ist das heute in…
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