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Lisa Winter über Gregor Gog

"Einer, der für die Schwächsten eintrat"

Lisa Winter über Gregor Gog: "Einer, der für die Schwächsten eintrat"
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Vor 80 Jahren starb Gregor Gog, der 1929 in Stuttgart den Vagabundenkongress organisierte. Seine Großnichte Lisa Winter erzählt von den "Häutungen" ihres Vorfahren, den Mythen um ihn – und davon, warum seine Forderungen heute wieder wichtig sind.

Das Leben des 1891 geborenen Gregor Gog prägen die Brüche deutscher Geschichte. Die kaiserliche Marine öffnet dem Pazifisten das Tor zur Welt. Gog wird Zeuge des Kieler Matrosenaufstands, schreibt für politische Blätter, steht im Austausch mit Lebensreformern wie Gusto Gräser. Mit der 1927 gegründeten "Bruderschaft der Vagabunden" will er den Deklassierten eine Stimme geben, der von ihm mitorganisierte "Vagabundenkongress" 1929 in Stuttgart wird zum internationalen Medienereignis. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 landet Gog im KZ Heuberg, übersteht Folter und Haft und flieht erst in die Schweiz, dann in die Sowjetunion, wo er auf Asyl hofft, stattdessen zur Zwangsarbeit herangezogen wird. Am 7. Oktober 1945 stirbt er krank und entkräftet.

Foto: Alexandra Winter

Lisa Winter, geboren 1962 in Oberndorf am Neckar, studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft in Freiburg und absolvierte danach eine Schauspielausbildung an der Freiburger Schauspielschule. Seit 1990 steht sie mit eigenen Abendprogrammen auf der Bühne, etwa mit "Schwarzen Chansons" oder mit "Herzflimmern", einer Brecht-Lesung mit Gesang. 2011 brachte sie das von ihr geschriebene Musical "Liebe zwischen den Jahrhunderten" im Kulturbahnhof Neuenkirchen-Vörden zur Uraufführung. 2023 erschien die erste CD "Nearer than my breath" ihrer Band "Antamoon", 2024 ihr Debütroman "Der Rinnsteinfischer" über Gregor Gog im Verlag Tredition.  (os)

Mit ihrem heute fast vergessenen Vorfahren beschäftigt sich Gogs Großnichte Lisa Winter seit Jahrzehnten, 2024 erschien ihr biografischer Roman "Der Rinnsteinfischer" – der Titel bezieht sich darauf, dass Gog nachgesagt wurde, Talente aus dem Rinnstein zu fischen. Aktuell arbeitet sie an einem neuen Roman über Gog.

Frau Winter, Ihr Großonkel Gregor Gog gilt als schillernde und charismatische Figur der Weimarer Republik. Wer war dieser Mann?

Gog hatte etwas Sagenhaftes, schon zu Lebzeiten. Der Titel "König der Vagabunden", den er strikt ablehnte, machte ihn zur Kunstfigur. Als Symbol für den Kampf der Obdachlosen wird er von Vagabunden-Verbänden, Literaten und einigen Theaterleuten bis heute verehrt. Und doch bleibt er schwer zu fassen. Für mich war er ein zivilcouragierter Mensch mit starkem Unrechtsbewusstsein, der kompromisslos für die Schwächsten eintrat – auch wenn er sich damit selbst schadete.

Gog war Matrose und Gärtner, Pazifist, Anarchist und Kommunist, Schriftsteller und Aktivist, Freigeist und Menschenfreund. Gibt es einen roten Faden in seiner Biografie?

Ja – sein Drang nach Eigenständigkeit. Er wollte sich nie einengen lassen. Schon als junger Mann suchte er die Nähe zu Andersdenkenden. Gerhart Bettermann sprach von Gogs "Häutungen": alte Hüllen abwerfen, sich neu erfinden. Das war nicht nur seine persönliche Suche, sondern auch eine Reaktion auf die Zeit. Wer leben wollte, musste Farbe bekennen. Gog entschied sich letztlich für die rote Fahne – auch als radikale Geste gegen das, was er als geistige Erstarrung empfand.

Sie haben ihn nie persönlich getroffen. Wie sind Sie ihm trotzdem nähergekommen?

1980 lagen plötzlich Bücher über die Vagabunden-Bewegung auf unserem Wohnzimmertisch. Meine Familie schwieg verlegen – und genau das weckte mein Interesse. Gleichzeitig sprach man immer ehrfürchtig vom "großen Gregor" und seiner Frau Anni Geiger-Gog, die Kinder- und Jugendbücher schrieb. Für mich war die Beschäftigung mit ihm anfangs ein Aufstand gegen mein streng katholisches Elternhaus. Später wurde sie Teil meines beruflichen Wegs als Literaturwissenschaftlerin und Musikerin.

In Ihrem Roman "Der Rinnsteinfischer" stehen Gogs Stuttgarter Jahre im Mittelpunkt. Warum haben Sie diese Zeit gewählt?

Randgruppen interessierten mich schon im Studium. Meine Magisterarbeit schrieb ich über die "Angst vor Zigeunern". Da lag es nahe, mich auch mit Gogs Einsatz für Vagabunden zu beschäftigen. Mit seiner 1927 in Stuttgart gegründeten "Bruderschaft der Vagabunden" gab es eine Organisation, die sich für Entrechtete stark machte. Denn wer damals ohne Papiere aufgegriffen wurde, kam ins Gefängnis oder Arbeitshaus. Allerdings rückten Gogs Bohemien-Status als Kunstmäzen und seine extremen politischen Statements diese soziale Komponente bald wieder in den Hintergrund.

Bruderschaft und Vagabundenkongress

1927 ruft Gregor Gog die "Bruderschaft der Vagabunden" ins Leben und wird Herausgeber der von Gustav Brügel gegründeten Zeitschrift "Der Kunde", der ersten Straßenzeitung Europas. "Kunde" war eine Eigenbezeichnung für umherziehende Handwerksburschen, Landstreicher und Bettler. Mitte der 1920er-Jahre tippeln rund 70.000 Vagabunden durch Deutschland, 1933 sind es schon eine halbe Million. Die Bruderschaft soll ihnen helfen, sich gegen die Gewalten zu wehren, die ihnen ein menschenwürdiges Leben versagen; staatliche und kirchliche Fürsorgeeinrichtungen sowie Erwerbslosenhilfe lehnt sie ab. Stattdessen setzen die Vagabunden auf Selbsthilfe. Ihre Vision: der Obdachlose als umherschweifender Rebell, als Revolutionär in den Asylen Europas. Zentrale Forderung: die selbstverwaltete Herberge. Manch Versprengten wird Gogs Häuschen am Stuttgarter Sonnenberg zur Zuflucht. Pfingsten 1929 ist es so weit: Gog ruft zum Ersten Internationalen Vagabundenkongress nach Stuttgart – und die ganze Stadt gerät in Aufruhr: Straßensperren, Massenkontrollen, ausverkaufte Vorhängeschlösser. Und doch versammeln sich 600 Besucher auf dem Killesberg, die Gog als flammenden Redner erleben: "Generalstreik das Leben lang!" – keine Arbeitsverweigerung für ein paar Tage, sondern die radikale Absage an eine Gesellschaft, die Menschen nach ihrer Verwertbarkeit beurteilt. Literarische Größen wie Maxim Gorki und Sinclair Lewis senden Grußbotschaften, "Times" und "Daily Mail" berichten über den Kongress. Kurze Zeit steht der "Vagabundenkönig" im Zentrum einer Bewegung, die politische Radikalität und poetische Utopie verschränkt.  (fs/os)

1929 organisierte Gog den Ersten Internationalen Vagabundenkongress in Stuttgart. Welche Rolle spielte dieses Ereignis?

Es war Gogs großer Moment. Endlich bekam er die Aufmerksamkeit, die er sich erhofft hatte, auch international. Der Kongress war Ausgangspunkt für vieles: den "Vagabunden-Film", der 1931 im Berliner Marmorhaus Premiere feierte, und Gogs erste Reise in die Sowjetunion – zu den Besprisornijs, den russischen Kindervagabunden.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zerbrach die "Bruderschaft", viele ihrer Mitglieder landeten als "asoziale Volksschädlinge" im KZ, auch Ihr Großonkel. An Heiligabend 1933 floh Gog vor den Nazis in die Schweiz. Angeblich zu Fuß über den zugefrorenen Bodensee. Eine Legende?

Diese Geschichte war schon immer merkwürdig. 1933 gab es keine "Seegfrörne" …

im Bodenseealemannisch eine Eisschicht auf dem See, die Menschen trägt.

Also habe ich nachgeforscht – und stieß auf die "Transportkolonne Otto", eine Fluchthelfergruppe, die politische Zeitschriften nach Deutschland schmuggelte. Eine zentrale Figur war der Maler Otto Marquard, der ein Jugendbuch von Anni Geiger-Gog illustriert hatte und mit dem Ruderboot politische Flüchtlinge ans Schweizer Ufer brachte. Um diese Organisation zu schützen, erfand Gog wohl die Bodensee-Legende.

Nach der Zwischenstation in der Schweiz floh Gog weiter in die Sowjetunion. 1988 trafen Sie Gabriele Stammberger, Gogs letzte Lebensgefährtin im sowjetischen Exil. Wie hat das Ihr Bild geprägt?

Diese Begegnung war entscheidend. Gabriele wurde mir eine Art Wahlmutter. Durch sie habe ich den Menschen Gog kennengelernt, nicht nur den Mythos. Ihr autobiografisches Werk "Gut angekommen – Moskau" gibt ein lebendiges Bild seiner letzten Jahre. Ich habe auf ihrer Beerdigung gesungen und ihr ein Lied gewidmet: "Trip into the past".

Heute arbeiten Sie an einem neuen Roman über Gogs sowjetische Jahre. Wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine bleibt Ihnen der Zugang zu den Archiven versperrt. Was bedeutet das?

Natürlich ist es ein Hindernis. Aber es gibt viele Zeitzeugenberichte, besonders von frühen deutschen Emigranten. Sie sind für mich wichtige Quellen. Und immerhin: Online lassen sich die russischen Archivinventare noch einsehen.

Was könnte uns die von Gog initiierte Vagabundenbewegung heute lehren?

Dass die Würde des Menschen nicht an Lohnarbeit gebunden sein darf. Noch immer wird soziale Hilfe daran geknüpft, ob jemand "würdig" ist. Dabei beschwört das Grundgesetz die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Ohne die Vordenker der Vagabundenbewegung gäbe es viele heutige Initiativen nicht – Housing-First-Modelle, selbstverwaltete Unterkünfte, 24/7-Angebote. Nicht zu vergessen, dass Gogs Zeitschrift "Der Kunde" die erste Straßenzeitung Europas war. Ohne ihn wäre unser Blick auf Obdachlose heute ein anderer.

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