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Umgang mit "Arbeitsscheuen" in der NS-Zeit

Wie alte Stigmata die Sozialpolitik prägen

Umgang mit "Arbeitsscheuen" in der NS-Zeit: Wie alte Stigmata die Sozialpolitik prägen
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Wie die Nationalsozialisten mit angeblich "Arbeitsscheuen" oder "Asozialen" umgingen, ist bislang nur wenig erforscht. Der Stuttgarter Historiker Sebastian Wenger hat dazu eine umfassende Studie verfasst – und erklärt im Kontext-Gespräch, warum das Thema hochaktuell ist.

Der "faule Arbeitslose" sorgt für Aufregung. Immer wieder geistert der "Totalverweigerer" durch die politische Debatte: arbeitsfähige Grundsicherungsempfänger, die ohne sachlichen Grund eine zumutbare Tätigkeit ablehnen. Das, so heißt es, verletze Arbeitsmoral und Gerechtigkeitsempfinden. Die Stigmatisierung "Arbeitsscheuer" oder "Asozialer" hat jedoch eine lange, dunkle Vorgeschichte. Der Sozialhistoriker Sebastian Wenger hat diese nun beleuchtet: Er hat eine umfassende Studie zum Umgang mit angeblich Arbeitsunwilligen im Nationalsozialismus und der jungen Bundesrepublik vorgelegt. Mit seiner Monografie über die Zwangseinweisungen "Asozialer" in die Arbeitslager der Stadt Stuttgart und der Gustav-Werner-Stiftung in Göttelfingen und Buttenhausen zeigt er nicht nur, dass sich die Begriffe zwar ändern mögen, aber viele Narrative bestehen bleiben, er hat auch Pionierarbeit geleistet. Denn über diese Opfergruppe und die Institutionen, denen sie ausgeliefert war, wird bislang kaum geforscht.

Herr Wenger, im November 2023 forderte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann: "Wer arbeiten kann und Sozialleistung bezieht, muss nach spätestens sechs Monaten einen Job annehmen." Andernfalls solle gemeinnützige Arbeit verpflichtend sein. Kommt Ihnen das als Historiker bekannt vor?

Definitiv. Die Reichsfürsorgeverordnung von 1924 regelte die "Unterstützung Arbeitsfähiger" durch Zuweisung zu gemeinnütziger Arbeit. Wer etwa aus "sittlichem Verschulden" auf öffentliche Fürsorge angewiesen war, konnte in eine Arbeitsanstalt eingewiesen werden. Dieses demokratisch legitimierte Gesetz wurde im Nationalsozialismus massiv verschärft und pervertiert – bis hin zur Zwangsunterbringung und Deportation.

Haben wir aus der Geschichte also nichts gelernt?

Offensichtlich zu wenig. Wie vor hundert Jahren prägt der Gegensatz zwischen Bedürftigkeit und Würdigkeit der Fürsorge noch immer die Debatte. Wenn im Bundestag heute über Arbeitszwang gesprochen wird, bin ich erschüttert. Offenbar fehlt oft das historische Bewusstsein dafür, wohin solche Denkweisen führen können. Im Nationalsozialismus bedeutete das für viele Menschen Verfolgung, Internierung – und nicht zuletzt auch den Tod im Konzentrationslager.

Wie lässt sich ein solcher Diskurs aufbrechen?

Indem wir historische Erfahrung ernst nehmen. Wer Sozialpolitik gestalten will, braucht ein tiefes Verständnis für ihre Geschichte. Nur dann können wir gesellschaftliche Ausgrenzung erkennen – und verhindern.

Wann begann man überhaupt, Menschen als "arbeitsscheu" zu stigmatisieren?

Das reicht bis in die frühe Neuzeit zurück. Ab etwa 1500 unterschied man zwischen "würdigen" und "unwürdigen" Armen. Wer arbeitsfähig war und dennoch nicht arbeitete, galt als Bedrohung der sozialen Ordnung. Das Ziel war Disziplinierung durch Arbeit. Die Idee des Zucht- und Arbeitshauses war geboren – mit moralischem, ökonomischem und pädagogischem Anspruch.

Was änderte sich mit der Industrialisierung?

Ab dem 19. Jahrhundert wurde Erwerbsarbeit zur Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe. Wer nicht arbeitete, fiel aus dem Raster. Bettler, Landstreicher, Prostituierte oder Obdachlose landeten in Arbeitshäusern. Die staatliche Botschaft war klar: Wer sich verweigert, wird weggesperrt – und zur Arbeit "erzogen".

Hatte diese sogenannte Arbeitserziehung Erfolg?

In der Regel nicht. Arbeitshäuser dienten vor allem der Abschreckung. Die zugrunde liegende Idee war: Durch Beschäftigung wird aus einem "Asozialen" ein nützlicher Bürger. In Wirklichkeit war es eine Form sozialer Kontrolle.

Die strafrechtliche Unterbringung im Arbeitshaus verlor um 1900 an Bedeutung. Was trat an ihre Stelle?

Öffentliche und private Fürsorge übernahmen die Klientel der Arbeitshäuser. Das "Bielefelder System" ermöglichte ab 1916 wohnungslosen Männern, in Einrichtungen der Wandererfürsorge unterzukommen. Seit 1924 bestand eine rechtliche Grundlage für die "fürsorgerische Zwangsbewahrung". Verantwortlich dafür waren die Kommunen, die über ein breites Instrumentarium disziplinarischer Maßnahmen verfügten, um gegen "arbeitsscheue" Klienten vorzugehen, insbesondere mit Pflichtarbeit und Arbeitszwang.

Und dann kam 1933 der Nationalsozialismus.

Nun wurden Arbeit und Leistungsbereitschaft zu Kriterien, die über die Zugehörigkeit zur "Volksgemeinschaft" bestimmten. Sogenannte "Arbeitsscheue" wurden als "asozial" oder "gemeinschaftsfremd" stigmatisiert. Die Kommunen setzten legale und halblegale Formen der Bewahrung gegen sie durch. Einzelne Stimmen forderten schon früh die Einweisung "Asozialer" in die neu geschaffenen Konzentrationslager.

Wer galt im Nationalsozialismus als "asozial"?

Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter, sogenannte "Zigeuner", Fürsorgeempfänger, "als unerziehbar eingeschätzte Fürsorgezöglinge", "Trinker", "unstete Gelegenheitsarbeiter", sexuell freizügige Frauen, unverheiratete Mütter und säumige Unterhaltspflichtige – kurz: soziale Randgruppen. Kalkül war, eine möglichst weit gefasste Definition zu erarbeiten, um den Begriff "asozial" für massenhafte Ausgrenzung und Verfolgung tauglich zu machen.

Mit welchen Konsequenzen hatten diese Menschen zu rechnen?

Zunächst mit Kürzung der Leistungen. Ein weiterer Schritt war, sie in geschlossenen Anstalten zur Arbeit zu zwingen. Ab 1934 wurden viele von ihnen zwangssterilisiert, da der Nationalsozialismus soziale Problematiken zu Erbkrankheiten umdefinierte, die es "auszumerzen" galt.

Gab es im NS weitere Brüche zur vorherigen Praxis?

Ja. Die Aktionen "Arbeitsscheu Reich" im Frühjahr und Sommer 1938 markieren den Beginn der systematischen Deportation von Personen mit abweichendem Sozialverhalten in Konzentrationslager. Ziel war jetzt nicht mehr die Arbeitserziehung von "Arbeitsscheuen" und "Asozialen", sondern deren Beseitigung. Auch nach den reichsweiten Aktionen kam es immer wieder zu Deportationen in KZs. Man führte "Asozialenkarteien", um repressive Maßnahmen noch effizienter zu gestalten.

Sie haben in Ihrer Monografie die kommunalen Arbeitslager der Stadt Stuttgart und der Gustav-Werner-Stiftung in Göttelfingen und Buttenhausen in der NS-Zeit untersucht. Woran arbeiten Sie aktuell?

Unter anderem an einer Mikrostudie auf Grundlage von etwa 35 Einzelfallakten des Fürsorgeklientels aus dem Reutlinger Stadtarchiv. Ich will den Betroffenen ein Gesicht geben. Sie stehen im Vordergrund – als Individuen mit ihrer ganz persönlichen Geschichte.

Foto: Julian Rettig

Sebastian Wenger, geboren 1988 in Böblingen, studierte Geschichtswissenschaften und Kunstgeschichte an den Universitäten Stuttgart und Tübingen. Von 2016 bis 2019 war er Promotionsstipendiat am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung und arbeitete in dieser Zeit an seiner Dissertation zum Thema "Arzt – ein krank machender Beruf? Arbeitsbelastungen, Gesundheit und Krankheit von Ärztinnen und Ärzten im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert". Die Promotion folgte 2020. Im gleichen Jahr wurde er für seine Dissertation mit dem Wilhelm-Zimmermann-Preis der Universität Stuttgart ausgezeichnet. Seit 2020 arbeitet Wenger als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin in Stuttgart.  (fs)

Kann das helfen, die Opfergruppe ins gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken?

Das hoffe ich. In einem Workshop mit Studierenden der Sozialen Arbeit konnte ich sehen, mit welchem Interesse, aber auch mit welcher Empathie die Teilnehmenden auf die vorgestellten Einzelschicksale reagierten. Die abstrakte Schublade "asozial" verschwindet und plötzlich wird Identifizierung möglich.

Kann das auch die politische Debatte verändern?

Ich denke schon. Wenn wir den Opfern wieder einen Namen geben, wenn wir Menschen wieder als Individuen begreifen, statt sie als "nützlich" oder "unnütz" zu bewerten, kann das den Diskurs versachlichen. Und ich bin überzeugt: Ohne historisch-politische Bildung lässt sich kein neues Mindset gegenüber Randgruppen etablieren.

Was müsste sich dafür ändern?

Mehr Vernetzung unter Forschenden, mehr öffentliche Aufmerksamkeit, aber vor allem: mehr Förderung. Das Thema gilt immer noch als Randgebiet – ähnlich wie die Geschichte von Behinderten oder psychisch Kranken. Dabei liegen ganze Archivschätze brach.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die bayerische Herzogsägmühle ist eine ehemalige Arbeiterkolonie für wohnungslose Männer, die im Zuge nationalsozialistischer Zwangsfürsorge zur multifunktionalen Anstalt wurde. Dort warten rund 9.000 Einzelfallakten auf ihre Erschließung. Ein riesiges Potenzial für die Forschung. Ich bin überzeugt: Geisteswissenschaft kann – und muss – Perspektiven für Gegenwart und Zukunft entwickeln. Das sollte Anspruch jeder Forschung mit gesellschaftlicher Relevanz sein.


Zum Umgang der Nationalsozialisten mit vermeintlich "Arbeitsscheuen", einem bislang kaum erforschten Kapitel der NS-Geschichte, hat Sebastian Wenger im Oktober vergangenen Jahres die Studie "Arbeitsscheu, verwahrlost, gefährdet – Zwangseinweisungen 'Asozialer' in die Arbeitslager der Stadt Stuttgart und der Gustav-Werner-Stiftung" vorgelegt. Erschienen bei Nomos, Baden-Baden 2024, Softcover, 275 Seiten, erhältlich für 64 Euro.

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