Am 13. August 1900 erhielt der Offiziersbursche Sofonias Theuß, der gerade in der Stuttgarter Reiterkaserne die Pferde seines Hauptmanns Max von Gemmingen versorgte, ein Telegramm: "Wir gehen nach China. Komme nachts." Zunächst fuhren er und der Hauptmann im Zug nach Berlin, dann "unter den Klängen der Stadtkapelle und unter Hurrarufen von dem dort versammelten Volk" zur Einschiffung nach Bremen, so Theuß in seinen Aufzeichnungen. Wiederum "unter den tausendfachen Hochrufen der Soldaten auf den Schiffen und der großen Volksmenge" legten die Truppentransporter ab. Dem ungelernten Arbeiter Theuß, gerade mal 25 Jahre alt, der schon als Jugendlicher in einer Cattundruckerei bei 45 Grad hatte schuften müssen, winkte das große Abenteuer.
Den Suezkanal erreichten die Schiffe am 11. September, am 24. September Ceylon, wo die Briten gerade 800 gefangene Buren an Land brachten – in Südafrika unterwarfen sie gerade die gold- und diamantreichen Kaprepubliken. Dem verlustreichen und grausamen Krieg verdankt die Welt die "Konzentrationslager". Wenige Tage später bewunderte Theuß in Singapur die "vornehmen Paläste der weißen Herrenvölker aus Europa, auf denen häufig die englische Flagge wehte".
"Am 16. Oktober wurde Taku im Golf von Petschili erreicht. Wir erfuhren, dass sich die Chinesen sehr weit ins Land zurückgezogen hatten und nicht mehr kämpfen wollten. Wir waren enttäuscht – hatte doch Kaiser Wilhelm II. in seinem Scheidegruß an das Ostasiatische Expeditionskorps in Bremerhaven uns angefeuert, auch wegen der Ermordung des deutschen Gesandten in Peking, Freiherrn von Ketteler am 20. Juni 1900. In diesem Sinne waren wir vorbereitet, als Racheengel zu kommen."
Schon einmal 1897 hatte Wilhelm seine Racheengel nach China geschickt – die Ermordung von zwei deutschen Missionaren war ihm eine willkommene Gelegenheit, das von Admiral Tirpitz zuvor ausgewählte Kiautschou an der chinesischen Ostküste zu besetzen. Doch die einheimische Bevölkerung wehrte sich gegen Eisenbahnbau und Sklavenarbeit, gegen Christianisierung und Fremdherrschaft. Auch für die verheerenden Überschwemmungen und die Hungersnot, die 1899 Millionen Opfer forderten, wurden die Fremden verantwortlich gemacht – vor allem von den "Faustkämpfern vereinigt für Gerechtigkeit", von den Europäern "Boxer" genannt. Diese "Yi Ho Tuan" wuchsen in den Hungerregionen schnell zu einer antikolonialen und antichristlichen Massenbewegung mit 500.000 meist jugendlichen Anhängern.
Ketteler hatte die Belagerung provoziert
Der deutsche Gesandte Ketteler tat sich als aktiver Befürworter der "Politik des großen Stocks" hervor, als sich die Yi Ho Tuan in Peking zeigten. Anfang Juni verprügelte er einen "Boxer" mit dem Spazierstock und "verhaftete" einen Jungen, den er in der deutschen Botschaft "offenbar in einem Tobsuchtsanfall" erschoss, wie er einem Freund bekannte. Als am 17. Juni 1900 eine Gruppe "Boxer" ihre rituellen Übungen vor der Stadtmauer abhielt, an die die Botschaft grenzte, schossen Ketteler "und seine fröhlichen Mannen" auf die Chinesen "wie auf Tontauben" und richteten ein Blutbad an.
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R.Gunst
am 10.09.2021Die eigentlichen Ursachen dieser Kriege werden von interessierter Seite aber im rasch auf-…