Der Ahorn, den ich rammte, als ich Rad fahren lernte, ist zwar viel größer geworden, die Schramme ist nun viel höher, aber sie ist noch sichtbar. Das Rondell, wo wir Prellball gespielt haben, manchmal auch Fußball, ist noch genauso wie damals. Von den Sandkästen rund um die Linde in der Mitte des Rondells sind nur noch ein paar Randsteine zu sehen; einige davon haben die Wurzeln der Linde schräg in die Höhe getrieben. Aber wenn ich nur ein bisschen mit dem Schuh am Boden kratze, dann kommt der Sand hervor, in dem meine kleinen Schwestern ihre Burgen und Kanäle bauten.
In dem großen Garten, wo Dein Großvater jetzt Tomaten und Zucchini zieht, hat er kürzlich beim Umgraben die Sandplatten eines Weges entdeckt, den er vor mehr als fünfzig Jahren angelegt hatte – Archäologie in eigener Sache.
Und die Stadt selbst – für mich immer das, was innerhalb der Stadtmauer lag –, sie ist fast noch so, wie ich sie als Kind erlebt habe, nur schöner, denn inzwischen haben die Haller manches Fachwerk, manche Teile des Stadtgrabens oder der Stadtmauer wieder sichtbar gemacht, die dickfellige Beamte im 19. Jahrhundert hatten übertünchen, zuschütten oder überbauen lassen. Das barocke Rathaus, von dem nur noch die Fassaden standen, als ich aus dem Krieg heimkam, schaut wieder so stolz wie früher zum romanischen Turm der Michaelskirche hinauf, zu der Kirche, in der ich konfirmiert und getraut wurde.
Dazwischen liegt der Marktplatz, wo die Bäuerinnen aus dem Hohenloher Land heute noch Dahlien und Herbstastern aus ihren Gärten feilbieten, was mich als Kind dazu veranlasste, die Mutter auf den Markt zu begleiten. Und oben am Marktplatz, zur Kirche hinauf, beginnen die 52 Stufen der Freitreppe, die wir einmal, als viel Schnee lag, mit dem Schlitten herunterfuhren – nur einmal, denn das Tempo war so beängstigend, dass wir nur mit Mühe links am Rathaus vorbei das Schuhbäck-Gässle hinabsteuern konnten.
Es klingt natürlich arg provinziell, wenn ich behaupte, ich hätte nirgendwo einen schöneren, geschlosseneren Marktplatz gesehen. Aber zum einen bin ich mit dieser Meinung nicht ganz allein, zum anderen hat das eben mit dem zu tun, was man Heimat nennt: Für mich gibt es keinen Platz, der mein Raumgefühl so befriedigt und überdies so exemplarisch Mittelpunkt einer Stadt ist. Denn nicht nur Rathaus und Kirche stehen sich ganz eigenständig gegenüber, das Rathaus im Westen, die Kirche im Osten, auch die Bürgerhäuser im Norden und im Süden können sich gegen beide durchaus behaupten, sogar die jüngeren aus dem 18. Jahrhundert, die, wie das Rathaus, nach dem großen Brand von 1728 gebaut wurden. Der Pranger am Marktbrunnen erinnert mich an jene Neunhundertjahrfeier der Stadt, als, um Historie lebendig zu machen, ein geduldiger Haller sich die eiserne Halskrause anlegen und mit Tomaten und Eier bewerfen ließ.
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