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Treibhausgas-Skandal bei Solvay

Die Hydra am Neckar

Treibhausgas-Skandal bei Solvay: Die Hydra am Neckar
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Erneut steht der Fluorchemieproduzent Solvay in Bad Wimpfen im Mittelpunkt eines Umweltskandals. Nach der Ewigkeitschemikalie TFA geht es nun um SF6, das stärkste bekannte Treibhausgas. Solvay scheint jährlich 30 Tonnen davon in die Luft zu blasen – ein Vielfaches mehr als behauptet.

Beim Umgang der Firma Solvay mit gefährlichen Chemikalien fühlt man sich an ein berüchtigtes Ungeheuer aus der griechischen Mythologie erinnert: Kaum ist ein Haupt der vielköpfigen Hydra abgeschlagen, wachsen ihr zwei neue nach. So auch beim Chemiewerk des belgischen Fluorchemiekonzerns in Bad Wimpfen (Kreis Heilbronn): Gerade erst hatte Solvay mitgeteilt, hier ab Anfang des Jahres 2026 die Produktion der Ewigkeitschemikalie Trifluoracetat (TFA) einzustellen und somit die seit Jahren heftig kritisierte Einleitung der hochproblematischen Substanz in den Neckar zu beenden (Kontext berichtete), und schon sorgt der Standort für den nächsten Umweltskandal.

Begonnen hatte es mit Messergebnissen, die die Wissenschaftler:innen des Instituts für Atmosphäre und Umwelt der Goethe-Universität Frankfurt am Main jahrelang vor ein Rätsel stellten. Wie sollten sie sich Daten erklären, die ihre Messstation auf dem 825 Meter hohen Kleinen Feldberg im Taunus wieder und wieder lieferte: weitaus überhöhte Konzentrationen von Schwefelhexafluorid (SF6), des stärksten bekannten Treibhausgases, 24.000-mal schädlicher als CO2. Und das mitten in der Pampa, wo weit und breit keine Produktionsstätte des Klimakillergases zu finden ist. Ein Messfehler war rasch ausgeschlossen. Woher aber kamen diese exorbitanten Werte, die immer dann nach oben schossen, wenn der Wind aus südlicher Richtung blies? Die Forschenden rund um Professor Andreas Engel machten sich auf die Suche und arbeiteten sich nach Süden vor, um schließlich 120 Kilometer entfernt von der Messstation fündig zu werden: beim Fluorchemieproduzenten Solvay in Bad Wimpfen.

Spurensuche im Schwefelnebel

Es war fast wie im Jahr 2016 beim letzten Solvay-Umweltskandal, als die Trinkwasseruntersuchung eines Doktoranden eine extrem überhöhte TFA-Konzentration aufzeigte und eine detektivische Spurensuche nach der Nadel im Heuhaufen begann (Kontext berichtete). Dem Team der Frankfurter Uni war dieses Mal aber rasch klar, dass die unglaublichen Mengen an Schwefelhexafluorid in der Atmosphäre nur von hier stammen konnten. Denn die Chemiefabrik von Solvay im Heilbronner Unterland ist der einzige Produzent von SF6 in ganz Europa. Sicherheitshalber erörterte man dennoch sämtliche Alternativen: War es eventuell das Verbrennen von Turnschuhen, deren Sohlen früher mit SF6-Gas aufgeschäumt worden waren? Das konnte ausgeschlossen werden, diese Produktionsweise ist schon lange verboten. Oder handelte es sich um das Recycling von Schallschutzfenstern, die ebenfalls SF6 enthielten? Extrem unwahrscheinlich, denn damit lässt sich die gewaltige Konzentration des Gases nicht erklären. Und so blieb als einzig möglicher Emittent am Ende Solvay in Bad Wimpfen übrig. Auf 30 Tonnen schätzen die Frankfurter Forscherinnen und Forscher die Emissionen von hier, etwa ein Drittel der gesamten deutschen SF6-Emissionen.

Pikant dabei: Ausgerechnet für die Umsetzung der Klimawende braucht es in manchen Anwendungsbereichen genau dieses Gas. Nicht immer gibt es eine Alternative für SF6, das als Isoliergas für Trafos und Hochspannungsschaltanlagen verwendet wird. Beispielsweise für jene Trafos am Ende der Südlink-Trasse in Leingarten (Kreis Heilbronn). Die Herausforderung dabei ist, dass bei der Produktion mit SF6 möglichst wenig davon entweichen kann. "Wir müssen hier schon ehrlich sein. Ein völlig geschlossener Kreislauf ist nicht möglich, vielmehr muss man einen Verlust von 0,1, bis 1 Prozent einrechnen", betont der Atmosphärenchemiker Andreas Engel. "Wie dabei aber 30 Tonnen pro Jahr in die Atmosphäre gelangen können, das ist dann doch eine atemberaubende Dimension!" Mit anderen Worten: Es muss bei Solvay Lecks geben, Schwachstellen, aus denen das SF6 unkontrolliert entweicht. Eine Vermutung, die von der Firma bislang vehement zurückgewiesen wurde. Gegenüber den Behörden behauptet Solvay, "nur" 56 Kilogramm des Gases zu emittieren. Die Werte, die das Team um Engel ermittelte, sind 530-mal so hoch.

Wer wusste wann was?

Die ersten alarmierenden Messergebnisse stammen bereits aus dem Jahr 2020. Und nachdem diese mehrfach wissenschaftlich verifiziert worden waren, wurden schon im Jahr 2023 "über informelle Kontakte zwischen dem hessischen Umweltministerium und dem baden-württembergischen Umweltministerium diese Ergebnisse mitsamt dem Verdacht auf die Quelle der Emission weitergegeben", so Andreas Engel. "Doch passiert ist dann erst einmal gar nix. Über ein Jahr herrschte absolute Funkstille!" Folglich kam die erste Information nicht, wie vom Umweltministerium in Stuttgart mehrfach behauptet, erst im Februar 2024 bei den hiesigen Behörden an, sondern die Frankfurter Wissenschaftler:innen legten schon ein Jahr zuvor und ein weiteres Mal im April 2024 ihre Messergebnisse auf den Tisch.

Man sei damals schon verwundert gewesen über die Untätigkeit auf baden-württembergischer Seite, merkt der Professor kopfschüttelnd an. Und er ist, milde ausgedrückt, äußerst erstaunt über Landesumweltministerin Thekla Walker (Grüne), die nach Bekanntwerden des Umweltskandals selbst noch am 3. Dezember 2025 gegenüber dem ZDF die Frankfurter Messergebnisse zunächst deutlich anzweifelte. Sie seien "nicht anlagenscharf" auf Solvay zurückzuführen, sondern beträfen ein deutlich größeres Gebiet, in dem durchaus auch weitere SF6-Emittenten zu finden sein könnten. Bis kurz danach Walkers Rolle rückwärts erfolgte mitsamt der zähneknirschenden Erkenntnis, dass es schlichtweg keinen anderen Produzenten dieses Gases im gesamten Land gibt – und sogar in ganz Europa.

Zurückweisen, in Zweifel ziehen, dementieren, später dann doch noch zurückrudern: Auch im CDU-geführten hessischen Umweltministerium war man erstaunt über die Argumentation der grünen Amtskollegin in Stuttgart. Und die Atmosphärenwissenschaftler der Uni Frankfurt sind stocksauer über die Versuche, ihre wissenschaftliche Reputation einfach mal schnell in Frage zu stellen.

Dabei stellt sich längst eine ganze andere Frage: die nach der politischen Verantwortung. Wie kann es sein, dass jahrelang nicht gehandelt worden ist, obwohl die Fakten auf dem Tisch lagen? Dies alles unter der Verantwortung einer grünen Umweltministerin, die es schon im aktuellen TFA-Skandal um Solvay vorgezogen hatte, die Hände in Unschuld zu waschen und zu argumentieren, dass man da rein rechtlich "leider gar nix machen" könne (Kontext berichtete).

Also doch ein Leck

Bis schließlich das zuständige Regierungspräsidium (RP) Stuttgart als Aufsichtsbehörde aktiv in die Puschen kam, hat es nochmals gedauert. Zunächst wurden bei Solvay Erkundigungen eingeholt, was denn die Firma von den Informationen aus Hessen holte. Und so bat man Solvay darum, zusätzliche Messungen in Sachen SF6 durchzuführen. Diese hatten es ganz offenkundig in sich, denn laut Auskunft des Umweltministeriums vom Donnerstag vergangener Woche gegenüber Kontext wurden dabei "bisher unerkannte SF6-Emissionen identifiziert". Was nichts anderes bedeutet, dass entgegen der ursprünglichen Solvay-Behauptungen eben doch ein Leck gefunden wurde, aus dem erhebliche Mengen des Klimakillergases unkontrolliert entwichen sind. "In der Folge wurden diese in enger Abstimmung mit dem Regierungspräsidium minimiert", heißt es in der Stellungnahme weiter. Das Leck gefunden und abgedichtet, also Problem beseitigt? Von wegen: Andreas Engel und sein Team messen auf dem Kleinen Feldberg weiterhin hohe SF6-Werte aus südlicher Richtung. Folglich muss irgendwo bei Solvay weiterhin Gas in rauen Mengen entweichen.

Zwischenzeitlich hat sich das Regierungspräsidium Stuttgart als Überwachungsbehörde zu mancherlei Schritten aufraffen können, um der Sache auf den Grund zu gehen. So habe man angeordnet, heißt es vom RP, nun auch ein externes Institut einzuschalten, um weitere Gasmessungen zu tätigen. Diese Messungen haben am 5. November stattgefunden, ihre Ergebnisse liegen allerdings noch nicht vor – was laut RP damit zu tun hat, dass der Firma dank des Bundesimmissionsschutzgesetzes dafür 12 Wochen Zeit gegeben werden. Es kann also bis Anfang Februar dauern, bis die Resultate bekannt sind. Ein Vorgehen, das in fataler Weise an die im Spätsommer erfolgten Bodenproben wegen der TFA-Verseuchung der Oberflächengewässer um Bad Wimpfen erinnert. Auch dazu gibt es seit Monaten noch immer kein Ergebnis – man sei aber zuversichtlich, bis Mitte Dezember an die entsprechenden Daten zu gelangen, heißt es aus dem RP.

Immerhin sind gegenüber Solvay dann doch weitere Maßnahmen angeordnet worden: Dichtigkeitsprüfungen und der Austausch von Sicherheitsventilen, das Vorschalten von Berstscheiben vor die Sicherheitsventile und eine Alarmierung im Fall des Berstens, zudem die Überprüfung der Funktionsfähigkeit der Abluftreinigungsanlage. Eigentlich eine pure Selbstverständlichkeit im Umgang mit hochproblematischen Treibhausgasen – aber anscheinend bislang weder von der Aufsichtsbehörde gefordert noch von der Firma so praktiziert.

Solvay will klagen

Dem Chemiegiganten Solvay scheint solch ungewohnte behördliche Strenge allerdings gegen den Strich zu gehen: Nach Auskunft von Landesumweltministerium und RP hat die Firma Klage gegen diese Anordnungen angekündigt. Man zeigt sich nun offenbar verschnupft, nachdem es bislang immer recht harmonisch zuging zwischen dem Unternehmen und seiner Aufsichtsbehörde. Und das, obwohl die Geschichte von Solvay in Bad Wimpfen schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine lange Liste von Umweltskandalen aufweist: angefangen von Kleingärten, aus denen wegen ausgetretener Schadstoffe nicht geerntet werden durfte, über Viehfutter, das nicht an die Tiere verfüttert werden durfte, und finanziellen Entschädigungen für Landwirte wegen Ernteausfalls bis hin zu immer wieder absterbenden Blättern an Bäumen und Sträuchern in der Umgebung. In den 1980er-Jahren wurde deswegen sogar eigens eine Arbeitsgemeinschaft Fluor durch das RP Stuttgart gegründet – die indes weder zum TFA-Skandal noch zu den SF6-Emissionen irgendetwas ans Tageslicht brachte.

Stinksauer sind sie wegen des SF6-Skandals auch beim Regionalverband Heilbronn-Franken des Umweltverbands BUND. Jahrelang habe man sich in Sitzungen wegen der TFA-Problematik bei Solvay mit dem RP Stuttgart ausgetauscht und das Ende von der Verklappung in den Neckar gefordert. Doch nie sei dabei auch nur ein Sterbenswörtchen über die dank der hessischen Forschenden längst bekannten SF6-Emissionen gefallen. Ein absolutes Unding, heißt es vom BUND, womit das Vertrauensverhältnis zwischen den Umweltschützern und den für den Umweltschutz zuständigen Behörden nachhaltig erschüttert worden sei. Maßlos enttäuscht sei man von einer Politik, die gerne in Sonntagsreden vom Klimaschutz spreche, von der Notwendigkeit, in jedem einzelnen Haushalt CO2 einzusparen und den eigenen Klima-Fußabdruck drastisch zu minimieren, gegenüber Unternehmen dann aber so agiere: "Man sieht einfach tatenlos zu und lässt die Dinge treiben, anstatt verantwortungsvoll zu handeln."

Der Luftkurort als Klimakiller-Hotspot

Selbst in Bad Wimpfen ist die Aufregung nach Aufdeckung des neuen Skandals groß. Was erstaunt, wo man doch bisher selbst bei der TFA-Verklappung in den Neckar wegen der Arbeitsplätze lieber nichts Schlechtes über Solvay sagen mochte. Weshalb sich der örtliche Bürgermeister Andreas Zaffran (CDU) vergangene Woche zu der Aussage verstieg, SF6 sei ja zum guten Glück nicht giftig. Na dann. Während unten im Tal das Gas weiter unaufhaltsam durch die Rohre der Hydra am Neckar zischte, konnte oben in in der guten Luft des Kurorts der Altdeutsche Weihnachtsmarkt somit seinen glühweinseligen Duftzauber auch am vergangenen Wochenende voll entfalten.

Weniger beruhigend dagegen ist eine Erkenntnis aus dem neuerlichen Solvay-Skandal, die die Frankfurter Wissenschaftler:innen um Andreas Engel in ihrer Studie aufzeigten: Durch den massiven SF6-Ausstoß in Bad Wimpfen gerät nun auch die penibel berechnete deutsche Klimabilanz in eine Schieflage, denn die zusätzlichen 30 Tonnen SF6 pro Jahr, die dem Ausstoß von 729.000 Tonnen CO2 entsprechen, sind bislang noch in keinen Klimabericht eingerechnet worden. Ausgerechnet der Kurort Bad Wimpfen entpuppt sich dabei als deutscher Klimakiller-Hotspot.


Transparenzhinweis: Gunter Haugs Ehefrau Karin Haug ist Mitglied im Landesvorstand des BUND Baden-Württemberg, als Vertreterin des Regionalverbands Heilbronn-Franken.

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