KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Verteidigung

Resignation statt Resilienz

Verteidigung: Resignation statt Resilienz
|

Datum:

Die Bundeswehr hat Schwierigkeiten, ihre Reservisten zu erreichen. Bei der IHK Stuttgart bittet ein Oberstleutnant um Mithilfe: Unternehmen könnten ja mal nachfragen, ob es bei ihnen welche gibt. Die Veranstaltung macht deutlich, dass ein Ernstfall besser nicht eintreten sollte.

Was Oberstleutnant Johannes Rödler auf Einladung der IHK Stuttgart schildert, klingt stellenweise wie Satire. Die Bundeswehr hat demnach Schwierigkeiten, Kontakt zu ihren Reservisten aufzunehmen. Wie viele es von denen gibt, ist offenbar auch unklar. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) wird in den Medien mit einer Zahl von 60.000 zitiert, das Landeskommando Rheinland‑Pfalz kommt laut SWR nur auf 34.600. Oberstleutnant Rödler bewegt sich genau in der Mitte und geht von 48.000 aus, aber bei vielen habe sich die Bundeswehr lange nicht mehr gemeldet. Der Staat könnte ihre Adressen nun umständlich über die Meldeämter ausfindig machen. Aber einfacher wäre es doch, wenn sich die Unternehmen bei ihren Beschäftigen erkundigen und entsprechende Listen anfertigen.

Das ist gewissermaßen eine direkte Ansprache an die Zielgruppe. Anfang Oktober verschickte die Stuttgarter IHK Einladungen an ihre Mitglieder zum Thema "Wie Unternehmen sich auf den Ernstfall vorbereiten und handlungsfähig bleiben". Erschienen sind daraufhin etwa 30 Unternehmensvertreter, überwiegend Männer. Aber ist es überhaupt erlaubt, Mitarbeiter auszufragen, ob sie Reservisten sind? Danach erkundigt sich ein Teilnehmer, und die Antwort ist anscheinend kompliziert – die IHK versprach, die rechtliche Lage zu prüfen.

Dass sich die Kontaktaufnahme zu den Reservisten vorerst verzögert, ist schlecht. Denn Rödler betont als Vertreter des baden-württembergischen Bundeswehr-Landeskommandos: "Wir haben keine Zeit mehr und müssen uns heute vorbereiten." Deutschland müsse kriegstüchtiger und durchhaltefähiger werden, auch wenn ein direkter Angriff auf die Republik zumindest jetzt gerade noch nicht zu erwarten sei. Aber als Abschreckungsstrategie. Und in dieser Hinsicht hat der Oberstleutnant eine weitere schlechte Nachricht: Der Bundeswehr fehle immer noch geeignete Ausrüstung für die Inlandsverteidigung, nachdem sie über Jahrzehnte für Auslandseinsätze in Afghanistan, im Irak oder am Horn von Afrika umgerüstet worden sei. Warum die Umstellung für die Verteidigung von europäischen Nachbarn nicht schon seit 2014 erfolgt ist, als Putin die Krim annektiert hat, bleibt offen. Ebenso wie die Frage, warum das seit 2022 noch nicht geschehen ist, als Putin in weitere Gebiete der Ukraine einmarschiert ist.

Hoffen auf die USA

Aber selbst ohne Kriegsfall in Deutschland steht die Bundeswehr schlecht da. Laut Rödler ist die Truppe ganz allgemein im Fall von Katastrophen nicht resilient genug. Und wohl auch ziemlich schlecht organisiert. Welche Anbieter zum Beispiel die Kasernen im Lande mit Strom und Wasser versorgen, das wird nicht zentral verwaltet – und somit könnte ein großes Chaos entstehen, wenn es im Fall eines Angriffs oder einer Katastrophe zu Ausfällen kommt und niemand weiß, welche Kasernen betroffen sind. "Wir sind dabei Excel‑Listen zu erstellen", betont der Oberstleutnant. Wenn sie schon dabei sind, können sie ja auch eine Datei für die Adressen von Reservisten anlegen.

Während die Bundeswehr ihre vorhandenen Soldaten schlecht erreicht, stellt sich die Frage, wer sich bei solchen Zuständen rekrutieren lassen will. Die derzeitige Debatte um die Wehrpflicht zeigt, dass Regierung und Militär kein tragfähiges Konzept vorlegen können. Wer möchte sich freiwillig melden, um ohne Plan und ohne Ausrüstung an die Front zu gehen? Wenn die Überforderung so deutlich ist? Die Verwaltung der Reservisten-Kontakte soll übrigens die Bundesagentur für Arbeit übernehmen – die auch in ruhigen Friedenszeiten mit ihrer Hauptaufgabe Arbeitslosenmanagement überfordert ist.

Da wünscht man sich verlässliche Bündnispartner. Denn laut Oberstleutnant Rödler erwartet die Bundeswehr, dass Russland bis zum Ende des Jahrzehnts einen Krieg im Baltikum starte. Man vertraue darauf, dass die USA ein "verlässlicher Partner" bleiben, sagt der Armeevertreter. Ob das mit Blick auf Präsident Trump eine gute Idee ist? Die Stimmung im Saal ist inzwischen ein bisschen trüb.

Offenbar gibt es aber zumindest einen Plan mit der Nato, sogar auf Papier: das Verteidigungskonzept "Operationsplan Deutschland", das seit Januar 2024 vorliegt und definiert, wie Deutschland im Konfliktfall mit Russland im Baltikum als logistische Drehscheibe für Nato‑Truppen fungieren soll. Das Ziel ist die schnelle Verlegung von bis zu 800.000 Soldaten über deutsches Territorium. Streitkräfte und Ausrüstung würden dann von Häfen nach Osteuropa transportiert. Durch den deutschen Südwesten könnten Schienen und Straßen eine Verbindung zwischen Westeuropa und Osteuropa anbieten.

Komplizierte Rechtslage bei Drohnen-Abschüssen

Mit Blick auf die Infrastruktur bereitet auch dieser Aspekt Sorge, denn neben den bereits vorhandenen Dauerbaustellen müssten die teils maroden Brücken und Bahnstrecken fürs Militär ertüchtigt werden – was eher auch nicht von heute auf morgen geht. Wartet Putin mit einem Angriff ab, bis die Lücke in der A8 geschlossen und Stuttgart 21 fertig ist?

Zumal auch die Einschätzung, dass Russland erst in drei bis vier Jahren das Baltikum angreifen wird, in den Sicherheitskreisen umstritten ist. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) Martin Jäger warnte Mitte Oktober im Bundestag, dass Russland "eine direkte militärische Auseinandersetzung mit der Nato" nicht scheuen werde, und dass der "eisige Friede" jederzeit in heiße Konfrontation umschlagen könne.

Ein paar Tage später mahnte auch der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland und jetzige UN‑Botschafter Andrij Melnyk in einem Interview mit der "Zeit", dass Russland "früher all‑in gehen" könnte. Melnyk ist aus vielen Gründen umstritten, aber seine Begründung wirkt in diesem Fall nachvollziehbar: Warum sollte Putin warten, bis die Europäer in Verteidigung investiert haben? Wenn die Bundeswehr öffentlich über ihre Defizite spricht, bleibt vom Abschreckungspotenzial wenig übrig. Melnyk deutete an, Russland teste mit den Drohnen die Reaktionsfähigkeit Europas. Und den Test hat Deutschland nicht bestanden. Wegen einer komplizierten Rechtslage!

Nach dem derzeitigen Luftsicherheitsgesetz ist ein direkter Abschuss von Drohnen durch die Bundeswehr nämlich nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt, etwa wenn sie über Kasernen fliegen und eine Gefahr darstellen. Allgemein ist die Landespolizei für die Abwehr von Flugobjekten zuständig, hat dafür aber keine geeignete Ausstattung. Wenn Flugobjekte über Flughäfen und Bahnhöfen unterwegs sind, ist wiederum die Bundespolizei dran und, wie die FAZ Mitte Oktober berichtet, da wird das Innenministerium jetzt gerade aktiv, damit die Bundespolizei in einem Ernstfall handlungsfähig wird.

An Geld mangelt es nicht

Das alles wirkt nicht nur auf die Unternehmer in der IHK wenig ermutigend. Der Oberstleutnant selbst wirkt bei seinem Vortrag phasenweise resigniert. Etwa wenn er berichtet, die Bundeswehr könne ihr neues Milliardenbudget kaum ausgeben, weil die deutschen Unternehmen gar nicht die Kapazität hätten, so viel zu produzieren. Jetzt aber die Produktion auf Rüstung umzustellen und hochzufahren, sei für die meisten Unternehmen wahrscheinlich nicht lukrativ, denn den größten Teil ihrer Ausrüstung brauche die Bundeswehr nicht jedes Jahr neu, sondern es gehe jetzt vor allem einmal darum, schnell ein großes Defizit aufzuholen.

Ob Rödler hier persönliche Vermutungen vorträgt, oder ob er seine Aussage mit Repräsentanten der Rüstungsindustrie diskutiert, wird dabei nicht klar. Die Politik zumindest setzt angesichts der schlechten Wirtschaftslage voll auf Wachstum durch Aufrüstung. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte schon im März betont, dass er "noch nie ein Pazifist" gewesen sei und den Ausbau der Rüstungsindustrie im Südwesten als Beitrag zu einer starken europäischen Verteidigungsindustrie vorantreiben möchte. Und das Bundeswirtschaftsministerium hat Anfang Oktober die Wachstumsprognose für das Jahr 2026 nach oben korrigiert, wobei laut Ministerin Katherina Reiche (CDU) insbesondere der "Wirtschaftsfaktor Rüstung" einen erheblichen Teil zum konjunkturellen Aufschwung beitragen soll.

Für Klopapier-Nachschub sorgen

Wie bei der IHK- Veranstaltung deutlich wird, bräuchte es im Kriegsfalls nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern alle Unternehmen, die Produkte zur Aufrechterhaltung der zivilen Normalität beisteuern. Der Oberstleutnant erinnert an die Lektion Nummer eins aus der Coronakrise: Selbst Grundbedarf wie Toilettenpapier kann in einer Krise knapp werden. Rödler mahnte, es könnte durchaus eng werden mit den menschlichen Ressourcen: wegen eines generellen Personalmangels, der sich verschärft, wenn Fachkräfte im Ernstfall als Reservisten einberufen werden und an die Front müssen.

Nach dem Vortragsteil bei der IHK-Veranstaltung sollte man sich vernetzen und diskutieren, aber der Oberstleutnant war da schon längst auf dem Heimweg und hat einen Vortrag über Resilienz aus Sicht einer Versicherungsfirma verpasst. So klappt es nicht besonders gut mit einem konstruktiven Austausch, und am Ende bleibt die bittere Ungewissheit, wie viel wohl zu retten wäre, wenn es tatsächlich zu einem Angriff kommt, während die Bundeswehr gerade Excel-Tabellen ausfüllt und Unternehmen nach ihren Reservisten suchen lässt. Irgendwo müssten wir doch noch welche haben, eigentlich.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!