Während die Bundeswehr ihre vorhandenen Soldaten schlecht erreicht, stellt sich die Frage, wer sich bei solchen Zuständen rekrutieren lassen will. Die derzeitige Debatte um die Wehrpflicht zeigt, dass Regierung und Militär kein tragfähiges Konzept vorlegen können. Wer möchte sich freiwillig melden, um ohne Plan und ohne Ausrüstung an die Front zu gehen? Wenn die Überforderung so deutlich ist? Die Verwaltung der Reservisten-Kontakte soll übrigens die Bundesagentur für Arbeit übernehmen – die auch in ruhigen Friedenszeiten mit ihrer Hauptaufgabe Arbeitslosenmanagement überfordert ist.
Da wünscht man sich verlässliche Bündnispartner. Denn laut Oberstleutnant Rödler erwartet die Bundeswehr, dass Russland bis zum Ende des Jahrzehnts einen Krieg im Baltikum starte. Man vertraue darauf, dass die USA ein "verlässlicher Partner" bleiben, sagt der Armeevertreter. Ob das mit Blick auf Präsident Trump eine gute Idee ist? Die Stimmung im Saal ist inzwischen ein bisschen trüb.
Offenbar gibt es aber zumindest einen Plan mit der Nato, sogar auf Papier: das Verteidigungskonzept "Operationsplan Deutschland", das seit Januar 2024 vorliegt und definiert, wie Deutschland im Konfliktfall mit Russland im Baltikum als logistische Drehscheibe für Nato‑Truppen fungieren soll. Das Ziel ist die schnelle Verlegung von bis zu 800.000 Soldaten über deutsches Territorium. Streitkräfte und Ausrüstung würden dann von Häfen nach Osteuropa transportiert. Durch den deutschen Südwesten könnten Schienen und Straßen eine Verbindung zwischen Westeuropa und Osteuropa anbieten.
Komplizierte Rechtslage bei Drohnen-Abschüssen
Mit Blick auf die Infrastruktur bereitet auch dieser Aspekt Sorge, denn neben den bereits vorhandenen Dauerbaustellen müssten die teils maroden Brücken und Bahnstrecken fürs Militär ertüchtigt werden – was eher auch nicht von heute auf morgen geht. Wartet Putin mit einem Angriff ab, bis die Lücke in der A8 geschlossen und Stuttgart 21 fertig ist?
Zumal auch die Einschätzung, dass Russland erst in drei bis vier Jahren das Baltikum angreifen wird, in den Sicherheitskreisen umstritten ist. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) Martin Jäger warnte Mitte Oktober im Bundestag, dass Russland "eine direkte militärische Auseinandersetzung mit der Nato" nicht scheuen werde, und dass der "eisige Friede" jederzeit in heiße Konfrontation umschlagen könne.
Ein paar Tage später mahnte auch der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland und jetzige UN‑Botschafter Andrij Melnyk in einem Interview mit der "Zeit", dass Russland "früher all‑in gehen" könnte. Melnyk ist aus vielen Gründen umstritten, aber seine Begründung wirkt in diesem Fall nachvollziehbar: Warum sollte Putin warten, bis die Europäer in Verteidigung investiert haben? Wenn die Bundeswehr öffentlich über ihre Defizite spricht, bleibt vom Abschreckungspotenzial wenig übrig. Melnyk deutete an, Russland teste mit den Drohnen die Reaktionsfähigkeit Europas. Und den Test hat Deutschland nicht bestanden. Wegen einer komplizierten Rechtslage!
Nach dem derzeitigen Luftsicherheitsgesetz ist ein direkter Abschuss von Drohnen durch die Bundeswehr nämlich nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt, etwa wenn sie über Kasernen fliegen und eine Gefahr darstellen. Allgemein ist die Landespolizei für die Abwehr von Flugobjekten zuständig, hat dafür aber keine geeignete Ausstattung. Wenn Flugobjekte über Flughäfen und Bahnhöfen unterwegs sind, ist wiederum die Bundespolizei dran und, wie die FAZ Mitte Oktober berichtet, da wird das Innenministerium jetzt gerade aktiv, damit die Bundespolizei in einem Ernstfall handlungsfähig wird.
An Geld mangelt es nicht
Das alles wirkt nicht nur auf die Unternehmer in der IHK wenig ermutigend. Der Oberstleutnant selbst wirkt bei seinem Vortrag phasenweise resigniert. Etwa wenn er berichtet, die Bundeswehr könne ihr neues Milliardenbudget kaum ausgeben, weil die deutschen Unternehmen gar nicht die Kapazität hätten, so viel zu produzieren. Jetzt aber die Produktion auf Rüstung umzustellen und hochzufahren, sei für die meisten Unternehmen wahrscheinlich nicht lukrativ, denn den größten Teil ihrer Ausrüstung brauche die Bundeswehr nicht jedes Jahr neu, sondern es gehe jetzt vor allem einmal darum, schnell ein großes Defizit aufzuholen.
Ob Rödler hier persönliche Vermutungen vorträgt, oder ob er seine Aussage mit Repräsentanten der Rüstungsindustrie diskutiert, wird dabei nicht klar. Die Politik zumindest setzt angesichts der schlechten Wirtschaftslage voll auf Wachstum durch Aufrüstung. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte schon im März betont, dass er "noch nie ein Pazifist" gewesen sei und den Ausbau der Rüstungsindustrie im Südwesten als Beitrag zu einer starken europäischen Verteidigungsindustrie vorantreiben möchte. Und das Bundeswirtschaftsministerium hat Anfang Oktober die Wachstumsprognose für das Jahr 2026 nach oben korrigiert, wobei laut Ministerin Katherina Reiche (CDU) insbesondere der "Wirtschaftsfaktor Rüstung" einen erheblichen Teil zum konjunkturellen Aufschwung beitragen soll.
Für Klopapier-Nachschub sorgen
Wie bei der IHK- Veranstaltung deutlich wird, bräuchte es im Kriegsfalls nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern alle Unternehmen, die Produkte zur Aufrechterhaltung der zivilen Normalität beisteuern. Der Oberstleutnant erinnert an die Lektion Nummer eins aus der Coronakrise: Selbst Grundbedarf wie Toilettenpapier kann in einer Krise knapp werden. Rödler mahnte, es könnte durchaus eng werden mit den menschlichen Ressourcen: wegen eines generellen Personalmangels, der sich verschärft, wenn Fachkräfte im Ernstfall als Reservisten einberufen werden und an die Front müssen.
Nach dem Vortragsteil bei der IHK-Veranstaltung sollte man sich vernetzen und diskutieren, aber der Oberstleutnant war da schon längst auf dem Heimweg und hat einen Vortrag über Resilienz aus Sicht einer Versicherungsfirma verpasst. So klappt es nicht besonders gut mit einem konstruktiven Austausch, und am Ende bleibt die bittere Ungewissheit, wie viel wohl zu retten wäre, wenn es tatsächlich zu einem Angriff kommt, während die Bundeswehr gerade Excel-Tabellen ausfüllt und Unternehmen nach ihren Reservisten suchen lässt. Irgendwo müssten wir doch noch welche haben, eigentlich.
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