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OB Nopper besucht Unternehmen

Mittelstand auf Schwäbisch

OB Nopper besucht Unternehmen: Mittelstand auf Schwäbisch
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Stuttgart ist die Stadt zwischen Spätzle und Spitzentechnologie, sagt Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU). Kürzlich hat der joviale Schultes eine Reihe von Unternehmen besucht: vom traditionellen Milchhof bis zum futuristischen Photonenchip-Hersteller. 

Wenn Interessenverbände die Lage der Nation beurteilen, ist meistens der Maßstab, wie es der Wirtschaft gerade so geht. Zuletzt waren Klagelieder nicht selten: Energiekosten, Inflation und Zinswende machen der Industrie dem Vernehmen nach schwer zu schaffen, und dann kommen auch noch ein regulierungswütiger Staat oder, schlimmer noch, die EU ums Eck, und mehren die Sorgen mit Steuerlasten, Klimapflichten und Menschenrechten in der Lieferkette. Die "Bild"-Zeitung fasste es Mitte Juli so zusammen: "Miese Stimmung bei Unternehmen: Bürokratie und Politik bremsen Wirtschaft aus." 

Da möchte man meinen, die Betriebe würden jede Chance nutzen, politischen Delegationen ihre Leiden vorzustöhnen. Doch die Aktiengesellschaft Trelleborg scheint von der Krise nicht so viel abbekommen zu haben: Kürzlich war eine Gruppe um den Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) zu Besuch in der Vaihinger Schockenriedstraße, wo die Unternehmensparte Sealing Solutions ihren Hauptsitz hat. Statt einer Aneinanderreihung von Hiobsbotschaften ist die Kernaussage des Industrie-Gummi-Konzerns: Läuft eigentlich alles. Bernhard Grieb, dem Leiter der städtischen Leiter Abteilung für Wirtschaftsförderung, imponiert die Eigendarstellung des Unternehmens sogar so sehr, dass nachfragt, ob es sich lohnen würde, jetzt in Trelleborg-Aktien zu investieren. 

2018 hat sich das schwedische Mutterhaus die neue Stuttgarter Firmenzentrale 50 Millionen Euro kosten lassen, es gibt einen Pausenraum mit Tischkicker und Nintendo Switch, ein Yoga-Zimmer und eines für die Kinderbetreuung, zudem ein Pflanzenkonzept für alle Arbeitsplätze. "Das wäre doch ein Vorbild für die Verwaltung, Herr Nopper!", schwärmt Susanne Kaufmann, die Leiterin der städtischen Kommunikation. Der Oberbürgermeister lächelt das Lächeln eines Mannes, dem ein Misstand bewusst ist – und der zugleich wenig Hoffnung auf Besserung hat. In einem alten Verwaltungsgebäude in der Eberhardstraße müssen manchmal Eimer verhindern, dass der Boden nass wird, wenn es reinregnet. 

Angefangen haben soll die Erfolgsgeschichte der Trelleborg Sealing Solutions in den 1950er Jahren mit Unternehmerin Margot Busak, der Busak & Luyken Dichtungen GmbH und emsiger Tüftelei in einer Stuttgarter Garage – wobei nach vielen internationalen Verkäufen von Unternehmen, Subunternehmen und Unternehmenssparten nicht mehr leicht nachvollziehbar ist, wie viel von diesem Kern verblieben ist. "Wir sind heute kein Familienunternehmen mehr", räumt Thomas Uhlig, Präsident des globalen Lieferketten-Managements, ein. Aber die Identität des Schwäbischen Mittelstands hätten sie nie aufgegeben. 

Das passt zu einer Gegend, in der sich wohlgenährte Bäuche für arme Schlucker halten, weil sie ihr Eigenheim noch ein paar Jahre abbezahlen müssen. Schwäbischer Mittelstand heißt im Falle Trelleborgs: 24.000 Beschäftigte und drei Milliarden Euro Jahresumsatz, von dem fast die Hälfte auf die Sparte Sealing Solutions entfällt, womit das Unternehmen nach eigenen Angaben der weltgrößte Konzern für industrielles Gummi ist. 

Von Autos über Waschmaschinen und Bergbaumaschinen bis zum Atemschlauch: Laut Carsten Stehle, dem Vorsitz der Geschäftsführung der Trelleborg Sealing Solutions, "beliefern wir alles, was Rang und Namen hat, mit Dichtungen und Dämpfungselementen". Oberbürgermeister Nopper regt an, dass sie ja auch mal die Kommunalpolitik mit Dämpfungselementen beliefern könnten. Stehle lacht, aber wirkt nervös: Er möchte lieber in nichts reingeraten. Weniger verfänglich ist der zweite Witz des Rathauschefs. Als Uhlig erklärt, dass sie bei Trelleborg mit über 20.000 Werkstoffen arbeiten, um die Lebensdauer ihrer Dichtungsringe je nach Bedarf auf 30 Jahre oder eine Einmalanwendung abzustimmen, sinniert Nopper: "Das ist wie in der Politik: Manche sind beständig, andere nicht." 

Start-up will Computertechnik revolutionieren

Im Vergleich zu seinem grünen Vorgänger Fritz Kuhn ist Nopper die größere Frohnatur. Stuttgart ist für den Amtsinhaber die "ideale Mischung von Spätzle und Spitzentechnologie", mit "schaffigen und lebensfrohen Menschen zwischen Umsatz und Grundsatz". Dem jovialen Schultes wird nachgesagt, lieber auf Straßenfesten Frohsinn zu versprühen als im Ausschuss für Klima und Umwelt zu versauern. Darin liegt auch eine Stärke: Im Falle Kuhns ist unklar, ob er schon mal irgendeine Unterhaltung durch alberne Kalauer aufgelockert hat. Nopper gelingt es auf seine Art schnell, Eis zu brechen. 

Der farblose Grüne hatte sich in der sitzungsfreien Zeit des Sommerlochs auch nicht dadurch hervorgetan, ortsansässige Unternehmen zu besuchen. Sein konservativer Nachfolger absolvierte zuletzt das sportliche Pensum von einem guten Dutzend Stationen an drei Tagen, um Eindrücke aus erster Hand zu sammeln. Der Oberbürgermeister bilanziert, dass sich die Zukunftsperspektiven branchenspezifisch stark unterscheiden. 

Als ein Aspekt fiel bei den Besuchen auf, wie stark der Schwäbische Mittelstand von Männerhand geführt wird (die Pressearbeit ist hingegen überwiegend Frauen überlassen). Zu den Betrieben, bei denen die Delegation vorbeischaute, zählen das Apfelparadies Bauer, die Ölheld GmbH, ein Autohaus, die Allianz Lebensversicherung und das futuristisch anmutende Start-up Qant, das erst 2018 gegründet worden ist und international für Furore sorgt: Auf der diesjährigen Hannover Messe für Industrie präsentierte Qant diesen April eine neuartige Prothesentechnik, die über einen Magnetfeldsensor gesteuert wird. Der Sensor erkennt elektrische Signale, die vom Gehirn ausgehend durch den menschlichen Körper strömen. Im Vergleich zu herkömmlichen Prothesen sollen so keine invasiven Eingriffe nötig sein, um die Technik an den Organismus anzuschließen – und zugleich die Zuverlässigkeit verbessert werden.

Wie Qant-CEO Michael Förtsch erläutert, würden normale Prothesen etwa 85 von 100 angestrebten Bewegungen korrekt ausführen. Das klinge nach viel, könne aber beispielsweise beim Treppensteigen für erhebliche Probleme sorgen. Er sei überzeugt, mit dem Magnetfeldsensor lassen sich über 99 Prozent Zuverlässigkeit erreichen. Über die vergangenen Jahre sei es bereits gelungen, die Sensorgröße von der eines Schrankes auf die eines Brillenetuis zu reduzieren, und laut Förtsch wäre es möglich, sie weiter auf das Volumen einer Erdnuss zu schrumpfen. 

Daneben arbeitet das Start-up an etwas, das der CEO den "Grundstein für eine neue Computertechnologie" nennt und die Revolution gehe diesmal von Stuttgart aus (was der Oberbürgermeister wohlwollend zur Kenntnis nimmt): Denn herkömmliche Halbleiter und Chips würden mit Strom als Medium arbeiten, Förtsch hingegen hält Licht für besser geeignet. Künstliche Intelligenz sei die Zukunft, klar. Aber noch seien die Rechenzentren, die es für den Betrieb von Chat-GPT und Co. braucht, so energieintensiv, dass sie teils eigene Kraftwerke brauchen. "Das menschliche Gehirn ist auch ein Rechenzentrum, aber es kommt morgens mit einer Schüssel Müsli, mittags einer Pizza und abends einer Brotzeit aus", sagt Förtsch. Entsprechend müssten Effizienzsteigerungen möglich sein. 

Mit lichtbasierten Chips sei es machbar, den Strombedarf auf ein Dreißigstel zu reduzieren, stellt Förtsch in Aussicht. Als Qant "neulich im Valley" einen Prototyp bei Google und Nvidia präsentiert hat, wären denen "die Kinnladen heruntergeklappt", freut sich Förtsch. Welches Potenzial er sich da verspricht? "Wir wollen Weltmarktführer werden."

Wer so spricht, ist entweder ein Genie oder ein Scharlatan. In Förtschs Fall gibt es keine offensichtlichen red flags: Er promovierte 2015 summa cum laude am Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts und das Dietzinger Unternehmen Trumpf, das seit der Qant-Gründung eine zweistellige Millionensumme in das Start-up investiert hat, ist auch nicht bekannt dafür, Luftschlössern hinterherzujagen. 

Das Rathaus trainiert eine Nopper-KI 

Um die Zukunft und ihre Technik ging es auch im Anschluss bei dem IT-Dienstleister GFT, der trotz 12.000 Beschäftigter und 900 Millionen Euro Umsatz beteuert, Mittelstand geblieben zu sein. Glaubhaft gemacht werden soll das anhand der globalen Firmenzentrale, vorzufinden in Stuttgart-Vaihingen, wo nur drei der fünf Stockwerke von GFT selbst genutzt werden. 

Die meisten Mitarbeiter:innen, die der insbesondere für Banken tätige Dienstleister "Talente" nennt, talenteln in sogenannten Low-Cost-Countries, vornehmlich in Südamerika. Laut dem geschäftsführenden Direktor Jochen Ruetz sei GFT heute weniger ein deutsches Unternehmen als "eine Latino-Connection" – zum erkennbaren Missfallen von Oberbürgermeister Nopper: "Warum arbeiten nur 300 Mitarbeiter in Stuttgart und wie können es mehr werden?" Mit Blick auf die Lohnkosten gibt Ruetz zu verstehen, dass er Potenziale für weitere Expansion eher in Indien verortet als in der Bundesrepublik. 

Ansonsten diskutieren die Delegation um Nopper und der GFT-Experte Viktor Schmalenbach vor allem, wie die Stuttgarter Stadtverwaltung von Künstlicher Intelligenz profitieren könnte. Aus dem Rathaus ist zu hören, dass der Oberbürgermeister fast alle seine Reden selbst schreibt. Das sorgt zwar für ein hohes Maß an Authentizität, nimmt aber auch viel Zeit in Anspruch. Deswegen laufen gerade Versuche, 250 Nopper-Reden in ein Programm einzuspeisen, dem dann hoffentlich eine anständige Imitation gelingt. Die bisherigen Resultate haben den Schultes nicht überzeugt. "Da wurde auf sehr kleiner Flamme gekocht", sagt er. Weil es den Reden an Humor gemangelt habe, seien sie unbrauchbar. 

Die Hillers kennen ihre Kühe beim Namen

Den wohl größtmöglichen Kontrast zu den Welten der Quantentechnik und digitalen Finanztransaktion stellte der abendliche Besuch auf dem Milchhof Hiller da. "An mir ist ein Landwirt verloren gegangen", meint Nopper, als er eine Kuh streichelt – allerdings muss Kommunikationsleiterin Kaufmann ihren Chef mehrfach daran erinnern, dass die Fotos nicht zu gestellt aussehen sollten ("Herr Nopper, schauen sie die Kuh an, nicht die Kamera."). Später füttert der Oberbürgermeister ein Tier und seufzt: "Ach, wenn mir doch die Stadträte nur so aus der Hand fressen würden." 

Die Hillers nennen ihren Hof gegenüber der Delegation weder ein Familienunternehmen noch rechnen sie sich dem Mittelstand zu. Dabei sind hier viele Generationen auf den Beinen, um den Laden am Laufen zu halten. Thomas Hiller und Christine Knobloch-Hiller arbeiten zwischen 60 und 80 Stunden pro Woche und haben seit Jahren keinen Urlaub gemacht, Tochter Helena arbeitet trotz Ausbildung halbtags mit und ihr Opa ist mit Krücke unterwegs, um beim Vertrieb auszuhelfen. Alle Hillers kennen alle ihre 50 Kühe mit Namen, mit dabei ist süddeutsches Fleckvieh, Allgäuer Braunvieh und rot-weißes Holstein-Rind. Der Vater erklärt, sie könnten durchaus profitabler arbeiten – aber dann würde das Tierwohl drunter leiden. 

Schlecht zu sprechen sind die Hillers auf Brüssel, weil es für regulative Auflagen oft keinen Unterschied mache, ob ein Ackerboden auf den Fildern oder in der Börde liegt, aber sich die tatsächlichen Beschaffenheiten mitunter stark unterscheiden. Da wäre es doch besser, man würde die entscheiden lassen, die sich auskennen, also die Landwirte. 

So sitzen die Hillers beim gemeinsamen Abendbrot, bieten ihre Milch und regionales Gemüse an und ärgern sich. Sie servieren auch einen Wein von befreundeten Winzern und Christine Knobloch-Hiller erklärt, dass es die Winzer ja auch nicht leicht hätten mit den Auswirkungen des Klimawandels und dann wird auch noch so viel Wein aus Australien und Südafrika importiert: "Brauchen wir das? Das ist doch auch schlecht für die Ökobilanz. Als ob es hier in Deutschland keine guten Weine gäbe ..." Nopper besänftigt: "Deswegen ist es gut und richtig, dass es das Stuttgarter Weindorf gibt." 

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