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Neubaustrecke Wendlingen–Ulm

Die Magischtraale

Neubaustrecke Wendlingen–Ulm: Die Magischtraale
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Zwei Tage vor der Öffnung für Normalsterbliche und drei Tage vor der ersten Panne feierten Bahn und Politik schon mal die fertiggestellte Neubaustrecke Wendlingen–Ulm. Der Wind war eisig, die Stimmung Bombe.

Helle Stimmen hallen über den Ulmer Bahnhofsvorplatz. "Auf der schwäb’sche Eisebahne, gibt’s gar viele Haltstatione, Stuttgart, Ulm und Biberach …" Ein Kinderchor steht auf einer kleinen Bühne, vor dem Schneegestöber und dem eisigen Wind notdürftig geschützt, und singt das alte Lied, mehrstimmig. Der Chorleiter strahlt wie ein Honigkuchenpferd, viele lachende Gesichter auch in der sich vorbeischiebenden Schlange aus Politiker:innen, höherem DB-Personal und Pressefuzzis, die gerade per Sonderzug angekommen sind. Guck, da, ach! Handys werden gezückt, knips, knips, die Freude ist riesig.

Etwa eine halbe Stunde später ist das herzige Ständchen dann ein Aufhänger für Winfried Kretschmann, in neue Sphären der Volkstümlichkeit vorzudringen. So habe er das Lied noch nie gehört, sagt der baden-württembergische Ministerpräsident. Er freue sich sehr über die Begrüßung mit der "informellen Nationalhymne" des Landes, und es würde ja ganz hervorragend passen, dass es in dieser um die Eisenbahn gehe. Die vier Milliarden Euro teure Neubaustrecke Wendlingen–Ulm (NBS) ist fertig, und zwei Tage vor der Eröffnung für die gemeinen Bahnkund:innen dürfen die Presse und Honoratioren schon mal schnuppern, von Stuttgart nach Ulm fahren und dort im zugigen Bahnhofsfoyer unter Tage feiern.

"Stuttgart und Ulm rücken näher zusammen", fährt Kretschmann fort, und nun – er wechselt ins breiteste und knödeligste Schwäbisch – sei die Frage: "Kommet jetz die Stuagarter nach Ulm zom Eikaufe oder die Ulmer nach Stuagart?" Heiterkeit unter den Gästen. Kretschmann spricht weiter von der Magistrale ("Magischtraale") Paris–Budapest, dass man die Stuttgart-21-Fans der Jahre um 2010 zu hören glaubt, auch von der Klangfarbe: Paris ist "Pariss", das "s" mindestens so scharf wie bei Kretschmanns Vor-Vorgänger Günther Oettinger. Der ist übrigens auch da. Und freut sich.

Metamorphosen des Geistes

So ist das auch ein Tag, an dem erstaunliche Metamorphosen deutlich werden. Als noch andere von der Magistrale schwärmten, Oettinger oder Stuttgarts damaliger Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (heute auch da) zum Beispiel, da waren die baden-württembergischen Grünen harte Gegner des Projekts Stuttgart 21, während sie zum in der S-21-Werbung zwar eng verbundenen, aber verkehrstechnisch nicht zwingend mit ihm gekoppelten Projekt der NBS keine so klare Haltung hatten.

Eine eindeutige Position hatte allerdings der heutige Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), der damals Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Deutschen Bundestag war und die NBS fast stärker zu bekämpfen schien als S 21. Dessen Haltung hatte dann in Heiner Geißlers S-21-Faktencheck im Herbst 2010 offenbar auch Kretschmann erreicht: Die Grünen hätten die NBS "all die Jahre befürwortet", sagte Kretschmann in einer der Sitzungen, aber heute würden sie sie aus drei Gründen infrage stellen: wegen der Kostensteigerungen, wegen der Nichttauglichkeit für den Güterverkehr, und wegen der "fehlenden Wirtschaftlichkeit, die sich daraus ergibt".

Die Gründe stimmen alle immer noch; die Kosten verdoppelten sich, für Güterzüge geeignet ist die Strecke nicht, weil viel zu steil, ohne Güterzüge erreicht sie aber nie die Wirtschaftlichkeit, die sie eigentlich bräuchte, um als Projekt des Bundesverkehrswegeplans überhaupt gefördert zu werden.

Doch weil Versprechungen und Richtlinien das eine, politischer Wille und Mehrheiten das andere sind, ist die Strecke nun doch gebaut geworden. Und Kretschmann könnte mit einem Rückgriff auf Helmut Kohls politische Metaphorik sagen, dass der Zug der normativen Kraft des Faktischen im Bahnhof der Geschichte angekommen ist. Er sagt stattdessen: "Zwischen den zwei Städten (Stuttgart und Ulm) gibt es jetzt eine Achse", das könne man gar nicht hoch genug einschätzen. Wie man das, was es davor zwischen Stuttgart und Ulm gab, nennen soll? Solche Fragen würden die Freude stören.

Ob sich Winfried Hermann freut? Der Minister ist immerhin die ganze Zeit dabei, auch wenn er in Ulm nicht zum erlauchten Kreis der Redner zählt. Er trägt eine Schiebermütze, seine Mimik darunter changiert zwischen leichtem Grinsen und Pokerface, den ganzen Tag. Schon am Vormittag, als es in Stuttgart losgeht.

Wie ein Klassentreffen

Um halb elf drängt sich schon ein Großteil des Feier-Trosses an Gleis 15 des Stuttgarter Hauptbahnhofs, ganz am Ende des Bahnsteigs, vielleicht, damit es die nervigen Gegner:innen nicht gleich finden. Ein einzelner verirrt sich doch dorthin, bietet "Informationen zur Neubaustrecke" an und wird bald von einem Sicherheitsmann übertrieben brutal von der Menschentraube weggedrängt – das sei "eine private Veranstaltung", wird er angeschrien. Das kriegen nur wenige mit, schon jetzt drängen sich die Geladenen vor dem Sonder-ICE. Und wer da alles kommt! Klar, Kretschmann, Hermann, Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU), Bahnchef Richard Lutz und Olaf Drescher, Chef der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (PSU) müssen natürlich dabei sein, Standard. Aber auch Innenminister Thomas Strobl und CDU-Landtagfraktionschef Manuel Hagel, SPD-Landeschef Andreas Stoch, Michael Theurer (FDP), Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, Wohnministerin Nicole Razavi (CDU) und eine Reihe von Veteranen des Kampfes für die beiden Projekte: Günther Oettinger, Wolfgang Schuster, die ehemalige Landesverkehrsministerin Tanja Gönner. Um nur die Prominenteren zu nennen.

Und Gott ist auch dabei. Hoffen jedenfalls die um dessen Segen bittenden Geistlichen, der katholische Betriebsseelsorger für das Projekt Peter Maile und die evangelische Dekanin Christiane Köhler-Weiß. Und die Abfahrtszeit, pünktlich um 10 Uhr 54, ist für aktuelle DB-Verhältnisse tatsächlich fast schon überirdisch.

Und die Fahrt? Eher unspektakulär. Doch die Luft vibriert vor Spannung, als Drescher bei Wendlingen den Übergang auf die NBS ansagt. Dann – Tunnel. Nach ein paar Minuten tatsächlich kurz in Fahrtrichtung rechts ein schöner Blick zu Burg Teck und Albtrauf. Dann: Boßlertunnel. "Der längste und einer der steilsten", sagt Drescher. Ohrendruck im Dunkeln. Dann, hurra, die Filstalbrücke, nur echt mit dem inflationär verwendeten Prädikat "Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst". Sieben Sekunden hat man Zeit, einen Blick ins Filstal zu werfen. Dann Steinbühltunnel. Dunkel. "Bald höchster Punkt der Strecke", weiß Drescher, und nicht mit Tunnelbohrmaschine, sondern bergmännisch gebaut. Hört, hört.

Einige Sekunden Albhochfläche, Tunnel, Albhochfläche, Tunnel. Kurzer Halt am Bahnhof Merklingen, auf dem anderen Gleis steht ein Regionalexpress mit weiteren Feierbiestern, der parallel mit dem ICE nach Ulm und dort einfahren soll. Spitzen-Gag, im Normalverkehr natürlich nie möglich, da fährt hier der Gegenverkehr. Aber heute lustig: Journalist:innen und Gäste im einen Zug fotografieren die aus dem anderen Zug. Und umgekehrt. Sagenhaft. Und was soll man auch sonst sehen im Tunnel.

Schwelgen in Superlativen und Worthülsen

In Ulm zieht die Karawane dann über die Überführung zum Feierort. Auf dem Bahnsteig stehen einige Stuttgart-21-Gegner, unter anderem Aktionsbündnis-Sprecher Dieter Reicherter. Die meisten blicken nur kurz hin, dann geht's die Treppen hoch, Tanja Gönner ist schon ganz beseelt und sagt, sie glaube auch in Stuttgart an ein großes Versöhnungsfest, wenn S 21 in Betrieb gehe. Dann geht's die Treppen wieder runter, es folgt der Kinderchor.

Als erstes darf auf dem unterirdischen Party-Floor Bahnchef Lutz in Superlativen und Worthülsen schwelgen, "Brückenschlag für starke Schiene", "lässt Europa stärker zusammenwachsen", "Revolution für das Bahnfahren". Dann folgt Kretschmann, ehe Staatssekretär Theurer endlich mal den Oettinger lobt: Denn "er kam auf die Idee, dass das Land sich mit einbringt in die Finanzierung". Kurz vor der Landtagswahl 2011 wollten die Grünen das noch als verfassungswidrige Mischfinanzierung bewertet sehen. Wurde nichts draus. Wie aus so vielem. Theurer sieht "einen guten Tag für Europa, für Deutschland, für Baden-Württemberg, für die Menschen." Pathos ist nicht Mangelware heute. Häppchen, Spätzle (zwei Soßen) und Tortellini gibt es aber auch.

In seiner Rede hat Richard Lutz von einem "Blick in die Zukunft der Eisenbahn in Deutschland" gesprochen. In der allgemeinen Freude können die Worte kaum groß genug sein.

Matthias Gastel, bahnpolitischer Sprecher der Grünen im Deutschen Bundestag und nicht bekannt als S-21-Freund, ist auch da. Ist er heute auch froh? "Ja, natürlich bin ich froh", sagt Gastel. Dann das Aber: "Wir würden die Strecke heute anders planen, wir würden sie güterzugtauglich planen." Und das Traurige sei: "Dass es das letzte große Schienen-Projekt für die nächsten Jahre sein wird". Denn die Infrastruktur sei jahrelang zurückgebaut worden, Planungen für neue Strecken stark verzögert, zu wenig Geld da, die ganze deutsche Bahnpolitik der letzten Jahre arg verfehlt gewesen (ausführlicher dazu dieser Text Gastels).

Am Montag, einen Tag nach der offiziellen Inbetriebnahme, ist die Zukunft der Eisenbahn schon wieder vorbei, und die neue Strecke reiht sich ein in die alltägliche Normalität der Deutschen Bahn: Sie ist pannenbedingt gesperrt, ein ICE steckt stundenlang in einem der zahlreichen Tunnel fest, andere Züge werden über die alte Strecke umgeleitet.


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10 Kommentare verfügbar

  • Leo Kottke
    am 16.12.2022
    Antworten
    Ein herrlich süffisanter Artikel von Oliver Stenzel. Danke.

    Weiterhin beschleicht einen das Gefühl, dass Menschen wie Tanja Gönner bis heute nichts verstehen von sinnvoller Verkehrspolitik. Daimler und Porsche werden sich drüber freuen.
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