Helle Stimmen hallen über den Ulmer Bahnhofsvorplatz. "Auf der schwäb’sche Eisebahne, gibt’s gar viele Haltstatione, Stuttgart, Ulm und Biberach …" Ein Kinderchor steht auf einer kleinen Bühne, vor dem Schneegestöber und dem eisigen Wind notdürftig geschützt, und singt das alte Lied, mehrstimmig. Der Chorleiter strahlt wie ein Honigkuchenpferd, viele lachende Gesichter auch in der sich vorbeischiebenden Schlange aus Politiker:innen, höherem DB-Personal und Pressefuzzis, die gerade per Sonderzug angekommen sind. Guck, da, ach! Handys werden gezückt, knips, knips, die Freude ist riesig.
Etwa eine halbe Stunde später ist das herzige Ständchen dann ein Aufhänger für Winfried Kretschmann, in neue Sphären der Volkstümlichkeit vorzudringen. So habe er das Lied noch nie gehört, sagt der baden-württembergische Ministerpräsident. Er freue sich sehr über die Begrüßung mit der "informellen Nationalhymne" des Landes, und es würde ja ganz hervorragend passen, dass es in dieser um die Eisenbahn gehe. Die vier Milliarden Euro teure Neubaustrecke Wendlingen–Ulm (NBS) ist fertig, und zwei Tage vor der Eröffnung für die gemeinen Bahnkund:innen dürfen die Presse und Honoratioren schon mal schnuppern, von Stuttgart nach Ulm fahren und dort im zugigen Bahnhofsfoyer unter Tage feiern.
"Stuttgart und Ulm rücken näher zusammen", fährt Kretschmann fort, und nun – er wechselt ins breiteste und knödeligste Schwäbisch – sei die Frage: "Kommet jetz die Stuagarter nach Ulm zom Eikaufe oder die Ulmer nach Stuagart?" Heiterkeit unter den Gästen. Kretschmann spricht weiter von der Magistrale ("Magischtraale") Paris–Budapest, dass man die Stuttgart-21-Fans der Jahre um 2010 zu hören glaubt, auch von der Klangfarbe: Paris ist "Pariss", das "s" mindestens so scharf wie bei Kretschmanns Vor-Vorgänger Günther Oettinger. Der ist übrigens auch da. Und freut sich.
Metamorphosen des Geistes
So ist das auch ein Tag, an dem erstaunliche Metamorphosen deutlich werden. Als noch andere von der Magistrale schwärmten, Oettinger oder Stuttgarts damaliger Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (heute auch da) zum Beispiel, da waren die baden-württembergischen Grünen harte Gegner des Projekts Stuttgart 21, während sie zum in der S-21-Werbung zwar eng verbundenen, aber verkehrstechnisch nicht zwingend mit ihm gekoppelten Projekt der NBS keine so klare Haltung hatten.
10 Kommentare verfügbar
Leo Kottke
am 16.12.2022Weiterhin beschleicht einen das Gefühl, dass Menschen wie Tanja Gönner bis heute nichts verstehen von sinnvoller Verkehrspolitik. Daimler und Porsche werden sich drüber freuen.