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Kurdistan im Nordirak

Bomben gehören zum Alltag

Kurdistan im Nordirak: Bomben gehören zum Alltag
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Den Umsturz in Syrien nutzt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zur Ausweitung seines Einflussgebiets auf Kosten der kurdischen Minderheit. Auch im Nachbarland Irak greift das türkische Militär regelmäßig im kurdischen Autonomiegebiet an. Die Bomben treffen auch Zivilist:innen.

Abstand halten ist in den Kandil-Bergen das oberste Gebot. Als im Aufstieg in den Bergen im Dreiländereck des Irak, des Irans und der Türkei ein Auto überholt, kommt sogleich der Hinweis, mindestens 300 Meter Distanz zu schaffen. Zu groß ist die Angst, dass das andere Auto zum Ziel eines türkischen Drohnenangriffs werden könnte. Seit Jahren greift die Türkei regelmäßig aus der Luft vermeintliche Kämpfer:innen und Stellungen der kurdischen Autonomiebewegung PKK an. Die PKK nutzt das schwer durchdringliche Gebiet als Rückzugsraum von ihren Kämpfen gegen die türkische Zentralregierung.

Das umkämpfte Berggebiet, das in besseren Zeiten auch viele Tourist:innen anziehen könnte, ist Heimat für einige Menschen, die in den kleinen Dörfern verwurzelt sind. Für die Landwirtschaft bietet die unberührte Natur beste Bedingungen. Nicht jedoch, wenn ständig ein Angriff droht. "Wir leiden darunter, in diesem Gebiet zu leben", sagt ein Schafhirte. "Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, habe ich Angst." Sein Nachbardorf sei von der Türkei so oft bombardiert worden, dass dort heute niemand mehr lebe.

Ständige Bedrohung aus der Luft

Hier zu leben, sei ein "ständiger Überlebenskampf", sagt der Hirte, der namentlich nicht genannt werden will. Warum er trotzdem bleibt? "Ich habe eine große Schafherde. Sonst habe ich nichts, um woanders neu anzufangen." Trotzdem überlege er öfters wegzugehen, aber die Kandil-Berge sind seit Jahrzehnten seine Heimat und die seiner Familie. Doch wenn er im Sommer seine Bienen zu den Gipfeln der Berge bringen muss, wo sich viele Kämpfer:innen der PKK verstecken, hat er bei jedem Schritt und ohne Schutz die größte Angst.

Alleine in den vergangenen zwei Monaten sei sein Dorf zehn Mal aus der Luft vom türkischen Militär angegriffen worden. Während der Hirte berichtet, kommen andere Dorfbewohner hinzu. "Als es vor einigen Tagen bei einem Gewitter donnerte, sind wir alle in den Keller gerannt."

Othman Mahmood ist Sprecher mehrerer Dörfer im Kandil-Gebirge. Das Wasser im Gebirge nutzt er für eine eigene Fischzucht und eine Wasserkraftanlage, mit der er auch andere Familien mit Strom versorgt. Er ist sichtlich beeindruckt, wie zielgenau und schnell das türkische Militär Kämpfer:innen der PKK aufspüre, doch es würden regelmäßig auch Dorfbewohner:innen von türkischen Angriffen getroffen. Er erinnert sich vor allem an einen Luftangriff auf das Auto einer Familie aus einem Nachbardorf vor zwei Jahren. Zu fünft waren sie auf dem Weg in die Stadt und zur Universität. Eine türkische Drohne tötete alle Insassen. "Ich habe die schwarz verbrannten Körper in Leichensäcke gepackt", sagt Mahmood. Für ihren "sinnlosen Tod" fühle sich niemand verantwortlich, klagt er.

Die Türkei dringt immer mehr in irakisches Gebiet ein

In den vergangenen Jahren hat die Türkei ihre Angriffe auf irakischem Gebiet deutlich ausgeweitet. Sie sieht sich im Kampf gegen kurdische Autonomiebestrebungen und Terror im eigenen Land. Schon lange hat die Türkei dazu eigene Militärbasen auf irakischem Gebiet. In der Region Zaxo im Nordwesten des Irak hat sie einen eigenen Checkpoint mit türkischem Militär eingerichtet. Die türkische Regierung beruft sich dabei auf ein Abkommen aus den 1980er-Jahren mit dem damaligen irakischen Machthaber Saddam Hussein. Demnach dürfen beide Länder für militärische Einsätze gegen oppositionelle Gruppen bis zu 30 Kilometer in das Staatsgebiet des jeweils anderen Landes vordringen. Die Stationierung eigener Truppen sind von dem Abkommen aber nicht umfasst und längst reichen die türkischen Angriffe weit tiefer in irakisches Territorium.

Die türkische Präsenz ist auf die kurdische Autonomieregion im Irak (KRG) konzentriert, die nach dem Sturz Saddam Husseins entstand. 2005 wurde die Autonomie der Region mit ihren heute knapp sieben Millionen Einwohner:innen in der irakischen Verfassung festgeschrieben. Die unter Saddam Hussein verfolgten Kurd:innen konnten durch eine von den USA überwachten Flugverbotszone schon nach dem ersten Golfkrieg 1991 eine De-Facto-Autonomie mit eigenem Regionalparlament errichten. Nach einem Bürgerkrieg wird die Region von zwei untereinander verfeindeten Parteien regiert. Im Norden herrscht die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), im Süden die Patriotische Union Kurdistans (PUK). Bis heute prägen zwei Familien die Parteien, die jeweils eigene militärische Einheiten (Peschmerga) und Außenbeziehungen unterhalten. Die Familie Barzani im Norden ist besonders im Ölgeschäft eng mit der Türkei verbunden, während die Familie Talabani und die PUK zum Einflussgebiet des Iran gehören. Während die KDP die Türkei im Kampf gegen die PKK unterstützt, werden ihre Kämpfer:innen im Süden zumindest geduldet.

Kaum Rücksicht auf die Zivilbevölkerung

So schlägt die Türkei auch im südlichen Teil der Autonomieregion immer wieder zu. Ob aus großem Vertrauen in die eigene Präzision oder aus anderen Motiven greift sie mutmaßliche PKK-Kader auch in großen Menschenansammlungen an. Als sich im Sommer am Flussufer nahe Kunamasi viele Familien und Tourist:innen zum Picknicken trafen, zielte das türkische Militär mit einer Drohne auf ein Auto mit drei Mitgliedern der PKK, die sofort starben. Doch auch eine Familie wurde getroffen. Die Mutter verlor bei dem Angriff beide Beine.

Die Bombe traf auch ein Ladengeschäft. Die Wut des Ladenbesitzers richtet sich heute auch gegen die eigene Regierung. "Niemand kümmert sich. Die Mutter liegt alleine und ohne staatliche Unterstützung zuhause. Wenn unsere Regierung aktiv wäre, könnte die Türkei so etwas nicht machen." Noch immer seien türkische Drohnen und Flugzeuge in der Region ständig präsent.

Von der kurdischen Autonomieregierung lässt sich die Türkei aber kaum beeindrucken. Als der Premierminister und sein Vize bei Ranya gerade eine neue Brücke eröffneten, schlug das türkische Militär kaum 300 Meter entfernt zu. Sie vermuteten in dem Berg neben der Brücke eine PKK-Kämpferin, die mit einer Bombe bewaffneten Drohne getötet wurde. Während im regionalen Staatsfernsehen derzeit ausführlich über die türkischen Angriffe auf Kurd:innen in Syrien berichtet wird, schweigt die kurdische Regionalregierung im Irak dazu weitgehend. Bislang blieb von ihrer Seite eine Verurteilung der türkischen Angriffe in Rojava aus.

Leben in Angst

Druck auf die kurdische Autonomieregion kann die Türkei aber längst nicht nur mit dem Militär ausüben. Der Irak leidet unter chronischem Wassermangel. In den kurdischen Gebieten wird in immer gefährlicheren Tiefen nach Grundwasser gebohrt, nachdem die Flüsse immer weniger Wasser führen. Mit Staudämmen in der Grenzregion kann die Türkei den Wasserfluss steuern. Für Zugeständnisse ließ Staatspräsident Erdoğan zuletzt immer wieder kurzfristig mehr Wasser durch. Zudem ist die durch Misswirtschaft chronisch klamme Autonomieregion auf Öleinnahmen aus der Türkei angewiesen.

Wie in Syrien gehe es der türkischen Regierung auch im Irak darum, das eigene Einflussgebiet auszuweiten und die Autonomiebestrebungen der Kurd:innen im eigenen Land zu unterbinden. Sarwar Sadulla Salah, kurdischer Literaturprofessor an der Charmo Universität in Dschamdschamal, sieht ein Dilemma. "Die Türkei will mit allen Mittel verhindern, dass wir einen eigenen Staat gründen. Solange wir keinen eigenen Staat haben und unsere Grenzen nicht selbst schützen können, gehen die Angriffe weiter."

Auch hier im Südwesten der Autonomieregion haben die Menschen nach türkischen Angriffen "Angst vor Flugzeugen und Panik bei Drohnen", sagt Salah. Durch den türkischen Druck breite sich die PKK immer mehr in der weitläufigen Region aus, um ein Aufspüren schwieriger zu machen. Das türkische Militär reagiere aber schnell. "Die PKK wird hier sofort aufgespürt. Es muss Menschen geben, die sie verraten", sagt Salah. Auch hier träfen die türkischen Drohnen Zivilist:innen. Von der irakischen Zentralregierung in Bagdad fühlt er sich im Stich gelassen. Zwar kritisiere die irakische Zentralregierung die türkischen Angriffe. Das sei aber viel zu selten und hätte keinerlei Konsequenzen. "Die Kritik ist nur vorgeschoben", sagt Salah.

Er sieht kaum Möglichkeiten für eine Entspannung. "Das eigene Sterben ist für die PKK-Kämpfer:innen unbedeutend. Hauptsache, die Idee bleibt erhalten", sagt Salah. Vor einigen Wochen habe sich eine seiner Studentinnen direkt nach ihrem Master-Abschluss der PKK angeschlossen. Für die Befreiung bliebe ihr nur der Weg des Kampfes, sagt sie in einem von der Organisation veröffentlichten Video.

Auf unterschiedliche Weise gehören die türkischen Angriffe mittlerweile zum Leben der Menschen in Teilen des Nordiraks. "Wir haben uns daran gewöhnt", sagt der Ladenbesitzer aus Kunamasi. "Wir können uns unser Leben nicht durch Angst kaputt machen lassen." Auch der Schafhirte aus den Kandil-Bergen will sich nicht vertreiben lassen, selbst wenn er sich selbst im Visier einer Militärmacht sieht. "Die türkischen Angriffe gelten auch mir, aber ich will hier in meiner Heimat sterben."

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