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Schweiz, EU und BaWü

Kooperation à la Carte

Schweiz, EU und BaWü: Kooperation à la Carte
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Es knirscht im Gebälk der direktdemokratischen Schweiz. Aus Sorge vor populistischen Kampagnen könnten immer weniger Vorhaben, etwa zur Zusammenarbeit mit der EU, dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden. Isolation droht, auch die Zusammenarbeit mit Baden-Württemberg wäre betroffen.

Stuttgart-21-GegnerInnen wissen, wovon die Rede ist. Kein einziges der zehn Argumente, mit denen die BefürworterInnen des Projekts 2011 in die Volksabstimmung zogen, war wirklich belastbar, sondern allesamt fragwürdig und unplausibel. Behauptungen statt Fakten, hemmungslose Unwahrheiten wie "Die neueste Kostenkalkulation bestätigt: S 21 ist im Kostenrahmen und hält weiterhin einen Puffer für mögliche Baupreissteigerungen vor" und vorsätzliche Ignoranz gegenüber den produktiven Elementen des Schlichtungsprozesses. Das Resultat: Fast 60 Prozent der 3,7 Millionen BürgerInnen, die sich am Entscheid beteiligten, stimmten für das Projekt.

All das wäre besser gelaufen in der Schweiz, glaubten damals viele, der Nachbar galt und gilt verbreitet als Musterland der direkten Demokratie. Allerdings: Auch unter EidgenossInnen ist der Glaube an die reine plebiszitäre Lehre längst Geschichte. Und damit verbunden der Glaube ans Abstimmungsbüchlein als wichtigstem Quell der Information, damit, wie es heißt, jedeR das Thema einer Initiative oder eines Referendums verstehen kann, selbst wenn er sich bisher nicht damit befasst hat. Einseitige Kampagnen haben auch hier immer mehr Einfluss.

"Kosovaren schlitzen Schweizer auf" inserierten etwa 2014 zwei Abgeordnete der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP), um "die Masseneinwanderung zu stoppen". Die maßgeblich von der SVP gegen die Freizügigkeit mit der EU betriebene Initiative hatte Erfolg. Dass den beiden PolitikerInnen inzwischen höchstrichterlich Rassendiskriminierung bescheinigt wurde, ist nur noch eine Fußnote.

Nein zum Abkommen mit der EU – ohne Volksvotum

2021 gab es erneut einen Grund, groß zu feiern – mit Höhenfeuern und in allen 26 Kantonen. Denn in einer zentralen Zukunftsfrage wurde sogar ganz und gar auf das Votum des Souveräns verzichtet, so dass der in rechten Kreisen als Drachentöter gefeierte Milliardär und langjährige frühere SVP-Chef Christoph Blocher seine Macht und seine Finanzmittel gar nicht mehr einzusetzen brauchte: Die Bundesregierung sagte selber Nein zum Rahmenabkommen mit der EU. Jahrelang war die Idee einer zusammenfassenden Fortschreibung aller Vereinbarungen verhandelt worden, die Stimmungsmache dagegen lief auf Hochtouren, die plebiszitäre Ablehnung schien programmiert.

Als die Vereinbarung ganz ohne Volksabstimmung platzte, jubelte Roger Köppel, der in seiner bewegten Karriere als Journalist und SVP-Politiker auch Kurzzeit-Chefredakteur der "Welt" war, über seine Landleute als "Sieger einer Schlacht, nicht aber des Krieges". Misstrauen bleibe "erste Bürgerpflicht". Ganz anders der berühmte pro-europäische Roger de Weck: Der Publizist befürchtete in einem Interview, jetzt gehe die immer tiefer greifende Neuordnung Europas durch die EU "gänzlich an uns als Zaungäste vorbei". Aber bekanntlich sei "die kleine eidgenössische Welt stets nachsichtig mit sich selbst".

Inzwischen sind aus den Zaungästen BittstellerInnen geworden. Denn die SVP und die anderen NationalistInnen haben den Einfluss der EU dämonisiert als Schreckgespenst und größer geredet, als er ist. Und zugleich versucht, die zwangsläufige Isolation in vielen multilateralen Fragen zur stolzen Unabhängigkeit umzudeuten. Die Folgen spürt auch eine Delegation aus Baden-Württemberg, angeführt von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), die in der vergangenen Woche zu Besuch in der Schweiz war. Sie trifft auf viele kleinlaute GastgeberInnen – in den politischen Gesprächen, aber vor allem an den Universitäten mit Weltruf wie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich oder beim Pharmariesen Roche in Basel. Denn ohne das gescheiterte Rahmenabkommen sind EU-Töpfe nur über Umwege und mit Kooperationen zugänglich.

EidgenossInnen beklagen Brain Drain

ForscherInnen wandern ab, beklagt ein Wissenschaftler schon beim allerersten Termin an der Uni Zürich die Abwanderung von Intelligenz: "Wir erleben einen Brain Drain, den wir nie für möglich gehalten hätten." Bei Roche geht es unter anderem um die Standards in der Medizinproduktion, bekanntlich einer der Paradedisziplinen des Landes. In der selbst gewählten Rolle als EU-Drittstaat unterliegt die Schweiz jetzt schärferen Anforderungen, und das ist schlecht fürs Geschäft. Philipp Hildebrand, über eine Dollartransaktionsaffäre gestolperter Ex-Nationalbanker und heute Vice Chairman beim Finanzdienstleister BlackRock, bejammert in einer Podiumsdiskussion "die Abwesenheit einer Strategie" für eine Neuannäherung zur EU. Ross und Reiter, die politisch Verantwortlichen will er nicht nennen und auch die Rolle der politischen BlockiererInnen nicht näher beleuchten – allen voran die der SVP, die seit inzwischen mehr als 30 Jahren und mit vielen fragwürdigen Mittel um jenen Weg kämpft, der Schritt für Schritt in die Sackgasse geführt hat.

Baden-Württemberg verspricht, in die Bresche zu springen. Kretschmann sagt bei dem Schweiz-Besuch, er werde bei der Kommission, am liebsten direkt bei deren Präsidentin Ursula von der Leyen, "mit höchst überzeugenden Argumenten" erfolgreich dafür werben können, dass die Nachbarn doch direkt teilhaben am Forschungsprogramm “Horizon Europe“ bis 2027. So will er "wegkommen von den kleinteiligen Animositäten". Eine Idee, die aber erst recht zeigt, wie verfahren die Lage ist. Denn warum sollen Mitgliedsstaaten und assoziierte PartnerInnen, die alle Pflichten erfüllen, von Armenien bis Moldau, von Bosnien bis Norwegen, Geld teilen mit einem Land, das genau das ausdrücklich nicht will?

Brüssel: Absage an Rosinenpickerei

Unerklärlich sei für ihn, sagt Kretschmann mehrfach während der Reise, dass die Türkei assoziiert ist, die Schweiz aber nicht. Die Gastgeber applaudieren erfreut. Eine ehrliche Antwort bekommt der Ministerpräsident aber nicht. Nicht einmal von Ernst Stocker, dem Regierungspräsidenten im Kanton Zürich, der ebenfalls SVP-Mitglied ist und sich bloß ans eigene Parteiprogramm halten müsste: "Der Ausverkauf der Souveränität und Selbstbestimmung durch die politischen Eliten muss gestoppt werden. Deshalb darf unser Land nicht weiter schleichend in internationale Gebilde wie etwa die EU eingebunden werden."

Bisher hat Brüssel jeglicher "Rosinenpickerei", wie es heißt, und der Zusammenarbeit eine Absage erteilt. Die gerade von den Rechten in der Schweiz lancierte Vorstellung, die verhinderten RahmenvertragspartnerInnen könnten sich à la carte allein der für sie vorteilhaften Aspekte bedienen, wird von EU-Seite als Basis weiterer Gespräche bisher nicht akzeptiert.

Am 15. Mai stimmt das Volk wieder ab

Eine nächste Bewährungsprobe für die internationale Vertragsfähigkeit auf der einen und das Nationalheiligtum direkte Demokratie auf der anderen Seite steht kurz bevor. Am 15. Mai wird das Volk darüber abstimmen, ob die Eidgenossenschaft ihren jährlichen Beitrag zum Schutz der Schengen-Außengrenzen durch die EU-Agentur Frontex von 24 auf 61 Millionen Schweizer Franken (entspricht 59 Millionen Euro) erhöhen soll. Unter Linken und Grünen ist, wie vielerorts auch in der EU, die Konstruktion der Agentur insgesamt umstritten. Die SVP ist in dieser Frage gespalten, was nach den bisherigen Umfragen mit zu einem Ja führen könnte. Interessant ist die Argumentation der Nein-SagerInnen im populistischen Lager aber allemal, denn die führen ins Feld, dass damit die Zusammenarbeit im Schengen-Raum automatisch enden würde. Dann wären wieder Grenzkontrollen, eigene Visa und eine eigene Zuwanderungspolitik notwendig. Die Reisebranche hat Einnahmenverluste von bis zu einer halbe Milliarde Franken pro Jahr errechnet.

In der Forschung geht es um noch ganz andere Summen. Mehr als eine Milliarde Euro floss allein in den Jahren 2014 bis 2018 aus Brüssel in die Schweiz. Ein Mehrfaches muss der Bundesrat in Bern im nationalen Etat locker machen, weil das EU-Abkommen nicht zustande kam. Insgesamt will die Europäische Union für Forschung und Entwicklung bis 2027 nicht weniger als 100 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Stärker zusammenzustehen in Europa verlangt Kretschmann, wegen des Konkurrenzkampfs mit den USA und China und vor allem angesichts des Kriegs in der Ukraine: "Jetzt müssen alle aufwachen." Grenzen müssten überwunden werden, sagt er bei Roche, "auch in den Köpfen".

In der Welt der repräsentativen Demokratie haben sich Einzelne immerhin neu auf den Weg gemacht: Anfang März, wenige Tage nach Russlands Einmarsch in der Ukraine, setzte ein grünliberaler Nationalrat seinen Antrag im Parlament durch, dass zumindest eine – 1992 im Plebiszit gescheiterte – Zusammenarbeit zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geprüft wird. Ein Betritt würde den Zugang zu den EU-Forschungsgeldern wieder öffnen. Roger Köppel ist natürlich dagegen, denn seine Heimat würde "an fremde Institutionen angedockt", wie er sagt, viele Dinge "könnten aus Brüssel ferngesteuert werden".

Mit den Nationalratswahlen im Oktober 2023 wartet die nächste Möglichkeit, eine Kurskorrektur vorzunehmen. Vor drei Jahren kam die SVP auf 25,6 Prozent der Stimmen, bei einem Minus von fast vier Prozentpunkten. Die Grünen legten mit sechs Prozent deutlich zu und ebenfalls die Grünliberalen mit gut drei Prozent. Letztere sind die einzige politische Kraft des Landes, die lautstark und geschlossen für das Rahmenabkommen mit der EU warb. Der Souverän hat es also in der Hand - und braucht gar nicht auf eine Volksabstimmung zu warten.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 17.05.2022
    Antworten
    Es knirscht ganz gewaltig in der vermeintlich direktdemokratischen Schweiz:
    Februar 2016 Durchsetzungsinitiative | Wir Schweizer sind keine Opfer
    So mächtig war das Volk noch nie https://up.picr.de/34719197fg.pdf Auszug Seite 1
    DEMOKRATIE mit unseren Nachbarn, den Schweizern zu verbinden, das…
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